A. Nemirowski - Die Elefanten Hannibals A Nemirowski Der Weg ist das Ziel. Falls es der karthagische Feldherr Hannibal darauf angelegt haben sollte, sich im Gedächtnis der Menschheit festzusetzen, hätte er jedenfalls keine bessere Methode wählen können: Einfach mit einer riesigen Armee die Alpen überqueren, allen Schwierigkeiten und Gefahren zum Trotz. Tausende Pferde, Esel und Wagen über holprige Pfade zerren. Und, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, auch noch 37 graue Kolosse mitschleppen, die im Hochgebirge nun wirklich nichts verloren haben: Kampfelefanten, die Panzer der Antike. Illustrationen Gerhard Goßmann Übersetzung aus dem Russischen von Lieselotte Remane Der Löwe zeigt die Krallen  Die Söhne Die drei Knaben balgten sich auf dem Teppich wie junge Löwen. Sie griffen sich in die Strubbelköpfe, kreischten und schnauften. Hannibal warf sich auf Hasdrubal. Magon umklammerte Hannibals Hals und versuchte ihn wegzuzerren. Sie spielten Krieg. Hannibal war der Römer, und seine Brüder waren die Karthager. Die Streitkräfte hielten sich die Waage - Hannibal war neun, und seine Brüder waren, wenn man ihre Lebensjahre zusammenzählte, ebenso alt. „Ergebt euch!" schrie Hannibal mit funkelnden Augen. „Ergebt euch, ihr Hunde!" Aber die Kleinen dachten nicht daran. Magon kniff Hannibal in den Arm. Der holte aus, um dem bösen Feind eine Lehre zu erteilen. Diese Gelegenheit benutzte Hasdrubal, um ihm ein Bein zu stellen. Hamilkar, ihr Vater, stand hinter dem Vorhang und beobachtete sie. Seine wulstigen Lippen zuckten, wie immer, wenn er erregt war. Vor vielen Jahren hatte er sich in demselben Zimmer, auf demselben Teppich mit seinen Brüdern gebalgt. Damals spielte er mit ihnen Karthager und Griechen. Doch später, als erwachsener Mann, führte er nicht gegen die Griechen, sondern gegen die Römer Krieg. Dreiundzwanzig Jahre dauerte dieser Krieg. Er nahm ihm seine Brüder und seinen Ruhm und endete mit einem demütigenden Frieden. Und während Karthago an den unerträglich hohen Tributen zahlte, mißbrauchten die Sklaven und Söldner seine Schwäche zu einer Meuterei. Auf diese Weise war Hamilkar gezwungen gewesen, gegen Männer zu Felde zu ziehen, die vorher unter seiner Führung in Sizilien gekämpft hatten. Er besiegte sie mit Hilfe der Elefanten und ließ sie kreuzigen, obgleich sie in der Vergangenheit seine tüchtigen Krieger gewesen waren. - Wo sollte er nun Ersatz für sie finden? Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, hatte sich der kleine Hannibal auf Hasdrubal geworfen und fuchtelte mit den Fäusten, um sich Magon vom Leibe zu halten. „Rom hat gesiegt", johlte Hannibal. Hamilkar fuhr zusammen, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. Bis in sein eigenes Haus verfolgten ihn diese Worte, die wie eine schlecht verheilte Wunde schmerzten, wie eine Ohrfeige brannten. Er stürzte zu den Kindern. „Haltet den Mund!" schrie er. Die Kinder sprangen erschrocken auf und blieben mit gesenktem Kopf vor dem Vater stehen. Seine Gegenwart schüchterte sie stets ein, weil sie ihn so selten zu Gesicht bekamen und gleichzeitig von ihrer Umgebung soviel über ihn hörten. Sein Name verband sich für sie mit den fremdartig klingenden Bezeichnungen von Städten und Ländern, in denen er Schlachten geschlagen hatte. Sie eiferten ihm in ihren Spielen doch nur nach. Trotzdem schalt er sie. Warum? Magon preßte die kleinen Fäuste an die Augen und brach in Tränen aus. Hasdrubal verzog schmollend den Mund. Hannibal blickte forschend und verständnislos zu seinem Vater auf. Dieser vorwurfsvolle Blick brachte Hamilkar zur Besinnung. Er war täglich darauf gefaßt, in jenes Land einzugehen, aus dem es keine Rückkehr gibt. Das war das Los eines Kriegers. Und immer, wenn ihn die Pfeile umschwirrten und neben ihm die Männer fielen, dachte er an seine Söhne. Er hoffte, daß sie nicht nur die wulstigen Lippen, das schwarze Haar und die gewölbte Stirn von ihm geerbt hatten, sondern auch seine Art zu denken. Oder war das nur Selbsttäuschung? Würden seine Söhne ein anderes Leben führen als er, mit einem anderen Ziel, mit anderen Wünschen? Wenn junge Löwen herangewachsen sind, zerstreuen sie sich in alle Welt. Gedenken sie dann noch ihres Löwenvaters, der ihnen einst die Beute in die Höhle brachte? Überraschend zärtlich drückte Hamilkar die erhitzten Kinder an sich. Ja, es waren seine Söhne, seine jungen Löwen. Im vergangenen Jahr hatten sie die Mutter verloren und im Jahr davor die große Schwester. Er selbst war selten daheim; sie kannten ihn kaum. Sie hatten keinen, der sie liebkoste, der ihre kindlichen Freuden und Kümmernisse teilte. Verlassene junge Löwen! „Hört auf zu flennen, ihr seid doch Krieger!" murmelte Hamilkar. „Hannibal, zieh dich an, ich will dir die Elefanten zeigen!"  Elefanten in Karthago Karthago begrüßte die Elefanten. Alle Straßen vom Handelshafen, wo die Tiere von den Schiffen geholt wurden, bis hinauf zur Stadtburg Byrsa waren von einer lärmenden, festlich gestimmten Menge gefüllt. Das Schauspiel war offenbar keinem Karthager gleichgültig. Wer auf den Gehsteigen und Fahrdämmen keinen Platz gefunden hatte, setzte sich auf die flachen Ziegeldächer. Die Knaben kletterten auf die Bäume, die Sockel der Statuen und die Tempelmauern. „Sie kommen!" dröhnte es durch die Stadt. „Es lebe Hamilkar!" rief jemand. Die Menschen klatschten Beifall. Zwischen den hohen Häusern einer engen Gasse tauchte der erste Elefant auf. Über Rücken und Flanken war eine bunte Satteldecke gebreitet, auf der er einen lederbezogenen Gefechtsturm trug. Der Turm war unbesetzt; davor saß ein Mann, der einen Eisenstachel in der Hand hielt. Sein weiter Mantel wurde von einem schwarzen Stoffgürtel zusammengehalten. Unter dem weißen Turban funkelten lebhafte schwarze Augen. Würdevoll grüßte er mit dem Stachel, als gälte der Beifall ihm und nicht Hamilkar, der diese Elefanten der Republik Karthago geschenkt hatte. Sur, der Leitelefant, tappte vorsichtig durch die Straßen und beschnupperte dabei mit dem Rüssel den Fahrdamm. Zum erstenmal seit vielen Tagen hatte er keine schwankenden Schiffsplanken mehr unter den Füßen, sondern sonnenwarme Steine. Aber auch sie hatten einen unbekannten Geruch, den Geruch der Fremde. „Drei... fünf... neun ... zwölf Elefanten!" zählten die Zuschauer. Zwölf indische Giganten! Noch niemals war eine Elefantenherde mit solcher Begeisterung in Karthago begrüßt worden. Die Ställe, die sich in der Stadtmauer befanden, faßten dreihundert Elefanten, doch der Krieg gegen die meuternden Sklaven und Söldner hatte sie geleert. Seitdem hausten hier die Landstreicher und Bettler, die man aus diesem Grunde spöttisch als Elefanten bezeichnete. Und den Rüssel ausstrecken hieß soviel wie betteln. Nun aber würden die gewaltigen Nischen in der Stadtmauer wieder echte Kampfelefanten aufnehmen. Die begeisterten Menschen geleiteten die Elefanten bis zu den mit Palmwedeln und Blumen geschmückten Ställen. Dann blieben sie trotz der Hitze davor stehen und sahen zu, wie die Elefanten von den indischen Treibern in die neue Behausung geführt und dort mit Rindertalg eingerieben wurden. In der Menge stand einer, der sich als Elefantenfachmann bezeichnete und schnell von Neugierigen umringt wurde. Er berichtete mit Feuereifer, wie stark, klug und vernunftbegabt die Elefanten seien. „Im Krieg gegen Sizilien", sagte er, „war unser Lager etwa vier Meilen vom römischen Lager entfernt. In einer dunklen Nacht, als die erschöpften Krieger schliefen, erhoben die Elefanten plötzlich ein lautes Gebrüll. Daran erkannte unser Feldherr, daß sich der Feind näherte. Die Elefanten haben nämlich einen außerordentlich feinen Geruchssinn, und sie können den Gestank von gebratenen Zwiebeln, den die Römer an sich haben, auf den Tod nicht leiden." Seine Zuhörer lachten. „Der Elefant ist das stärkste Tier auf Erden", fuhr der Mann fort. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein Elefant einem Löwen den Hals umdrehte und ihn mit dem Rüssel hochschleuderte wie ein junges Kätzchen. Und im Krieg gegen die Römer wurde einmal die gesamte feindliche Kavallerie von nur drei indischen Elefanten vernichtet." Die Zuhörer belohnten diese patriotische Lüge mit lautem Beifall. „Als wir in Marokko einmal nachts auf die Jagd gingen, erblickten wir plötzlich mehrere dunkle Hügel. Beim Näherkommen stellten wir fest, daß es Elefanten waren. Sie saßen im Kreise, hatten den Rüssel gen Himmel gereckt, schauten zum Mond auf und brüllten so kläglich, daß uns die Tränen kamen. Sie beteten zu Tanit, der Göttin des Mondes und der Liebe." Das ging einem Zuhörer nun doch zu weit. „Du willst uns wohl für dumm verkaufen!" schimpfte er. „Gib acht, daß dir keiner den Hals umdreht!" Erschrocken tauchte der Elefantenfachmann in der Menge unter. Nachmittags leerte sich der Platz vor den Ställen. Die Gaffer verzogen sich. Die Nußschalen und Kürbiskernhülsen, die sie zurückgelassen hatten, wurden von den Sklaven weggefegt. Die Inder fütterten die Elefanten und streckten sich dann im Schatten eines Feigenbaums aus, ermüdet von den neuen Eindrücken der fremden Stadt. Es dämmerte schon, als zwei Karthager und ein neunjähriger Knabe auf die Ställe zugingen. Es waren Hamilkar, der sich in einen langen schwarzen Umhang gehüllt hatte und Hannibal an der Hand führte, und sein Neffe Hasdrubal, ein fünfundzwanzigjähriger Jüngling, der den kurzen roten Überwurf eines Kavalleristen trug und wegen einer grauen Haarsträhne an der linken Schläfe von seinen Verwandten Greis genannt wurde. „Vater, Vater!" Hannibal zupfte Hamilkar am Ärmel. „Guck mal, was für eine komische lange Nase der Elefant hat." Hamilkar lächelte traurig. „Siehst du, Greis", sagte er zu seinem Gefährten, „wie tief die Republik gesunken ist. Meine Söhne haben noch niemals einen Elefanten zu Gesicht bekommen! Dabei waren vor fünf Jahren in unserer Stadt die Elefanten zahlreicher als heutzutage die Maultiere. Aber wir haben mehr verloren als nur unsere Elefanten!" fuhr er bedrückt fort. „Die Römer nahmen uns die Flotte, sie leerten unsere Staatskasse, raubten die uns gehörenden Inseln. Eines Tages werden sie uns noch zwingen, ihnen die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, den Wein, den wir den Göttern und Ahnen opfern, zu bezahlen." „Du hast recht, Hamilkar", pflichtete ihm Hasdrubal bei. „Wir leben in schweren Zeiten. Aber beim Sonnengott Melkart! Deine Kinder werden bessere Tage sehen! Ich glaube an die Wiedergeburt der Republik Karthago! Heute hieß sie schon wieder einige Elefanten willkommen, und jeder Karthager weiß, wer sie kaufte. Viele riefen deinen Namen." „Und du meinst, das sei ein Lohn für meine Wunden, meine Qualen?" Hamilkar lächelte bitter. „Wärst du im Großen Rat gewesen, dann würdest du anders reden, dann hättest du gehört, wie unsere Ratsherren meinem alten Widersacher Hanno Beifall spendeten. Er warf mir vor, daß ich Karthago in eine Monarchie verwandeln und mir die Königskrone aufs Haupt setzen wolle, und verlangte, daß ich das Heer entlasse und mich vor dem Großen Rat verantworte." Hamilkar ballte die Fäuste. „Die Armee soll ich entlassen, die Retterin Karthagos? Und wer ersetzt mir das Silber, mit dem ich die Söldner bezahlte? Wer erstattet mir die Ausgaben für die Elefanten, die ich vom anderen Ende der Welt geholt habe? Etwa Hanno, der für unsere Republik nur schöne Reden übrig hat?" „Vater!" Der Junge zupfte ihn am Rock. „Was willst du, Hannibal?" fragte der Feldherr gereizt. „Was sind das für Leute? Warum sind sie so seltsam gekleidet?" „Das sind Inder", erwiderte Hamilkar. „Am Rande der Welt, wo der Sonnengott Melkart dem Meer entsteigt, liegt das Land Indien. In seinen Urwäldern gibt es viele Elefanten, die so ähnlich aussehen wie unsere afrikanischen. Die Inder zähmen die Elefanten, machen sie ihrem Willen untertan. Solche Elefanten habe ich den Indern abgekauft." „Hast du die Treiber auch gekauft?" erkundigte sich der Junge. „Nein, das sind freie Männer, die ich für ihre Arbeit bezahle." „Dann befiehl ihnen, daß sie diesen großen Elefanten dazu bringen, sich vor uns zu verneigen." „Du verlangst viel, mein Sohn." Hamilkar lächelte. „Das sind Kampfelefanten, die brauchen sich nicht zu verneigen. Sie sind darauf abgerichtet, den Feind mit den Hauern zu töten, ihn mit dem Rüssel zu packen, zu Boden zu schleudern und zu zertrampeln."  „Aber weshalb holst du die Elefanten vom Rande der Welt, wenn es bei uns in Afrika auch welche gibt?" forschte der Junge weiter. Hasdrubal hatte sich bisher nicht in die Unterhaltung zwischen Vater und Sohn gemischt. „Bei den afrikanischen Elefanten ist nur das Elfenbein ihrer Stoßzähne zu verwerten", sagte er jetzt lachend. „Eher schließt der Löwe Freundschaft mit dem Lamm, als daß es gelingt, einen afrikanischen Elefanten zu zähmen." „Meinst du?" Hamilkar lächelte geheimnisvoll. „Siehst du den alten Treiber dort unter dem Feigenbaum sitzen? Er ist ebensoviel wert wie ein ganzes Heer. Richad heißt er. Sprich einmal mit ihm, er kann sich ganz gut in unserer Sprache verständigen. Richad wird dir sagen, daß es keinen Elefanten gibt, den man nicht zähmen könnte." Hamilkar verstummte nachdenklich. „Es kommt eine Zeit", fuhr er nach einer Weile fort, „da wirst du einsehen, daß ich recht habe. Karthago wird nicht ohne Bundesgenossen in den Kampf gegen Rom ziehen. Wir haben Afrika mit seinen mächtigen Elefanten, seinen windschnellen Pferden, seinen dunkelhäutigen Reitern und seinen treffsicheren Bogenschützen auf unserer Seite. Doch vorher muß ich Iberien erobern. Elefanten und Pferde können nicht über das Wasser gehen."  Der Schwur Hannibal wartete von früh bis spät. Schon am Morgen lief er hinaus zur Straße nach Karthago, an der das Landgut seines Vaters lag, und stellte sich an den Straßenrand. An ihm vorüber rollten Fuhrwerke, gezogen von wohlgenährten Maultieren, beladen mit Früchten, mit goldenem Getreide oder mit Tongefäßen, die man Amphoren nannte und die Wein oder Öl enthielten. Auf der Straße liefen paarweise oder zu vieren aneinandergeschmiedet dunkel- oder hellhäutige Sklaven, die von den Besitzern der umliegenden Landgüter auf dem Markt am Hafen gekauft worden waren. Sie wurden bewacht von berittenen Posten, die kurze dunkelblaue Umhänge und schwarze Filzhüte trugen. Aber der Vater ließ sich nicht sehen. Ob er sein Versprechen vergessen hat, mich nach Iberien mitzunehmen? dachte Hannibal unglücklich. Iberien! Welch aufregendes Wort! Es klingt nach dem Silber, das es dort in großen Mengen gibt, und nach den Wellen, die gegen die felsige Küste branden. Iberien! Das klingt nach Drachen und Riesen, die sonst nur in Märchen vorkommen. Der bevorstehende Feldzug nach Iberien beschäftigte nicht nur Hannibals Gedanken. Auch sein Vater Hamilkar dachte ständig an dieses Land, obgleich sein Schicksal eher mit Sizilien verbunden war. Damals, als die karthagische Flotte eine demütigende Niederlage nach der anderen erlitt, war Hamilkar über Nacht berühmt geworden, weil er von den Höhen des sizilianischen Berges Eryx kühne Überfälle auf die feindlichen Truppen unternommen und die angeblich unbesiegbaren römischen Legionen in die Flucht gejagt hatte. Daß Karthago Sizilien dann trotzdem verlor, war nicht die Schuld Hamilkars, sondern der karthagischen Flotte gewesen, denn sie hatte die Schlacht bei den Aegatischen Inseln verloren. Aus all diesen Gründen glaubten viele Karthager, daß Hamilkar nichts anderes im Sinne hätte, als die fruchtbare Insel Sizilien zurückzuerobern. Doch statt dessen rüstete er zu einem Feldzug nach Iberien. Das begriff keiner. War das etwa Feigheit oder gar Verrat? Nach vielen Tagen, als Hannibal schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, holte der Vater ihn doch noch ab. Atemlos vor Freude und Eile nahm Hannibal Abschied von den Brüdern und kletterte auf den Wagen. Dumpf ratterten die Räder: „Auf in den Kampf! Auf in den Kampf!" Die Fußgänger sprangen zur Seite, um nicht von dem dahinrasenden Wagen überfahren zu werden. Aber als Hannibal den Vater näher betrachtete, schwand seine freudige Erregung. Hamilkar machte ein ebenso finsteres Gesicht wie damals, als Hannibal mit seinen Brüdern Römer und Karthager gespielt hatte. Und auch diesmal begriff der Junge ihn nicht. Zog der Vater denn nicht gern in den iberischen Feldzug?  Vor dem Tempel des höchsten karthagischen Gottes, der Baal Ammon hieß, gab Hamilkar dem Sklaven ein Zeichen, die Pferde anzuhalten. Vater und Sohn verließen den Wagen und stiegen über Granitstufen, die von vielen tausend Füßen ausgetreten worden waren, zum Heiligtum hinauf. Schwere schwarze Säulen stützten eine kunstvoll bemalte Decke. Das Licht der an Säulen und Wänden angebrachten Öllampen fiel auf die Ledersäcke und Metallgefäße, in denen die Opfergaben der Gläubigen verwahrt wurden. Ein wallender Purpurvorhang verbarg das Allerheiligste. Als er zur Seite glitt, erblickte Hannibal einen Altar und dahinter die Gestalt eines nackten bronzenen Jünglings. War er es, dem an Feiertagen Kinder geopfert wurden? Zaghaft folgte Hannibal dem Vater zum Altar. Er fror. Die kalten Steinfliesen und ein nur halbbewußtes Grauen ließen ihm das Blut in den Adern erstarren. „Lege die Hand hierher, mein Sohn!" Hamilkar zeigte auf den Rand des Altars. Hannibal gehorchte. „Und nun sprich mir Wort für Wort nach: Mögen mich die Götter vernichten ..." „Mögen mich die Götter vernichten..." „wenn ich jemals ein Freund der Römer werde und die Demütigung meines Vaters..." „... die Demütigung meines Vaters..." „und die Erniedrigung meines Vaterlandes..." „... die Erniedrigung meines Vaterlandes..." „nicht an ihnen räche." „nicht an ihnen räche." Hannibal erlebte viele Wechselfälle des Schicksals. Es trug ihn auf den Gipfel des Ruhms, trieb ihn von Land zu Land, von Stadt zu Stadt. Doch überall und jederzeit sah er vor sich den von flackernden Öllampen erleuchteten Tempel, den Purpurvorhang und den Altar, und immer klang ihm die Stimme des Vaters wie das Angriffssignal einer Trompete in den Ohren. Er vergaß die Worte des Schwurs, aber er hielt ihm sein Leben lang die Treue.  Im fremden Land Einen ganzen Monat brauchte das Heer für den Weg nach Iberien. Wüsten, Grassteppen, neue Wüsten. Jeder Tagesmarsch entfernte Hannibal nicht nur von Karthago, sondern auch von Rom. Der Junge wußte, daß Rom nördlich von seiner Vaterstadt lag, jenseits des Meeres, doch das Heer zog auf dem Landwege gen Westen. Der Vater ließ mich Rom ewige Feindschaft schwören, aber anschließend reisen wir ans andere Ende der Welt, wie merkwürdig, dachte Hannibal. Sein einziger Trost war der Gedanke an die bevorstehenden Kämpfe mit den iberischen Riesen und Drachen. Aber auch in dieser Beziehung wurde er enttäuscht. In Iberien lebten überhaupt keine Drachen. Anscheinend gab es dort nicht einmal Löwen, deren Gebrüll er in Afrika fast in jeder Nacht gehört hatte. Nachdem das Heer die schmale Meerenge von Gibraltar zwischen Afrika und Iberien hinter sich gelassen hatte, herrschte nachts nur noch tiefe Stille. Selbst die Felsen schliefen, vom Mondlicht erhellt, und das Meer sang ihnen mit dem gleichmäßigen Rauschen seiner Brandung ein Wiegenlied. In Iberien gab es auch keine wilden Elefanten, die dem Heer in Afrika scharenweise begegnet waren. Bei diesem Anblick hatte Hannibal einmal einen iberischen Söldner gefragt, welches das gefährlichste Tier in seinem Vaterland sei. „Das Kaninchen!" war die Antwort gewesen. Das hatte der Söldner durchaus ernst gemeint, wie Hannibal später feststellte. Die kleinen Tiere, die so putzig mit dem langen Schnurrbart wackelten, vernichteten Saaten, Obstbäume und Beerensträucher; sie unterwühlten sogar Städte. In Iberien gab es auch keine Riesen, mit denen der Junge gar zu gern gekämpft hätte. Hier wohnten nur Hirten und Ackerbauern. Sie trugen Umhänge aus grober Wolle und Filzhüte mit hochgeschlagenen Rändern und lebten in Stämmen zusammen. Es gab dermaßen viele Stämme, daß sich kein Mensch ihre seltsamen Namen einprägen konnte: Oretaner, Lusitaner, Kantabrer und viele andere mehr. Deshalb wurden die Bewohner dieses Landes von Ausländern samt und sonders als Iberer bezeichnet. Zu Hannibal waren die Iberer sehr freundlich. Als er einmal heimlich das Lager verlassen und sich im Gebirge verirrt hatte, traf er einen großen Iberer, einen Hirten mit langem Haar. Der schnalzte lustig mit der Zunge, um den erschrockenen Jungen zu beruhigen, nahm ihn dann auf den Rücken und brachte ihn ins karthagische Lager zurück. Dafür schenkte Hamilkar ihm eine Handvoll Münzen, für die er sich eine ganze Schafherde hätte kaufen können. Doch statt sich zu bedanken, spuckte er aus und warf dem karthagischen Feldherrn das Geld vor die Füße. Hamilkar sagte nichts dazu, er runzelte nur die Stirn. Doch nachdem der Hirt fort war, schalt er ihn als undankbar. „Die Iberer sind eben Barbaren!" setzte er Hannibal auseinander. „Sie haben kein richtiges Heer und kämpfen nur in kleinen Trupps. Hartnäckig weigern sie sich, unsere Herrschaft anzuerkennen und uns Tribut zu zahlen. Sie verstecken sich hinterlistig in den Bergen und schleudern aus unerreichbaren Höhen Felsblöcke auf unsere nichtsahnenden Krieger. Wiederholt ist es auch schon geschehen, daß sich ein Iberer nachts heimlich in unser Lager geschlichen und den schlafenden Feldherrn getötet hat. Anschließend macht er sich dann unbemerkt aus dem Staube. Und wenn es unseren Wachen doch einmal gelingt, einen Iberer zu fangen, dann kann man ihm selbst durch grausame Foltern nicht den Namen seiner Helfershelfer entreißen. Wenn den Iberern der Leib mit Flammen versengt oder von Eisenhaken zerrissen wird, lächeln sie, als fühlten sie keinen Schmerz. Und wenn man sie ans Kreuz nagelt, singen sie Siegeslieder. Es sind eben Wilde! Doch ihre Pferde - die sind des höchsten Lobes würdig. Sie sind kleiner als unsere edlen numidischen Rennpferde. An Eleganz und Schnelligkeit des Laufes können sie es nicht mit ihnen aufnehmen, aber sie sind viel kräftiger und ausdauernder. Mit schweren Lasten beladen, legen sie lange Tagesmärsche zurück. Sie fürchten sich nicht vor brausenden Bergflüssen, schmalen Felspfaden und gähnenden Abgründen. Während der Schlacht springen die iberischen Reiter häufig aus dem Sattel und lassen ihre Pferde unangekoppelt laufen oder binden sie an einen Pflock, den sie flüchtig in die Erde gebohrt haben. Dann bleiben die Pferde gelassen stehen, ohne sich vom Schlachtenlärm stören zu lassen. Häufig nimmt der Reiter noch einen Fußsoldaten mit aufs Pferd, auch das macht den Tieren nichts aus." Hamilkar sandte die iberischen Pferde zu Tausenden nach Karthago. Zum Pflügen, zum Lastentragen, eben zu allem, was Kraft und Ausdauer erfordert, wurden die Knirpse, wie die Karthager sie nannten, verwendet.  Der neue Lehrer „Königssöhne erben die Macht von ihren Vätern", sagte Hamilkar zu seinem Sohn. „Doch mein Amt wird eines Tages derjenige übernehmen, der ihm am würdigsten ist. Das könnte zum Beispiel dein Bruder Magon oder auch dein Reitlehrer Magarbal sein." Hannibal kniff beleidigt die Lippen zusammen. „Nein, Magon soll nicht den Oberbefehl über das Heer erhalten. Er ist jünger als ich und hat noch keinen Unterricht im Reiten und im Bogenschießen. Dann wäre es besser, daß Magarbal dich ersetzt." „Die jüngeren Brüder zu übertreffen ist keine Kunst. Du mußt alle überflügeln. Du mußt lernen, besser zu reiten und besser mit Schwert und Wurfspieß umzugehen als jeder andere. Doch das genügt noch nicht. Du mußt auch am meisten wissen." Eines Tages brachte ihm der Vater einen kleinen Mann, der kaum mit ihm Schritt halten konnte. Der Mann hatte einen Schädel, kahl wie ein Straußenei, und abstehende Ohren. An seinem dünnen Hals baumelte ein flacher Gegenstand an einer schwarzen Schnur. „So siehst du also aus, Hannibal!" rief der Unbekannte und musterte interessiert den Jungen, der sich auf seinen Wurfspieß stützte. „Zeig uns deine Kunst!" befahl Hamilkar. Hannibal holte aus und traf mit seinem Spieß den zwanzig Schritt entfernten Holzpfahl. „Tüchtig!" lobte Hamilkar. „Und nun lege die Waffe hin und komm näher. Mach dich mit deinem neuen Lehrer bekannt. Er heißt Sosylos." „Ein neuer Lehrer?" fragte Hannibal erstaunt. „Worin soll er mich unterrichten? Ich habe schon einen Fechtlehrer, einen Reitlehrer und einen Lehrer für das Bogenschießen. Ach, ich weiß. Du bist ein Schleuderer." Hannibal tippte auf die schwarze Schnur, die Sosylos um den Hals trug. Hamilkar und Sosylos lachten. „Mein Sohn", sagte Hamilkar entschuldigend, „ist unter Kriegern aufgewachsen; er unterscheidet die Menschen nach ihrer Bewaffnung und hält dein Schreibgerät für eine Wurfschleuder." Er wandte sich seinem Sohn zu. Das Lachen war aus seinem Gesicht gewichen. „Du irrst, Hannibal, Sosylos ist kein Schleuderer. Er wird dir die griechische Sprache beibringen." „Die Griechen sind unsere Feinde, ich brauche ihre Sprache nicht!" brummte der Junge mit gesenktem Kopf. „Wer hat dir das gesagt?" forschte Hamilkar unmutig.  „Du selbst. Erinnere dich, du erzähltest mir von den Kriegen, die unsere Vaterstadt mit den Griechen führte, und von dem in Sizilien lebenden Griechen Agathokles, der Karthago fast erobert hätte." „Aber das liegt doch schon hundert Jahre zurück!" rief Hamilkar. „Und jetzt gehören die sizilianischen Städte schon lange zu Rom. Auch das schöne Tarent, das einst gegen die Römer kämpfte, stöhnt unter dem Joch Roms. In dieser Stadt lebte jahrelang dein neuer Lehrer, bis er von den Römern vertrieben wurde." Hannibal betrachtete den Griechen, der demnach ebenso ein Feind der Römer war wie der Vater, mit neuen Augen.  „Ich kann dir sagen", fuhr Hamilkar fort, „daß die Griechen die Römer ebenso hassen wie wir. Doch selbst wenn sie unsere Feinde wären, müßtest du ihre Sprache lernen. Wer die Sprache des Feindes versteht, schlägt ihm eine Waffe aus der Hand."  „Ich werde dich in meiner Muttersprache unterrichten, Knabe", sagte Sosylos. „Du wirst Homer und den großen Aristoteles kennenlernen und..." „Was haben sie erobert?" fiel Hannibal ihm ins Wort. Sosylos lächelte. „Homer hat mit seinen wohllautenden Gedichten die Welt erobert", sagte er dann. „Und Aristoteles war ein Gelehrter, der sogar Alexander von Makedonien zu seinen Schülern zählte." „Von Alexander habe ich schon gehört. Er eroberte Indien, wo die Elefanten leben." „Alexander vollbrachte noch viele andere staunenswerte Heldentaten. Er war ein großer Feldherr." „Gut, Sosylos, ich werde deine Sprache erlernen", willigte Hannibal ein. „Aber du mußt mich auch alles lehren, was Aristoteles dem Alexander beibrachte. Ich will auch ein großer Feldherr werden." „Es wird genügen, wenn du deinem Vater nacheiferst und wie er..." „Ihr werdet sicherlich gut miteinander auskommen", unterbrach ihn Hamilkar, der Schmeicheleien haßte. Sosylos kannte unzählige unterhaltsame Geschichten von kriegerischen Seefahrern und ihren Abenteuern in fremden Ländern. Hannibal wunderte sich, daß sie alle in Sosylos' Kopf Platz fanden. Aber der neue Lehrer hatte die merkwürdige Angewohnheit, seine Erzählung an der spannendsten Stelle zu unterbrechen. Und es war leichter, den finsteren Magarbal zu überreden, die tägliche Reitstunde abzusetzen, als den gutmütigen Griechen zu veranlassen, seine Geschichte zu beenden. „Wie ging es weiter? Hat der Zyklop den Helden Odysseus aufgefressen?" „Das weiß ich nicht", erwiderte Sosylos ungerührt. „Da hast du die Schriftrolle. Lies sie selbst."  „Ich werde sie lesen, ganz bestimmt, aber sag mir doch, ob Odysseus gerettet wurde!" flehte der Junge. „Ich weiß nicht mehr, wie die Sache weiterging", antwortete Sosylos und entrollte gemächlich die Schriftrolle. „Setz dich neben mich, wir wollen gemeinsam lesen." Und sie lasen Homers Gedichte. Wer Sosylos betrachtete, konnte den Eindruck haben, daß er sämtliche Abenteuer des sagenhaften Helden Odysseus am eigenen Leibe erlebte - die entsetzlichen Stürme, die Kämpfe mit den Ungeheuern und die Freude der Heimkehr. Als sie an die Stelle des Heldengedichts kamen, wo Odysseus in der Gestalt eines elenden Bettlers auf seine heimatliche Insel Ithaka zurückgekehrt ist und von der alten treuen Dienerin Eurykleia an einer Narbe am Bein erkannt wird, brach Sosvlos vor Rührung in Tränen aus. Hannibal teilte diesen Gefühlsüberschwang nicht. Wegen einer Dienerin zu weinen! Für Hannibal waren Homers Verse nur interessante Geschichten, und nachdem Odysseus in sein Vaterland zurückgekehrt war, hörte sein Schicksal auf, den Knaben zu interessieren. Allerdings, Odysseus war listenreich, zäh und ließ sich von keinem Hindernis aufhalten, aber warum verließ er all die reichen Länder und kehrte in das ärmliche Ithaka zurück? „Jetzt zu Alexander!" bat er immer dringlicher. Doch Sosylos ließ sich Zeit. Nachdem sie Homers „Odyssee" beendet hatten, gingen sie zu Xenophons „Anabasis" über. Das waren nun keine erdachten Abenteuer, sondern Berichte von Ereignissen, die sich wirklich zugetragen hatten - von den Fahrten der Griechen durch die Steppen und Gebirge Asiens. Endlich kam Sosylos mit einer neuen Pergamentrolle zu Hannibal. „Hier", sagte er und löste die Lederschnur, mit der die Rolle umwunden war, „ist ein Bericht von Alexanders Eroberungszügen, aufgezeichnet von seinem Feldherrn Ptolemaios Lagou, der späterhin König von Ägypten wurde. Ich hätte diese Schriftrolle gern gemeinsam mit dir gelesen, doch dein Vater schickt mich nach Karthago, um deine Brüder zu holen." So mußte Hannibal allein, ohne die Hilfe des Lehrers, Alexander auf seinem Feldzug in den Osten folgen. Das fiel ihm zuweilen ebenso schwer wie dem ruhmreichen Feldherrn selbst. Das Dickicht der fremden Sprache war fürchterlicher als der Dschungel Indiens und die heiße Wüste von Oedrosia, die Alexander auf seinem Rückmarsch von Indien nach Babylon durchquerte, und manche unbekannten griechischen Wörter bissen Hannibal oft wie Schlangen und stachen ihn wie Skorpione. Die unregelmäßigen Verben türmten sich wie Gebirge vor ihm auf. Oft rang er nach Atem wie in zu dünner Luft. Aber er wollte nicht aufgeben, denn Alexander hatte auch durchgehalten. Und eines Tages hatte Hannibal die dicke Rolle durchgelesen. Alexanders Energie und Kühnheit gefielen ihm außerordentlich. Dieser Mann kannte kein Heimweh, im Gegensatz zu Odysseus. Er gab sein Vaterland und dessen Gebräuche und Götter auf. In Ägypten betete er zu den ägyptischen Göttern, in Babylon zu den babylonischen. Er hatte die Absicht, ein Weltreich zu schaffen, aber seine Kampfgefährten und Freunde begriffen die Größe seines Zieles nicht und hielten die Übernahme fremder Bräuche für Verrat. Und obwohl Ptolemaios die geheimnisvollen Umstände von Alexanders Tod nur andeutete, zweifelte Hannibal nicht daran, daß der große Feldherr vergiftet worden war. Sosylos brachte Hannibals Brüder wohlbehalten nach Iberien, so daß Hamilkars Familie jetzt beisammen war. Hamilkar ließ seinen gesamten afrikanischen Besitz verkaufen bis auf sein Landgut, das als Festung ausgebaut war. Er hatte ähnliche Pläne wie Alexander und wollte seine Söhne ihrem Vaterland entfremden. Jetzt unterhielt er sich häufig mit ihnen und wohnte auch ihren Unterrichtsstunden bei. „Lernt, junge Löwen!" sagte er. „Alle Menschen lernen von ihren Freunden oder von ihren Feinden, aus ihren eigenen oder aus fremden Fehlern. Nicht wahr, Sosylos?" Der Grieche nickte.  „Unsere Väter", fuhr Hamilkar fort, „vollbrachten große Taten, aber sie machten auch Fehler. Sie ließen ihre Söhne ausschließlich innerhalb der eigenen vier Wände unterrichten. Zwar brachten sie ihnen alles bei, was ein Großgrundbesitzer, ein Kaufmann und Schiffskapitän wissen muß, aber von der körperlichen Arbeit hielten sie sie fern. Jede Anstrengung wurde ihnen von den Sklaven abgenommen. Auch später, wenn sie ihren Heeresdienst ableisteten, führten sie ein anderes Leben als die einfachen Krieger. Sie ließen sich von ihren Sklaven den Schild tragen, bei der Rast die Füße waschen und den Schweiß von der Stirn wischen. Das ist einer der Gründe, daß wir so viele Niederlagen erlitten und daß die Römer uns besiegen konnten. Ich hörte, daß die römischen Feldherren bei Disziplinverletzungen nicht einmal vor der Hinrichtung ihrer eigenen Söhne zurückschreckten. So würde es auch euch ergehen. Habt ihr das begriffen?" „Ja, Vater", antwortete Hannibal im Namen aller.  Ein geheimer Auftrag Bis spät in die Nacht hinein schritt Hamilkar von einer Ecke seines Zeltes in die andere. Wenn der kalte Bergwind durch den Zeltschlitz fuhr und die Flammen der Öllampen zuckten, glitten gespenstische Schatten über die grauen Zeltwände. Am Tage zuvor war ein Handelsschiff aus Karthago eingetroffen und hatte schlechte Nachrichten gebracht. Immer wieder beugte sich der Feldherr über die auf dem Teppich liegende Bronzeplatte, in der die Meeresufer und Flüsse sowie die Grenzen der karthagischen und römischen Gebiete eingeritzt waren, und fuhr kopfschüttelnd mit dem Finger über die Linien. Als sich Hannibal am nächsten Morgen wie gewöhnlich beim Vater einstellte, war dessen zerfurchtes, dunkles Gesicht ruhig wie immer. Nur aus den müden Augen sprach die Sorge. „Setz dich, mein Sohn. Heute will ich dir einen Auftrag erteilen." „Welchen, Vater?" rief Hannibal ungeduldig. „Wir werden uns für lange Zeit trennen müssen. Du sollst Elefanten holen." „Wo? In Indien?"  „Nein, an dieses ferne Wunderland wollen wir einstweilen nicht denken", lächelte Hamilkar. „Wir haben jetzt nahe bei Karthago ein eigenes kleines Indien, in dem Richad König ist. Erinnerst du dich noch an den Treiber, der die zwölf Elefanten durch Karthago führte?" Er wies auf die Bronzeplatte. „Sieh her. Da liegt Karthago, an einem tiefen Meeresbusen. Das, was wie eine Schlange aussieht, ist der Fluß Bagradas. Östlich davon liegt das Land der Numidier, der besten Reiter, die die Erde je getragen hat. Siehst du den kleinen Kreis an der Grenze zwischen dem Land des numidischen Königs Gula und dem Gebiet der Mauren? Das ist ein See. An seinen Ufern fangen unsere Leute Elefanten und zähmen sie mit Richads Hilfe."  „Weshalb sagst du denn, daß wir uns für lange Zeit trennen müssen? Auf dem Seewege sind es bis zur karthagischen Hafenstadt Utica doch nur fünf Tagereisen." Hamilkar sah seinen Sohn prüfend an. „Ich will dir einen zweiten Auftrag geben, von dem aber nur wir beide wissen dürfen." Er dämpfte die Stimme. „Westlich von Gulas Gebiet liegt das Land eines anderen numidischen Stammes, der von König Syphax regiert wird. Gula und Syphax sind Feinde, weil jeder die Macht über ganz Numidien erringen will. Gula ist seit jeher unser Verbündeter, Syphax hält es mit den Römern. Gestern erfuhr ich, daß wieder ein römischer Gesandter, nämlich der Patrizier Scipio mit seinem Gefolge, in Syphax' Hauptstadt Cirta eingetroffen ist. Zweifellos führen die Römer etwas gegen uns im Schilde. Wir müssen auf der Hut sein. Solange Gula noch lebt, haben wir nichts zu befürchten, denn er wird Syphax an jedem Angriff auf Karthago hindern. Doch Gula ist alt, Syphax dagegen jung und tatendurstig. Wenn Gula stirbt, wird sein Nachfolger vor der Wahl stehen, mit uns oder mit Syphax und den Römern ein Bündnis abzuschließen." „Und wer wird Gulas Nachfolger?" „Nach numidischem Brauch nicht sein Sohn, sondern sein Bruder. Aber Gulas Bruder, der seinerzeit mit deiner Schwester Salambo Hochzeit machte, heiratete nach ihrem Tode eine Tochter des Syphax und wurde dadurch unser Feind. Deshalb beabsichtigt Gula, die Herrschaft seinem Sohn Masinissa zu übergeben." „Wie alt ist Masinissa?" „Ich glaube, zwei oder drei Jahre jünger als du. Jetzt ist er also gerade in dem Alter, wo sich ein Mensch leicht wie Ton formen läßt. Aber denke daran: Alle Numidier sind verschlossen und haben ein leicht verwundbares Ehrgefühl. Mit diesen Schwächen muß man rechnen. Sie pflegen immer ihr Wort zu halten und ertragen es nicht, wenn sie getäuscht werden. Das ist für einen Staatsmann keine nützliche Eigenschaft. Präge dir diese Eigenheiten der Numidier ein. Es wird dir ein leichtes sein, dich mit Masinissa anzufreunden. Um so mehr, als du seine Sprache sprichst." „Ist dies dein Auftrag, Vater?" „Ja. Du sollst das Herz des jungen Numidiers gewinnen. Vielleicht glaubst du, dieser Auftrag sei eines Kriegers unwürdig. Aber bedenke, daß die Zukunft der Republik Karthago davon abhängt, ob Gulas Nachfolger unser Freund wird oder nicht. Als Karthago in Gefahr war, verheiratete ich deine Schwester Salambo mit Gulas Bruder. Ich opferte sie, um die Republik zu retten. Und das gelang. Mit Hilfe der numidischen Reiterei konnten wir die Meuterei der Söldner und Sklaven niederschlagen." „Ich hörte, daß Salambo an dem Tage starb, als die Gefangenen in die Stadt gebracht wurden, weil ihr Herz das Schauspiel der Folterungen und Hinrichtungen nicht ertrug. Ist das wahr?" „Ja, sie wurde geopfert, um die Stadt Karthago zu retten. Hätte ich noch eine Tochter, dann würde ich sie sofort mit Masinissa, Gula oder gar mit Syphax verheiraten, denn in einem neuen Krieg gegen die Römer müssen die Numidier unbedingt auf unserer Seite stehen!" Noch am selben Tag nahm Hannibal Abschied von seinen Brüdern, von Sosylos, Magarbal und den anderen Lehrern, strahlend vor Stolz, Schickte der Vater ihn doch zum erstenmal mit einem wichtigen Auftrag auf Reisen.  Numidien Dieses hügelige Grasland kannte den Pflug noch nicht. Am Horizont versank eine Gebirgskette im blaugrauen Dunst. Betäubend duftete das Gras. Die hohen Blumenstauden streiften Hannibals Füße, wenn er an ihnen vorüberritt, und hinterließen auf seinen Sandalen gelben Blütenstaub. Oft sprangen unmittelbar vor den Pferdehufen kleine Tiere auf, die den iberischen Kaninchen ähnelten. Wildziegen ergriffen eilig die Flucht. Masinissa ritt neben Hannibal. Er war barfuß und hatte einen kahlrasierten Schädel. Nur am Hinterkopf war eine kriegerische Haarsträhne stehengeblieben. Gula hatte Masinissa befohlen, den jungen Karthager an den See zu bringen, wo die Elefanten gefangen und dressiert wurden, und zum Abschied gesagt: „Hannibal ist unser Gast!" Masinissa begriff, was das bedeutete. Jeder Wunsch des Gastes war Gesetz, und es gab kein schlimmeres Verbrechen vor den Göttern, als einen Gast zu beleidigen oder sonstwie schlecht zu behandeln. Masinissa war ein leidenschaftlicher Jäger. Wenn ihm ein Wild vor die Augen kam, streckte er unwillkürlich die Hand nach Pfeil und Bogen aus, aber bei Hannibals Blick strich er dann nur seinem Pferd über die Mähne, in der weiße Schaumflocken hingen. Er merkte, daß es der Karthager eilig hatte, die Elefanten zu sehen. Hannibal staunte über die Schnelligkeit der numidischen Pferde. Unermüdlich galoppierten sie dahin, mit harmonischen Bewegungen ihrer langen, schlanken Beine. Manchmal wieherten sie aufgeregt; dann witterten sie Schlangen oder Raubtiere, die sich im hohen Gras verbargen. Unterwegs erblickte Hannibal wiederholt numidische Zelte, die umgekippten Schiffen ähnelten. Die Numidier waren Nomaden, die mit ihren Herden umherzogen, und keiner wußte genau, an welchem Ort er geboren war und wo seine Vorfahren begraben lagen. Während des langen Ritts durch Gulas Reich konnte Hannibal nirgendwo Äcker oder Obstbäume entdecken. Die Numidier kauften das Mehl von den Karthagern und nährten sich hauptsächlich von Ziegenmilch, Wildbret, Weichtieren und Honig. Einmal erblickte Hannibal auf einem Hügel ein Kreuz, an dem eine menschliche Gestalt zu hängen schien. Wegen der großen Entfernung konnte er sie nicht genau erkennen. „Ein Flüchtling?" fragte er, denn die Karthager kreuzigten widerspenstige oder entflohene Sklaven.  Der junge Numidier schüttelte verständnislos den Kopf. Als sie sich dem Kreuz näherten, stellte sich heraus, daß kein Mensch daran hing, sondern ein gewaltiger Löwe mit zottiger Mähne, die Hannibal von weitem für einen Sack gehalten hatte, den man einem Gekreuzigten über den Kopf stülpte. Das Tier war von beherzten numidischen Hirten erlegt und ans Kreuz genagelt worden, um andere Raubtiere von den Herden zu verscheuchen. Etwas ähnliches taten in Karthagos Umgebung die Ackerbauern, wenn sie einen Raben an die Spitze einer Stange banden und diese auf freiem Feld aufpflanzten. Masinissa verstand Hannibal wohl auch deshalb nicht, weil die Numidier entweder keine Sklaven besaßen oder sie nicht so grausam behandelten wie die Karthager. Je näher Hannibal das Leben der Numidier kennenlernte, um so klarer wurde ihm, welch einen schwierigen Auftrag ihm der Vater gegeben hatte. Es würde kaum gelingen, Masinissa, der die freie Ungebundenheit dieses weiten Landes so sehr liebte, zu einem Freund Karthagos zu machen! Das Menschengewimmel der Stadt, ihre Habgier und sinnlose Grausamkeit würden ihn erschrecken. Hier war Masinissa ein großer Herr und Gastgeber. In Karthago dagegen würde er der arme Gast sein, den man gnädig zur Festtafel zuläßt. Für die grenzenlose Weite dieses Landes mit seinen über den Hügeln schwebenden Adlern und dem bitteren Wermutduft würde er in Karthago keinen gleichwertigen Ersatz finden. Am dritten Tag des Ritts sah Hannibal in der Ferne die Wasserfläche eines Sees aufblinken. An seinen Ufern wuchs das Röhricht fast so hoch wie ein Jungwald. Die Enten, die darin nisteten, wurden von den Reitern aufgescheucht und kreisten als Wolke über dem See. „Wo ist denn Richad mit seinen Elefanten? Wo ist das kleine Indien, von dem mein Vater sprach?" forschte Hannibal. „Dort hinter den Hügeln", erwiderte der junge Numidier. „Siehst du nicht die Spitzen der Pfähle?" Hannibal blickte in die Richtung, wohin Masinissa zeigte, konnte aber nichts erkennen.  Mit Recht sagt man, daß die Numidier Adleraugen haben! dachte er.  Richads Reich Wie durch Zauberkraft war mitten in der Grassteppe eine richtige Stadt entstanden - mit Pferchen, endlosen Reihen von numidischen Zelten und einem großen Begräbnisplatz für jene, die von den Elefanten getötet worden waren. Von fünf verwegenen Männern, die auszogen, um die vierbeinigen Giganten zu fangen, kehrten meist nur zwei lebendig zurück. Dennoch wurde die Zahl der Freiwilligen, die beim Elefantenfang ihr Glück machen wollten, nicht geringer. Der Grund dafür war der hohe Lohn, den sie erhielten. Hamilkar sparte bei den Vorbereitungen für den großen Feldzug weder mit iberischem Silber noch mit Menschenleben. Richad, der Hannibal und Masinissa freundlich begrüßte, sah aber nicht wie der Herrscher eines indischen Königreiches aus. Er trug noch immer seinen Turban und die verblichene Tunika und war der schlichte Elefantentreiber geblieben, als den Hannibal ihn einst kennengelernt hatte. Als er näher mit dem Inder sprach, wurde ihm klar, wie recht sein Vater mit der Behauptung hatte, daß dieser Mann soviel wert sei wie ein großes Heer. Und Greis hatte sich geirrt, als er meinte, es werde niemandem gelingen, einen afrikanischen Elefanten zu zähmen. Richad berichtete, daß die afrikanischen Elefanten ebenso gelehrig seien wie die indischen, aber noch stärker und kampfeslustiger. Es war wirklich nicht mehr zweckmäßig, Elefanten aus dem fernen Indien zu holen. Der Inder führte die Gäste persönlich durch sein Reich. Als erstes zeigte er ihnen einen Pferch, der so ähnlich aussah wie jene, in die man über Nacht die Schafherden treibt, nur mit dem Unterschied, daß er nicht aus Stangen und Pfählen bestand, sondern aus glatten Stämmen, die senkrecht in die Erde gerammt waren. Sie umschlossen einen glattgetrampelten Bezirk, wo die Elefanten umhergingen oder lagen. Es waren Elefantenbullen und Elefantenkühe, sogar Elefantenjunge, nicht größer als Pferde. „Sind die schon gezähmt?" „Nein." Richad schüttelte den Kopf. „Noch vor einer Woche liefen sie frei herum - dort hinter dem See." Im Mittelpunkt eines anderen quadratischen Pferches stand ein seltsames Gerüst. Zwei lange Pfähle waren schräg in die Erde gerammt, so daß sie ein Dreieck bildeten. Zwischen den Pfählen stand ein Elefant. An der Spitze des Dreiecks hing ein Strick, an dem sich ein Mann zu dem Tier herunterließ. Als seine Füße den Rücken des Elefanten berührten, schwenkte dieser drohend den Rüssel, duckte sich und schüttelte den Mann ab, der sofort wieder am Strick emporkletterte und sich erneut auf den Rücken des Elefanten herabließ. Der Elefant schüttelte ihn wieder ab, und wieder kletterte der Mann in die Höhe. Gespannt beobachtete Hannibal diesen Kampf zwischen Geduld und Verstocktheit. Schließlich gab der Elefant nach. Ihm verging offensichtlich die Lust, sich mit solchen läppischen Dingen zu befassen. Er schüttelte sachte den Kopf, als wollte er sagen: Was ihr da macht, ist natürlich dumm, aber wenn ihr es unbedingt wollt - meinetwegen. „Und anschließend schickst du den Elefanten ins Heer?" fragte Hannibal. Der Inder lächelte. „Nein, das Wichtigste kommt erst. Dieser Elefant ist noch ein Rekrut, aus dem ich erst einen Krieger, einen geschulten Kampfelefanten, machen muß. Er lernt jetzt die Ausgangsstellung vor dem Kampf, die einzelnen Bewegungen im Schlachtgetümmel, die Besonderheiten beim Kampf gegen Infanterie, Kavallerie und feindliche Elefanten sowie den Angriff auf das feindliche Heerlager." Neben dem Dreieck stand eine Elefantenkuh mit ihrem Jungen. Offenbar sollte sie den Elefanten ablösen. „Zähmt ihr die auch?" Masinissa zeigte auf das Jungtier. „Aber nein!" Der Inder winkte verächtlich ab. „Die fangen wir bloß zum Spaß. Erst im Alter von zwanzig Jahren ist ein Elefant verwendbar, und am besten sind die vierzigjährigen. Übrigens kann man auch aus Jungtieren ausgezeichnete Kämpfer machen, wenn man genügend Zeit für ihre Dressur aufwendet. Sur, mein Leitelefant, wurde als Jungtier gefangen. Wir sind unzertrennliche Freunde; jetzt ist er zwanzig Jahre alt." „Und wie alt ist der unter den Pfählen?" fragte Hannibal. „Dreißig Jahre. Ein prächtiges Tier. Bestimmt wird er ein guter Kampfelefant."  „Gibt es auch Elefanten, die sich der Dressur nicht fügen wollen?" „Ja, mit ihnen verfahren wir anders." Der Inder führte Hannibal zu einem dritten Pferch. In seiner hinteren Ecke war ein Elefant mit dicken Seilen an die Pfähle gefesselt. Er versuchte mit aller Kraft sich zu befreien. Aber die Pfähle waren tief in die Erde gerammt, und je heftiger er an seinen Fesseln zerrte, um so tiefer schnitten sie in seinen Körper. Er brüllte so jammervoll, als wollte er die ganze Herde zu Hilfe rufen. Aber die anderen Elefanten blieben gleichgültig liegen und kümmerten sich nicht um den Hilferuf. Offenbar haben die Tiere nicht viel Vernunft, da sie außerstande sind, ihrem Mitbruder zu Hilfe zu kommen, überlegte Hannibal. Demnach sind Elefanten leichter zu regieren als Söldner. Elefanten können keine Verschwörungen und Meutereien anzetteln.  Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, daß er Masinissa vergessen hatte, und um so mehr überraschte ihn der Ausbruch des jungen Numidiers. Masinissa stürzte zu dem Elefanten hin und durchschlug mit dem Schwert eines der Seile, die ihn gefesselt hielten. „Ich hasse euch!" Er sah Hannibal mit funkelnden Augen an. „Ich hasse euch alle! Die Elefanten sind besser als ihr. Sie leben in Freiheit und tun niemandem etwas zuleide. Friedlich weiden sie in unseren Grassteppen. Ihr Karthager habt viel Silber, doch wenig Gewissen. Euch genügen die Söldner nicht - ihr wollt auch diese sanften Tiere in Mörder verwandeln." Noch am selben Tage verließ Hannibal mit Masinissa Richads Reich. Hannibal wollte es nicht riskieren, seine beginnende Freundschaft mit dem jungen Numidier noch einmal aufs Spiel zu setzen. In seinem Zorn hatte Masinissa das ausgesprochen, was er und seine Stammesgenossen von den Karthagern hielten. Wir werden ihnen immer fremd sein, dachte Hannibal.  Das Mädchen Sophonisbe Karthago raubte Masinissa die Fassung. Die große Stadt setzte jeden auswärtigen Besucher in Erstaunen, nicht nur den jungen Numidier. Wer sie zum erstenmal sah, staunte über die Tempel, die ihre Kuppeln stolz zum Himmel reckten, über die vielen hohen Häuser, über das Menschengewimmel auf den Straßen und Plätzen. Wahrscheinlich gab es allein auf dem Hafenmarkt mehr Menschen als in einem ganzen numidischen Stamm. Sie alle standen obendrein nicht still, sondern wogten hin und her, schienen einen merkwürdigen Tanz aufzuführen. Ihre Stimmen verschmolzen mit dem Gemuhe, Gewieher, Geblöke, Gemecker der unzähligen Tiere. Es dauerte lange, bis sich Masinissa an den unruhigen Betrieb in der gewaltigen Stadt gewöhnt hatte. Er glaubte geradezu in einer Falle zu sitzen. Auf der Straße stieß er die Vorübergehenden an oder wurde von ihnen gestoßen. Als er einmal mitten auf dem Fahrdamm stehenblieb, um die Stockwerke eines Hauses zu zählen, prallten die Esel, die das Fuhrwerk eines Tonwarenhändlers zogen, gegen ihn. Die Tongefäße fielen auf das Straßenpflaster und zerbrachen. Sogleich sammelte sich eine lärmende Menge und sah müßig zu, wie der wütende Tonwarenhändler ihn packte und schüttelte, als wäre er ein Birnbaum. Zum Glück war Hannibal dabei und konnte seinen Freund erlösen, indem er den Wert der zerbrochenen Tongefäße bezahlte. Er zeigte Masinissa an diesem Tage seine Vaterstadt. Sie besuchten auch die Stadtburg Byrsa. Der junge Numidier staunte weniger über ihre dicken Mauern und die Steintreppe, die zum Tempel hinaufführte, als viel mehr über die Sage von der Königin Dido, die Karthago an dieser Stelle gegründet haben soll. „Schlau war sie, eure Dido!" rief er. „Sie kaufte den Einheimischen so viel Land ab, wie sich mit einer Ochsenhaut begrenzen läßt, und zerschnitt dann die Haut in dünne Riemen, so daß sie um diesen ganzen Hügel herumreichte." Bei den Schiffen blieb Masinissa lange stehen. Sie kamen ihm vor wie die gewaltigen geflügelten Drachen aus den Sagen und Liedern seines Volkes. „Komm weg von hier", sagte er zu Hannibal, als dieser ihn in den Tempel des Gottes Melkart führte und ihm die Statue zeigte, der Menschenopfer dargebracht wurden. „Ihr habt schlaue Königinnen und grausame Götter." Nach einer Woche schien sich Masinissa allmählich an das städtische Leben zu gewöhnen. Er ging durch die Straßen, ohne die Passanten anzustoßen. Wenn er das Gebrüll von Sklaven hörte, die ausgepeitscht wurden, stürzte er nicht in das betreffende Haus, um sie zu befreien. Er kaufte auf dem Markt auch nicht mehr alle Singvögel auf und befreite sie aus den Käfigen. Deshalb ließ Hannibal ihn eines Tages allein gehen. Von diesem Streifzug kehrte Masinissa erst spät am Abend mit strahlenden Augen zurück. „Gefällt dir unsere Stadt?" erkundigte sich Hannibal, froh über die gute Laune seines Schützlings. „Ich war noch nie so glücklich", antwortete der Numidier.  Doch an einem der folgenden Tage stellte er sich ohne Filzhut und mit zerrissener Tunika bei Hannibal ein. „Was ist dir zugestoßen?" rief Hannibal verblüfft. „Wo warst du? Haben dich die Hunde gebissen?" „Ja!" schrie Masinissa wütend. „Karthagische Hunde!" „Beruhige dich, und erzähle mir lieber der Reihe nach, wer dich beleidigt hat und weshalb!" „Am ersten Tage, als du mir erlaubtest, allein zu gehen", berichtete der junge Numidier hastig, „machte ich mich auf den Weg zum Hafen, weil ich noch einmal die Schiffe betrachten wollte, die aus dem Lande des Sonnenaufgangs stammen. Vor dem Tempel der Liebesgöttin Tanit überholten mich einige Sklaven, die eine geschlossene Sänfte auf den Schultern trugen. Ihr entstieg ein Mädchen, leichtfüßig wie ein Vogel, der sich auf der Erde niederläßt. Ich wußte nicht, wer sie war, aber ich hatte sie sofort in mein Herz geschlossen. Du, Hannibal, stehst mir gegenüber, aber auch jetzt sehe ich nur sie vor mir. Die Göttin Tanit hat mich wohl verzaubert. Ich lehnte mich an eine Säule, da kam das Mädchen aus dem Tempel zurück, stieg in die Sänfte und verschwand wie ein Traumbild. Den ganzen folgenden Tag wartete ich vor dem Tempel. Die Bettler zeigten schon mit Fingern auf mich, und die Tauben der Göttin trippelten zutraulich vor meinen Füßen umher. Ich aber wartete auf sie. Und als sie erschien, fiel ihr Blick auf mich. Was für strahlende Augen sie hat! Wir kamen ins Gespräch, sie schickte die Sklaven mit der Sänfte weg, und ich geleitete sie zu Fuß nach Hause. Ach, wenn du wüßtest, wie sehr ich wünschte, daß ihr Haus am anderen Ende der Stadt, nein, in einer anderen Stadt, einem anderen Land läge! Dann hätten wir so lange nebeneinanderher gehen können, bis die Sterne am Himmel aufleuchteten, bis die Sonne auf- und wieder unterging. Aber der Weg zu ihrem Hause war nur so kurz wie ein Schatten in der Mittagsstunde, und die Zeit bis zu einem Wiedersehen mit Sophonisbe ist nun so lang wie die Ewigkeit." „Sophonisbe?" wiederholte Hannibal nachdenklich. „Der Name kommt mir bekannt vor." „Am nächsten Tage ging ich zu ihr. Zwar hielten die Sklaven das Tor vor mir verschlossen, aber ich kletterte über die Mauer." Masinissa verstummte. „Erzähle weiter!" drängte Hannibal. „Was geschah dann?" „Ich sprach mit Sophonisbes Vater und bat ihn, mir seine Tochter zur Frau zu geben. Da befahl er seinen Sklaven, mich hinauszuwerfen." Hannibal biß die Zähne zusammen, daß sie schmerzten. Er fühlte sich schuldig an dem dummen Zwischenfall. Es war falsch gewesen, den Numidier allein durch die Stadt laufen zu lassen! Was für Erinnerungen an Karthago würde Masinissa zurückbehalten, wenn man ihn hier wie einen Bettler hinauswarf. „Wenn du mein Freund bist", sprach Masinissa, „dann erfülle mir eine Bitte: Nachts hole ich mein Pferd, du wartest an der Mauer von Sophonisbes Haus, ich trage sie auf meinen Armen heraus und reite mit ihr davon. Niemand wird uns einholen." „Aber Sophonisbes Vater wird sich bei deinem Vater beschweren. Gula ist ein Freund Karthagos, er wird Sophonisbe zurückgeben." Masinissa schüttelte den Kopf so heftig, daß die Strähne an seinem Hinterkopf Hannibal fast ins Gesicht fegte. „Wir werden in der Steppe bleiben. Dort will ich uns ein Zelt bauen, Honig sammeln, Wildziegen und Enten jagen. Wir werden Wildbret in Hülle und Fülle besitzen. Den Fußboden und die Wände des Zeltes will ich mit Löwenfellen bedecken, um Sophonisbe vor dem kalten Wind zu schützen."  Hannibal blickte Masinissa nachdenklich an. „Hast du Sophonisbe eigentlich schon gefragt, ob sie einverstanden ist, mit dir zu fliehen?" „In meinem Lande fragt man ein Mädchen nicht nach seinem Einverständnis. Man entführt es und bezahlt seinem Vater das Lösegeld." „Aber Sophonisbe ist kein Mädchen deines Stammes. In Karthago herrschen andere Sitten. Es ist noch die Frage, ob sich Sophonisbe in deinem Zelt wohl fühlen wird, ob es ihr gefällt, sich in Tierfelle zu hüllen, Ziegenmilch zu trinken und halbrohes Fleisch zu essen. Sie ist in einem steinernen Hause aufgewachsen, sie pflegt auf einem Teppich zu schlafen, sich mit Rosenöl einzureiben, gebratenes Fleisch zu essen. Wird sie sich an die Einsamkeit gewöhnen, an das nächtliche Löwengebrüll und Schakalengeheul? Hast du dir das überlegt?" Masinissa stiegen die Tränen in die Augen. Jetzt erst begriff er, wie schlecht seine Sache stand. Plötzlich kam Hannibal ein Gedanke. Ob diese Sophonisbe vielleicht in der Lage ist, den Numidier an Karthago zu binden, ihn ebenso zu zähmen wie Richad seine Elefanten? „Laß den Kopf nicht hängen, Masinissa", sagte er. „Du hast unüberlegt gehandelt, aber ich will zu Sophonisbes Vater gehen und ihm erklären, daß es nicht in deiner Absicht lag, ihn zu beleidigen, und daß du es nur aus Unkenntnis unserer Bräuche getan hast. Wenn er ein kluger Mann ist, wird er es nicht ablehnen, mit einem numidischen König in verwandtschaftliche Beziehungen zu treten!" „Ich bin kein König!" rief Masinissa. „Aber du kannst eines Tages ein König werden. - In Karthago gibt es einen Brauch, den man Verlöbnis nennt." „Verlöbnis?" wiederholte Masinissa. „Ja, Braut und Bräutigam verloben sich im Tempel, indem sie dort Geschenke austauschen, und heiraten erst mehrere Jahre später. Ich will versuchen, von Sophonisbes Vater die Einwilligung zu einem Verlöbnis zu erhalten unter der Voraussetzung, daß die Hochzeit erst dann stattfindet, wenn du den Thron deines Vaters bestiegen hast." „Jetzt beginne ich zu begreifen, warum der Alte so böse auf mich war", sagte Masinissa leise. „Als ich ihn um die Hand seiner Tochter bat und er antwortete, ich sei noch zu jung für die Ehe und seiner Tochter nicht würdig, da zog ich den Dolch und forderte ihn zum Zweikampf heraus. Aber er befahl seinen Dienern, mich hinauszuwerfen." „Du hast deinen künftigen Schwiegervater zum Zweikampf herausgefordert?" Hannibal brach in schallendes Gelächter aus. „Bestimmt hast du ihn zu Tode erschreckt. - Überlaß die Sache mir. Du mußt nur herausfinden, wie Sophonisbes Vater heißt und wo sein Haus steht." „Dort." Der Numidier zeigte auf Magara, den schönsten Teil der Stadt. „Siehst du die weißen Türme zwischen den blühenden Bäumen rechts vom Teich?" Hannibal unterdrückte einen Aufschrei. Das war der Besitz Hannos, der Palast, dessen Bau nach Hamilkars Meinung der Republik großes Unheil zugefügt hatte. Denn während Hamilkar in Sizilien gegen die Römer kämpfte, hatte Hanno Karthagos afrikanische Besitzungen verwaltet, durch unerhörte Greueltaten, durch Raub und Mord dort viele Reichtümer zusammengerafft und sie zum Bau dieses Hauses verwendet, das die Paläste orientalischer Herrscher an Pracht noch übertraf. Es war nur verständlich gewesen, daß sich die ausgeplünderten Afrikaner den meuternden Söldnern angeschlossen hatten. „Du warst bei Hanno!" sagte Hannibal finster. „Wer konnte annehmen, daß dich die Göttin Tanit ausgerechnet zu diesem Menschen führte." „Kennst du Hanno?" forschte Masinissa. Er merkte gar nicht, wie verstört Hannibal war. „In unserer Stadt kennt jedermann Hannos Namen, obgleich nur wenige die Ehre haben, seine persönliche Bekanntschaft zu machen. Er kämpfte zusammen mit meinem Vater gegen die meuternden Söldner und übte häufig das Amt eines Suffeten aus, wie die beiden höchsten Beamten unserer Stadt genannt werden. Er ist der einflußreichste, wohlhabendste Mann von Karthago." „Eure Väter haben zusammen gekämpft!" rief Masinissa erfreut. Alles andere von Hannibals Bericht war ihm gleichgültig. „Dann wird Hanno auf dich hören. Geh nur gleich zu ihm und sage, daß ich ein Königssohn bin und ein Verlöbnis wünsche." Hannibal wurde unruhig. Er hätte dem jungen Numidier erklären können, daß Hamilkars und Hannos gemeinsamer Kampf gegen die Meuterer sie nicht zu Freunden gemacht, sondern im Gegenteil eine Kluft zwischen ihnen aufgerissen hatte, die noch tiefer war als jene, in die man nach karthagischem Brauch die zum Tode Verurteilten warf. Jeder der beiden Feldherrn schrieb die Siege in diesem Krieg sich selbst und die Niederlagen dem anderen zu. Doch wenn Masinissa begriff, daß er, Hannibal, nicht in der Lage war, ihm zu helfen, würde er dann auch keine Unbesonnenheit begehen? „Sage ihm", fuhr Masinissa fort, „daß es nicht meine Absicht war, ihn zu kränken, und daß er die Sklaven nicht bestrafen soll, denn sie haben keine Schuld." „Ich fürchte, daß ich nichts für dich tun kann, Masinissa", stieß Hannibal nach langer Pause hervor. „Es ist durchaus möglich, daß Hanno mich ebenfalls hinauswirft. Er verabscheut jeden Rat und will seine Tochter nach seinem eigenen Willen verheiraten. Überdies paßt Sophonisbe wirklich nicht zu dir. Gibt es in deinem Stamm keine schönen Mädchen?"  Der Numidier starrte Hannibal wortlos an. Er konnte nicht begreifen, was mit seinem neuen Freund geschehen war. Eben erst hatte er ihm angeboten, zu Sophonisbes Vater zu gehen, und nun versagte er ihm die Hilfe. Also war das, was seine Stammesgenossen über die Karthager sagten, keine Lüge, keine Verleumdung. Gewissenlos betrogen sie ihren Gast, ließen ihn in seinem Unglück allein! Und Hannibal machte keine Ausnahme! Masinissa drehte sich um und rannte auf den Hof, wo sein Pferd stand und sich nach der weiten Steppe sehnte. Was habe ich getan! dachte Hannibal verzweifelt. Masinissa ist eigensinnig, er wird seinen Willen durchsetzen und Hannos Schwiegersohn werden. Wie zornig wird der Vater sein! Schlecht habe ich seinen Auftrag erfüllt.  In Hannos Palast Sophonisbe saß im Innenhof des Hauses, um dessen Marmorsäulen sich Weinreben und Efeu rankten. Die Luft war erfüllt vom Duft blühender Mandel- und Apfelbäume. Als sie schnelle Schritte hörte, blickte sie auf. Auf dem mit rosigen und weißen Blütenblättern bestreuten Weg näherte sich der Vater. An seinem ungeduldigen Gesichtsausdruck erkannte sie, daß er eine Neuigkeit hatte. „Weißt du, Töchterchen, wer der freche Bengel war, den ich zum Tor hinauswerfen ließ?" fragte er atemlos.  Sophonisbe ließ ihre Handarbeit sinken. Sie war dabei, auf den dicken grünen Stoff einen Leoparden zu sticken, der durch das Röhricht schleicht. „Es war der Sohn des numidischen Königs Gula!" fuhr Hanno fort. „Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich sanfter mit ihm umgegangen. Aber schließlich stand es ihm nicht im Gesicht geschrieben, daß er ein Königssohn ist. Und was für eine Frechheit, mit dem Dolch vor meiner Nase herumzufuchteln!" Sophonisbe stieg das Blut in das weiße Gesicht. Sie senkte den Kopf, die langen Wimpern beschatteten ihre Augen. Als Hanno ihre Verwirrung sah, brach er in so fröhliches Gelächter aus, daß sein Spitzbart wackelte. „Einen hübschen Anblick würdest du als numidische Königin bieten!" spottete er. „Umringt von barfüßigen Hofdamen, die mit bemalten Straußeneiern geschmückt sind, und in einer Hauptstadt, die aus zwanzig Nomadenzelten besteht!" Sophonisbe senkte den Kopf noch tiefer. „Du brauchst keine Angst zu haben, Liebling", sagte ihr Vater zärtlich. „Ich bin nicht Hamilkar, der seine einzige Tochter mit Gulas Bruder verheiratete und sie am Tage der Hochzeit verlor. Du wirst niemals einen Ungebildeten zum Manne nehmen und das Haus verlassen müssen, in dem du zur Welt kamst und aufgewachsen bist. Zeige mir deine Stickerei, Mädchen. Was soll das werden? Ein Leopard?" „Ja, Vater. Aber ich habe noch niemals einen lebendigen Leoparden und das Röhricht gesehen. Ich war noch niemals dort, wo Masinissa zur Welt kam. Wie schön er von seiner Heimat spricht." „Du hast noch keinen lebendigen Leoparden gesehen?" fiel ihr Hanno ins Wort. „Ich werde sofort den schönsten Leoparden in einem festen Käfig aus dem Tierzwinger holen lassen. Den Käfig stellen wir dann hier im Innenhof auf." „Ich will keinen Leoparden im Käfig!" Sophonisbe warf ihre Stickerei zu Boden. „Ich werde nur noch Schwäne sticken, schwarze Schwäne. Erinnerst du dich, daß du mir zum Zeitvertreib einen Käfig mit einem Löwen herbringen ließest, als ich krank war. In der Nacht erwachte ich von entsetzlichen Schreien. Du hattest in deinem Zorn die Negersklavin Gela in den Löwenkäfig werfen lassen. Wessen sie sich schuldig gemacht hatte, weiß ich noch immer nicht. Aber ich will niemals mehr einen Raubtierkäfig im Hause haben." Hanno wurde etwas verlegen. Er hatte geglaubt, seine Tochter hätte die freche Sklavin, die es gewagt hatte, sich ihm zu widersetzen, schon längst vergessen. Ein Sklavenbesitzer konnte doch mit seinen Sklaven machen, was er wollte, das tat jeder. „Reg dich nicht auf, Liebling", sagte er. „Wenn du keinen gefangenen Leoparden sehen willst, werde ich ihn dir in Freiheit zeigen, mitten im Röhricht. Wir fahren nach Numidien. Aber nicht in Gulas Gebiet, sondern in die Stadt Cirta zum numidischen König Syphax. Gula ist ein Freund Hamilkars, und du weißt, wie ich zu diesem Mann stehe." „Vater", sagte Sophonisbe zaghaft, „alle Leute sagen, Hamilkar habe das Vaterland gerettet, sei ein großer Feldherr und habe nun auch Iberien erobert." „Alle Leute sagen das?" Hanno lächelte. „Sie sehen nicht weiter als bis zu ihrer ausgestreckten Hand. Die Stadträte von Karthago lieben es, kostbare Geschenke zu erhalten, mit denen Hamilkar nicht geizt, zumal es in Iberien viel Silber gibt. Und das einfache Volk liebt prunkvolle Schauspiele, wie das Eintreffen von Elefanten und die Verabschiedung des Heeres, besonders dann, wenn diese Schauspiele mit unentgeltlicher Bewirtung verbunden sind. Aber glaube mir, für all das werden wir einen hohen Preis bezahlen müssen. Wie schnell vergessen die Menschen ihre früheren Fehler! Der Krieg mit Rom hat uns nichts gelehrt. Und Hamilkar führt Karthago einem neuen, noch entsetzlicheren Krieg entgegen!" Sophonisbe nahm ihre Stickerei wieder in die Hand. Flink glitt die Nadel mit dem goldenen Faden hin und her. Was kümmerte sie die Feindschaft zwischen ihrem Vater und Hamilkar! Ihr Herz war in weiter Ferne, in jenem märchenhaften Land, wo das Gras bis zu den Knien reicht, wo es himmelblaue Seen gibt, von Götterhand erschaffen. Dort schwimmen keine Schwäne mit beschnittenen Flügeln wie in den karthagischen Teichen, sondern zauberhafte rosenrote Vögel; dort schleichen Leoparden durch das hohe Röhricht, dort trompeten die Elefanten, den Rüssel gegen den Himmel gereckt. In jenem fernen Lande, von dem Masinissa erzählt hatte, weilte Sophonisbes Herz.  Hamilkars Tod Hamilkar starb einen qualvoll langsamen Tod. Ein Speer war ihm in die Brust gedrungen und hatte einen Lungenflügel durchstoßen. An seinem Sterbelager drängten sich Tag und Nacht die Priester - karthagische, numidische, gallische und griechische. Jede Abteilung des aus vielen Völkerstämmen bestehenden Heeres besaß eigene Waffen, eigene Sitten, eine eigene Sprache. Und obendrein eigene Priester, die samt und sonders als heilkundig galten. Sie boten dem verwundeten Feldherrn eifrig ihre Dienste an, und er ließ alles geduldig über sich ergehen. In die erkaltenden Hände nahm er Seeschwämme, die nach Ansicht der Griechen die Schmerzen lindern sollten, er schluckte Arzneien, die bitter waren wie Steppenwermut oder süß wie Dattelhonig, er wiederholte in vielen Sprachen Beschwörungen und Gebete. Sein Zelt erzitterte vom Krachen der Eisenschilde und vom gellenden Klang der Hörner, als die eigens zu diesem Zweck aus Gallien herbeigeholten schrift- und heilkundigen Priester die bösen Geister austrieben. Die karthagischen Priester brachten ihren grausamen Göttern sieben Jünglinge zum Opfer, sieben Leben als Ersatz für das eine des Feldherrn. Das müßte doch ausreichen! Aber alles war vergebens. Am Zelteingang stand der Tod, unentrinnbar wie die Nacht. Als Hamilkar das erkannte, warf er die Priester hinaus. Nur Hasdrubal, der Greis, blieb bei dem Sterbenden. Ihm allein konnte Hamilkar das Heer anvertrauen. Ihn beauftragte er auch mit dem Krieg gegen das verhaßte Rom. Die Söhne waren noch zu jung. Selbst Hannibal war erst siebzehn. Die jungen Löwen brauchten noch eine feste Hand. „Sei ihnen ein Vater", flüsterte der Sterbende. „Sende sie in den Kampf, dorthin, wo das Getümmel am dichtesten ist. Verweichliche sie nicht, laß sie das Leben einfacher Krieger führen. Der Würdigste soll Feldherr werden." Dann begann er zu phantasieren, flehte, befahl. Als er wieder zu Bewußtsein kam, hob er mühsam den Kopf. Vor ihm knieten seine beiden jüngeren Söhne, blaß, verstört. Sein Blick suchte Hannibal. „Er ist schon auf dem Wege hierher", flüsterte Hasdrubal. „Die Elefanten!" stieß der sterbende Feldherr hervor. „Die Elefanten sollen Rom zertreten! Hört ihr, junge Löwen?" Sein Haupt sank auf das Kissen zurück.  Trauer Karthago trauerte. Die Menschen gingen in schwarzen Gewändern und hatten ihr Haar mit Asche bestreut. Viele glaubten, daß Hamilkars Tod der Wiedergeburt ihrer Heimat ein Ende setzen und daß die mit soviel Mühe und so gewaltigen Verlusten geschaffene iberische Armee sich unverzüglich auflösen würde, denn wem sollten sich die Söldner nun unterordnen? Doch nicht Hasdrubal, der weder Hamilkars Kriegserfahrung noch seinen Ruhm besaß? Und schon gar nicht dem Grünschnabel Hannibal! Die Nachricht von Hamilkars Tod erschütterte Hannibal zutiefst. Der Vater hatte gesagt, daß sie sich für lange Zeit trennen müßten, und nun hatten sie sich für immer getrennt. Er konnte sich kaum vorstellen, daß dieser kraftvolle Mann, der einzige Mensch, der ihm wirklich nahegestanden hatte, nicht mehr am Leben war. Wem sollte er jetzt von seinem Mißerfolg mit Masinissa berichten? Wer würde ihn von seinen Sorgen und Zweifeln befreien? Erst jetzt erkannte Hannibal, was sein Vater für die Republik gewesen war. Er wurde von Stolz und Trauer hin und her gerissen, wenn ihm unbekannte Männer Worte des Mitgefühls sagten. Einige hatten unter seinem Vater in Sizilien gekämpft, andere hatte er vor den aufständischen Sklaven und Söldnern gerettet, und alle sprachen von ihm wie von einem Vater. Hannibals Kummer wurde noch größer, als er erfuhr, was sich im Großen Rat zugetragen hatte. Hanno und seine Anhänger waren zur Trauersitzung in weißen Gewändern erschienen, als wäre der Tod des großen Feldherrn für sie ein Freudentag. Stehend hörten die Stadträte die Rede des Suffeten Bomilkar über die Verdienste des Feldherrn Hamilkar an. Aber dann nahm Hanno das Wort. „Über das, was vergangen ist, sind jetzt genügend Worte verloren worden!" begann er scharf. „Denken wir an die Zukunft. Hamilkar hat uns ein Erbe hinterlassen - die iberische Armee mit seinem Neffen Hasdrubal an der Spitze. Das ist gleichbedeutend mit einem neuen Krieg, und die Götter mögen wissen, was er uns diesmal kosten wird. Nur die Auflösung der Armee wäre Karthagos Rettung. Und der junge Hannibal, der von Hasdrubal nach Iberien befohlen wurde, müßte hier zurückgehalten werden. Laßt ihn fern vom Heer leben, dem Großen Rat Karthagos und den Gesetzen Untertan." Von seinen Freunden gewarnt, ritt Hannibal auf dem kürzesten Wege zum Hafen von Utica. Dort konnte er am schnellsten ein Schiff finden. Und dort wurde er auch von Masinissa erwartet. Masinissas Pferd, von dem er sich niemals trennte, war mit Schaumflocken bedeckt. Offensichtlich hatte Masinissa es ebenfalls eilig gehabt. Er hielt eine Schriftrolle mit dem Königssiegel in der Hand. „Mein Vater befahl mir, dir dies zu übergeben." Er hielt Hannibal die Schriftrolle hin. „Er weiß schon vom Tode Hamilkars und trauert mit dir." „Und wie steht es mit Sophonisbe?" fragte Hannibal und schob die Schriftrolle in sein Gewand. „Weshalb hast du mir nicht gleich die ganze Wahrheit gesagt?" fragte Masinissa vorwurfsvoll zurück. „Auch mein Vater will von diesem Verlöbnis nichts wissen. Er wird niemals zulassen, daß der Feind deines Vaters mein Schwiegervater wird." „Ich konnte es dir damals nicht erklären, du warst allzu erregt. Sophonisbe hat keine Schuld, daß Hanno ihr Vater ist, aber Gula hat recht, wenn er sich weigert, deine Bitte zu erfüllen." „Nein, er hat unrecht, unrecht!" rief Masinissa. „Was geht mich die Feindschaft eurer Väter an? Dein Vater - mögen ihm die Götter der Unterwelt gnädig sein - ging in jenes Land, aus dem es keine Rückkehr gibt. Und mit ihm ging die Feindschaft. Die Schatten sollen den Lebenden nicht den Weg versperren." „Aber Hanno ist kein Schatten!" seufzte Hannibal. „Gestern hat er im Großen Rat gefordert, daß ich hier zurückgehalten werde. Er ist mein Feind." „Na, wennschon!" Masinissa blickte an Hannibal vorbei. „Trotzdem werde ich Sophonisbe entführen. Unsere Spur wird sich im Gras verlieren, und eure Feindschaft wird uns nicht erreichen. Das kann niemand verhindern, auch mein Vater nicht." Er rannte zu seinem Pferd und sprang hinauf. Hannibal blickte ihm lange nach. Das ist das Ende unserer Freundschaft! dachte er. Die zufällige Begegnung mit einem fremden Mädchen vor dem Tempel der Göttin Tanit machte all meine Pläne zunichte. Wie mächtig muß die Liebe sein, da sie doch Freunde entzweit und Väter und Söhne zu Feinden macht! Und ich? Werde ich jemals ein Mädchen wie Sophonisbe finden? Oder hat Tanit, die Göttin der Liebe, keine Macht über mich? Werde ich gelenkt von den Göttern des Krieges, denen mich mein Vater weihte? An Deck des Schiffes erbrach Hannibal das Siegel und las den Brief. Gula bat ihn, Masinissa mit sich nach Iberien zu nehmen. „Der eigensinnige Junge hat sich das Verlöbnis mit Hannos Tochter in den Kopf gesetzt", schrieb Gula. „In den Schlachten gegen die Völker, die meine und deines Vaters Feinde sind, wird er begreifen, wo die wirkliche Bestimmung und das Glück des Mannes liegen." Hannibal trat an die Reling. Das Schiff fuhr gerade aus der Bucht. Der davongaloppierende Reiter hatte sich schon in einen kaum erkennbaren Punkt verwandelt. Gula kennt seinen Sohn schlecht, sagte sich Hannibal. Masinissa braucht keine Belehrungen, er hat seine eigenen Vorstellungen vom Glück des Mannes. Er wird zugrunde gehen oder sein Ziel erreichen. Eine harte Schule Greis erfüllte den Letzten Willen Hamilkars gewissenhaft. Hannibal diente als Gemeiner im Heer. Seite an Seite mit den anderen Kriegern ertrug er Hitze und Kälte. Er führte jeden Befehl seiner Vorgesetzten aus, ging auf Erkundung, stürzte sich als erster in die Schlacht und verließ sie als letzter. Magarbal betrachtete ihn schon lange als den besten Reiter im Heer, und die balearischen Schleuderer wußten, daß er besser als mancher von ihnen mit der Wurfschleuder umgehen konnte. Er trug die Kleidung eines einfachen Kriegers und schlief auf der bloßen Erde, in seinen Umhang gehüllt. Er sprach nicht nur griechisch, sondern konnte sich auch fließend numidisch, gallisch und iberisch verständigen. Diese Sprachkenntnisse verschafften ihm unter den verschiedenen Völkerstämmen des Heeres die höchste Achtung. Hannibal unterschied sich grundlegend von den anderen Karthagern, die sich nur durch Dolmetscher mit den Söldnern verständigen konnten. Überdies war er freundlich zu jedermann und kannte keinen Standesdünkel. Über seine Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Vater staunte jeder. Er hatte das gleiche Kinn, den gleichen schwarzgelockten Bart und die gleichen gebieterischen Augen. Hamilkar schien wieder auferstanden zu sein. In der Regenzeit kehrte das Heer, durch die Gefechte mit den Iberern erschöpft und gelichtet, nach Neu-Karthago zurück. Diese Stadt lag auf einem schmalen, weit ins Meer vorspringenden Kap im Süden von Iberien. Hasdrubal, der Greis, hatte sie in erstaunlicher Geschwindigkeit errichten lassen. Unzählige Sklaven, die in Kämpfen gegen die Iberer erbeutet oder in Karthago, Utica und Cädiz gekauft worden waren, bauten hohe Paläste und Tempel, pflasterten die Straßen und errichteten eine Festungsmauer quer über die Landenge. Dadurch wurde die neue Stadt zu einer uneinnehmbaren Festung. In dem Bestreben, Karthago in jeder Beziehung zu übertrumpfen, ließ Hasdrubal von den iberischen Stämmen, die ihm tributpflichtig waren, große Apfel-, Birn- und Feigenbäume ausgraben und sie an Stelle von Silber und Sklaven - den sonstigen Formen des Tributs - nach Neu-Karthago bringen. Viele Iberer hielten diesen Befehl für sonderbar, aber sie führten ihn gewissenhaft aus, denn sie wußten, welche Folgen ein Ungehorsam nach sich ziehen würde. Auf diese Weise schmückte sich die Stadt innerhalb eines einzigen Jahres mit Parks und Gärten. Auch Teiche ließ Hasdrubal anlegen, auf deren spiegelglatter Wasserfläche weiße und schwarze Schwäne schwammen. Es war die märchenhafte Verwandlung einer steinigen Halbinsel in ein Paradies. Hannibal wohnte in Hasdrubals kostbarem Palast. Das Dach war mit zentnerschweren Silberplatten gedeckt. Wände und Treppen bestanden aus Ebenholz, das mit Schiffen aus Afrika herbeigeholt worden war. Die Karthager bestaunten den märchenhaften Luxus des Palastes, aber ebensosehr wunderten sie sich, daß Hannibal so freundschaftliche Beziehungen zu Hasdrubal unterhielt. Denn eigentlich hätte er doch sein erbittertster Feind sein müssen, weil nicht er, der Sohn, Hamilkars Erbe angetreten hatte, sondern Greis. Hasdrubal besaß den Oberbefehl über das Heer und alle Schätze Iberiens, und Hannibal war leer ausgegangen. Seit Jahren diente er als gemeiner Krieger im Heer, und auch in Hasdrubals Palast bewohnte er nur eine winzige Kammer, die für einen Sklaven angemessener gewesen wäre als für Hamilkars Sohn. Sie war so klein, daß keine Lagerstatt darin Platz fand, so daß Hannibal auf dem Boden schlafen mußte. Die ganze Ausstattung bestand aus Waffen, die an den Wänden hingen. Das war kaum zu glauben und kaum zu begreifen. Aber Hannibal empfand gegenüber Greis weder Neid noch Mißgunst, weil er wußte, daß dieser nur Hamilkars Letzten Willen erfüllte. Zudem erkannte er, daß das Werk seines Vaters von starken, zuverlässigen Händen weitergeführt wurde. Wäre Hamilkar noch am Leben, dann hätte er wohl kaum mehr erreicht. Greis hatte das gesamte östliche Ufer Iberiens bis zum Ebro mit Ausnahme der Stadt Sagunt erobert und in der Nähe von Neu-Karthago reiche Silberbergwerke erschlossen. Von vielen iberischen Stämmen erhielt er Tributzahlungen. Diejenigen Karthager, die durch den Handel mit Silber und Sklaven reiche Leute geworden waren, rühmten Hasdrubal in den höchsten Tönen und unterstützten ihn im Großen Rat. Die Römer schlossen mit ihm ein Abkommen, worin sie seine Eroberungen in Iberien anerkannten und nur verlangten, daß er die Stadt Sagunt ungeschoren ließ.  Hasdrubals Hochzeitsfest Noch niemals war Hasdrubals Palast von einer so festlich erregten, bunten Menge erfüllt gewesen. Neben dem karthagischen Ratsherrn mit dem knöchellangen Gewand und den Goldringen an Fingern und Ohren ging ein iberischer Söldner in Rüstung mit dem Krummschwert im Gürtel oder dem Dolch im Ledergehänge. Über die kostbaren Teppiche schritten würdevoll die Frauen und Töchter der iberischen Könige. Sie trugen Lederdiademe mit eingesetzten Silbervierecken, Bronzeketten mit Amuletten und hatten zinnoberrot geschminkte Wangen. Auch Ehefrauen der karthagischen Offiziere waren zugegen; sie trugen Goldreifen an Hand- und Fußgelenken und hatten sich Saphire und Smaragde ins Haar gesteckt. In ihr kostbares arabisches Parfüm mischte sich der Gestank von Delphintalg, der bei den Iberern als heilkräftig galt. Und wie verschiedenartig waren die Speisen, die auf der Tafel standen! Neben den eigens aus Karthago beschafften Goldpokalen mit dem dünnen Fuß, aus denen der Sage nach schon die Königin Dido getrunken haben sollte, standen iberische Weinschalen, bemalt mit Menschen- und Tierfiguren oder mit gelben, orangefarbenen und weißen Linien. Zum gebratenen Hundefleisch, ohne das ein karthagisches Festessen nicht denkbar war, wurden einfache Gerstenfladen gereicht - die Nahrung der iberischen Hirten. Es war eine Mischung aus karthagischer und iberischer Welt - das Ergebnis von Hasdrubals politischer Weisheit. Hannibal fiel ein, als Junge gelesen zu haben, daß Alexander ein ähnliches Fest in Babylon veranstaltet hatte. Auch Alexander wußte, daß er nur dann seine Herrschaft über das riesengroße persische Reich nicht verlieren würde, wenn er die persischen Sitten und Gebräuche beachtete. So hatte er an einem einzigen Tage zehntausend seiner Krieger mit den Töchtern des persischen Adels verheiratet und sich selbst mit der persischen Königstochter Roxane vermählt. Hannibal wußte nicht, ob Hasdrubal diese Geschichte kannte, jedenfalls tat er das gleiche wie Alexander. Er heiratete Regile, die achtzehnjährige Tochter eines iberischen Königs. Sie saß an der Hochzeitstafel neben ihm. Hannibal betrachtete ihr kreideweißes Gesicht und ihr weißes Brautgewand, das über der Brust mit einer schweren Silbernadel zusammengehalten wurde, und dachte an Masinissa und seine Liebe zu Sophonisbe. Mit welcher Leidenschaft hatte der Numidier von dem Mädchen gesprochen, das er erst wenige Stunden kannte! Hasdrubal dagegen hatte sich schon seit einem Jahr auf die Hochzeit vorbereitet und häufig mit Hannibal über die Vorteile dieser Heirat geredet. Doch keinmal hatte er ihm geschildert, was für Augen die Braut hatte, wie ihre Stimme klang und wie sie gekleidet war. Erst jetzt entdeckte Hannibal, daß die Braut blaue Augen hatte; aber sie waren gerötet, und in der Zinnoberschminke, die ihre Wangen bedeckte, hatten die Tränen weiße Rinnsale gebildet. Nahezu alle Hochzeitsgäste wußten, daß ihr Vater sie an Stelle des Jahrestributs an Hasdrubal verschachert hatte und daß sie den jungen Iberer Wlamun liebte, dem sie seit ihrer Kindheit versprochen war. Aber bei den Gästen schlug die Festfreude hohe Wogen. Karthagische, sizilianische und gallische Weine flössen in Strömen. Die berauschten karthagischen Offiziere schworen ihren iberischen Zechgenossen und ehemaligen Feinden in gebrochenem Iberisch ewige Freundschaft und schlossen sie zärtlich in die Arme. Plötzlich ertönten iberische Hörner, Knochenklappern rasselten, und drei iberische Krieger sprangen in den Saal. Sie trugen Masken vor dem Gesicht und hielten funkelnde Dolche in der Hand. „Ein Waffentanz, ein Waffentanz!" riefen die Gäste entzückt, sprangen von den Plätzen und klatschten im Takt. Auch Hasdrubal erhob sich, eine iberische Weinschale in der Hand. Doch da wurde die Musik von einem Schrei des Entsetzens übertönt. Ein Tänzer hatte sich auf Hasdrubal gestürzt und ihm den Dolch bis zum Griff in die Brust gebohrt. Hasdrubal stürzte tot zu Boden. Der Mörder blieb vor ihm stehen, die Arme über der Brust verschränkt. Die Maske war ihm vom Gesicht gefallen. Er lächelte. Sein entschlossenes gebräuntes Antlitz verriet weder Angst noch Verwirrung.  Mit ausgestreckten Armen taumelte die Braut auf ihn zu. „Wlamun!" stammelte sie. „Wlamun!" Keiner der Gäste rührte sich. Niemand stürzte sich auf den Mörder, um ihn zu packen, ihm die Hände zu binden, ihm das Lächeln aus dem Gesicht zu prügeln. Hannibal spürte, daß sich alle Blicke auf ihn richteten. Der Dolchstoß setzte einen blutigen Punkt unter die Herrschaft Hasdrubals, mochten ihm die Götter der Unterwelt gnädig sein! Jetzt ging die gesamte Macht über das Heer, über das eroberte Land und - welch bedrückender Gedanke! - auch über das Schicksal des Vaterlandes auf ihn, Hannibal, über. Er duckte den Kopf, als legte sich eine unsichtbare Last auf seine Schultern.  Belagerung von Sagunt Die iberische Stadt Sagunt führte ein friedliches Leben. In den Gärten vor der Stadt reiften gelbe Birnen und rote Granatäpfel, und die Bauern pflückten die reiche Ernte in große Körbe. Im Handwerkerviertel drehten sich von früh bis spät lautlos die Töpferscheiben. Fleißige Hände formten den berühmten saguntinischen Ton, der leichter ist als Wasser. Das in unterirdischen Töpferöfen gebrannte Geschirr hatte einen rostbraunen Schimmer, der überall dort hoch geschätzt wurde, wo man von Tongeschirr etwas verstand. Die Fischer brachten in Schilfkörben die Gaben des Meeres auf den Markt - Fische mit Glotzaugen und große Hummer, deren Schnurrbarthaare und Kneifzangen zuckten. Die reichen saguntinischen Kaufleute saßen am Marktplatz in den Schenken und verpraßten ihren Gewinn. Kleine Jungen spielten auf der Straße. Im Morgengrauen, zur Stunde des Hahnenschreis, näherte sich Hannibal der Stadt. Nur wenigen Einwohnern der umliegenden Dörfer gelang es, sich hinter die Stadtmauer zu retten. Die Posten auf den Wachtürmen sahen ohnmächtig zu, wie die karthagischen Söldner in die Vororte strömten, die Häuser plünderten, das Vieh davontrieben, die weinenden Frauen und die verzweifelt schreienden Männer in die Sklaverei verschleppten. Die Stadtältesten riefen das Volk zum Widerstand auf. Die Schmiede, die bisher Sensen und Sicheln angefertigt hatten, konstruierten jetzt Armbrüste und Schleuderwaffen. Die Maurer reparierten die schadhaften Stellen in der Stadtmauer. Auch die Kinder waren nicht müßig. Sie brachten den Kämpfern Pfeile auf die Stadtmauer, hielten die offenen Feuer in Gang, über denen Wasser erhitzt wurde, und schleppten Steine zu den Wurfgeschützen. Da es Hannibal nicht gelungen war, die Saguntiner zu überrumpeln, belagerte er sie. Er haßte die Stadt, weil sie mit Rom verbündet war, und er hatte das Gefühl, daß ihre Mauern ihm den Weg nach Rom versperrten. Sagunt war in Form eines schiefen Rechtecks erbaut, dessen südliche Spitze in eine weite Ebene vorstieß. An dieser Stelle ließ Hannibal einen vielstöckigen wandelnden Turm errichten. Die dem Gegner zugewandte Seite hatte in jedem Stockwerk Schießlöcher, durch die man mit kleinen Wurfgeschützen Steine und Pfeile schleuderte. Um den Turm an die Stadtmauer heranrollen zu können, mußte der Boden vorher eingeebnet und festgestampft werden. Nach Hannibals Berechnung konnte diese Arbeit höchstens zwei Wochen dauern. Aber die belagerten Saguntiner verhinderten das. Nachts überfielen mutige saguntinische Jünglinge die karthagischen Wachposten, tagsüber prasselten ständig Steine und Pfeile auf die Rollbahn vor dem Turm herab. Da die Karthager ihre großen Wurfgeschütze noch nicht aufgestellt hatten, fühlten sich die Saguntiner so sicher, daß sie auf die Stadtmauer kletterten und von dort aus die Karthager beschimpften. Oder sie steckten Zettel auf ihre Pfeile und schossen sie zu den Belagerern hinüber. „Ihr karthagischen Esel habt euch eine Beute ausgesucht, die euch im Rachen steckenbleiben wird, so daß ihr daran erstickt!" las Hannibal auf einem Zettel. Ein Saguntiner, der einen dunkelblauen Umhang trug, hielt sich ein Metallrohr an den Mund, das seine Stimme verstärkte, und überschüttete Hannibal von der Stadtmauer herab stundenlang mit den unflätigsten Schimpfworten. Schließlich riß Hannibal die Geduld. „Ruft Tirnes her!" befahl er. Tirnes, der Kommandeur der balearischen Söldner, erschien unverzüglich. Über Schultern und Brust trug er ein Schaffell. An seinem breiten Ledergürtel hing ein mit Steinen gefülltes Ledersäckchen. „Siehst du dort den Schreihals im dunkelblauen Umhang?" fragte der Feldherr. „Triff ihn!" Ruhig nahm Tirnes das Schaffell von den Schultern und warf es zu Boden. Er trug drei schwarze Schnüre verschiedener Länge um den Hals. Prüfend blickte er zur Stadtmauer hinüber, wählte dann die mittlere Schnur, holte einen feigengroßen Stein aus seinem Säckchen, legte ihn in die Schlinge der Schnur und holte aus. Der Stein pfiff durch die Luft und fegte den Mann im dunkelblauen Umhang von der Mauer. In das Triumphgeschrei der karthagischen Söldner mischten sich die Schreckensrufe der Belagerten. Tirnes hob inzwischen gelassen das Schaffell auf und legte es sich wieder um die Schultern. „Ich wollte schon lange wissen, welcher Gott dich deine Kunst gelehrt hat!" sagte Hannibal. „Der Gott des Hungers", gab Tirnes zur Antwort. „Als ich ein Knabe war, legte der Vater einen Fladen auf die Erde und gab ihn mir erst, nachdem ich ihn mit der Wurfschleuder getroffen hatte." „Lebt dein Vater noch?"  „Ja, er geht noch auf die Ziegenjagd."  „Dann übersende ihm dies." Hannibal gab dem balearischen Schleuderer einen Silberbarren. „Sage ihm, das Silber sendet ihm der Gott des Krieges zum Lohn dafür, daß er einen so treffsicheren Schützen erzogen hat." Hannibal dachte noch lange über Tirnes' Worte nach. Der Gott des Hungers - besser kann man es nicht ausdrücken! Er trieb all diese Gallier, Balearen, Iberer in mein Heer. Was geht Karthago sie an? Sie sind Söldner und werden mir nur so lange die Treue halten, wie sie sich satt essen und Silberstücke in den Beutel stecken können. Auf dieses Silber warten ihre alternden Väter, ihre jungen Bräute, ihre Ehefrauen. Sein Klang ruft sie lauter als jedes Hornsignal zum Sturm auf die feindlichen Mauern und zwingt sie, Schmerzen und Erschöpfung zu ertragen.  Die römische Abordnung Besorgt beobachteten die Römer die Ereignisse in Iberien, ohne daß sie in der Lage gewesen wären, sich in die iberischen Angelegenheiten einzumischen, denn ihre Streitkräfte waren durch Gefechte auf dem Adriatischen Meer gebunden. Selbst als Hannibal das mit ihnen befreundete Sagunt in der eindeutigen Absicht überfiel, einen Krieg vom Zaun zu brechen, entschlossen sie sich nur, eine Abordnung zu ihm zu schicken. Geleitet wurde die Abordnung von dem Senator Valerius Flaccus. Er hatte den Auftrag, Hannibal an den Vertrag zu erinnern, den Rom mit seinem Vorgänger Hasdrubal geschlossen hatte, und mit einer Kriegserklärung zu drohen, falls Hannibal Sagunt nicht in Ruhe ließ. Zwei Wochen brauchte Valerius Flaccus für die Fahrt von der römischen Hafenstadt Ostia zu der iberischen Hafenstadt Tarragona, zwei weitere Wochen für die Reise von Tarragona nach Sagunt. Da Sagunt eine halbe Meile vom Meer entfernt lag, wußten die Belagerten nichts vom Eintreffen der römischen Abordnung, die ja ohne Einverständnis der Karthager nicht in die Stadt gelangen und die Saguntiner in ihrem Kampfeswillen bestärken konnte. Als die Römer landeten, war Hannibal gerade mit der Aufstellung von Rammbalken beschäftigt. Das waren lange dicke Balken, die mit Ketten an der Oberseite fester Holzrahmen hingen. Ihre eisenbeschlagenen Spitzen hatten die Form eines Hammelkopfes. Darüber war ein hölzernes Schutzdach angebracht, mit angefeuchteten Ochsenhäuten bezogen. Hannibal lächelte spöttisch, als man ihm die Ankunft der Römer meldete. „Bestelle ihnen", trug er seinem Bruder Magon auf, „daß ich augenblicklich außerstande bin, sie zu empfangen. Unsere Feinde machen überraschende Ausfälle aus der Stadt, und dabei könnte die Abordnung unter Umständen verwundet oder gar getötet werden. Die Sicherheit des ehrenwerten Senators Valerius Flaccus geht mir über alles. Deshalb möge er das Ende der Belagerung abwarten." Nach kurzer Zeit kam Magon zurück. „Valerius Flaccus platzte fast vor Wut, als ich ihm deine Worte ausrichtete. ,Dann werde ich in Karthago Gerechtigkeit suchen!' schrie er. Jetzt hat Hannibal keine Zeit, mich zu empfangen, aber er wird sie im Überfluß haben, wenn ich ihn in Ketten nach Italien führe!'" Hannibal strich sich nachdenklich den Bart. „Bruder", sagte er dann, „du wirst nach Karthago reisen müssen. Falls sich die Römer im Großen Rat beschweren, werden sie bei Hanno und seinen Speichelleckern Verständnis finden. Wir müssen unsere karthagischen Freunde rechtzeitig vom Eintreffen der römischen Abordnung informieren. Und hiermit sollst du uns die Herzen der Schwankenden geneigt machen." Er zeigte auf die Ledersäcke, die in einer Ecke des Zeltes lagen. „Was ist darin?" fragte Magon. „Silber. Hast du noch nicht bemerkt, daß die Waage so lange schwankt, bis man ein Gewicht auf eine der beiden Schalen legt? Silber wiegt schwerer als alle Zweifel, das sagte schon unser toter Vetter Hasdrubal. Aber du mußt früher in Karthago sein als die Römer. Auf dem Rückweg machst du dann Gula einen Besuch. Er soll uns tausend Reiter senden und mit ihnen Masinissa." Einen Tag vor den Römern kam Magon in Karthago an. Es gelang ihm, noch rechtzeitig mit Hannibals Freunden zu sprechen und unter denjenigen, die sich bisher weder Hannibal noch Hanno angeschlossen hatten, Geschenke zu verteilen. Valerius Flaccus wurde im Großen Rat mit feindseligem Schweigen angehört. Nur Hanno stellte sich auf seine Seite. „Hannibal ist eine Gefahr für Karthago!" rief er. „Der Sohn strebt genauso nach der Alleinherrschaft wie einst sein Vater! Es ist empörend, daß sich Hannibal geweigert hat, die Abgesandten des römischen Volkes zu empfangen, die gekommen sind, um für ihre Bundesgenossen einzustehen! Hannibals Überfall auf Sagunt ist ein Anschlag auf die Mauern Karthagos!" Magon sah, daß die Ratsherren ablehnende Gesichter machten. Manche tauschten sogar spöttische Blicke. Hanno aber bemerkte das nicht. Seine Stimme war schrill vor Haß. Mit geröteten Augen forderte er, Roms Wunsch unverzüglich zu erfüllen, das Heer von Sagunt abzuziehen, Hannibal den Römern auszuliefern und die Saguntiner zu entschädigen. Allgemeines Gemurre war die Antwort. Viele Ratsherren sprangen von den Plätzen. „Schmach und Schande!" riefen sie. „Du Verräter! Wieviel haben dir die Römer für diese Rede bezahlt?" Erstaunt erkannte Magon, daß diejenigen, denen er am Abend zuvor Hannibals Geschenke ausgehändigt hatte, am lautesten schrien. Ja, der Bruder hat recht! dachte er. Silber hat auf der Waagschale ein schweres Gewicht!  Sagunt fällt Nachts brachten die Posten einen Überläufer. Das zuckende Fackellicht fiel auf ein Leinenwams, Leinenhosen und Sandalen, deren weißgegerbte Lederriemen bis zu den Knien hochgebunden waren. Auf dem Kopf trug der Saguntiner einen Helm aus Eisenringen mit drei Kämmen - dem Wahrzeichen der adligen Iberer. „Wer bist du?" fragte Hannibal. „Man nennt mich Alkon", stieß der Saguntiner hastig hervor. „Ich bin allein gekommen, niemand weiß, daß ich hier bin." „Was willst du?" „Gnade im Namen der Götter. Die Straßen der Stadt liegen voller Leichen. Frauen und Kinder sterben vor Hunger. Das Volk will nichts von Unterhandlungen hören. Doch die wahren Patrioten dürsten nach Frieden." „Du hast gut daran getan zu kommen", erwiderte Hannibal sanft. „Aber du hättest früher kommen müssen. Der Krieg hat mir viel Zeit geraubt, dafür muß Sagunt zahlen. Du kannst deinen Mitbürgern meine Friedensbedingungen ausrichten. Höre zu! Ihr übergebt uns alle Waffen, alles Gold und Silber, das ihr besitzt, und verlaßt mit leeren Händen die Stadt. Ich werde euch einen Ort zuweisen, wo ihr euch ansiedeln dürft." Alkon taumelte zurück. „Weshalb antwortest du nicht?" höhnte Hannibal. „Bin ich nicht gnädig? Was wollt ihr mit diesen Trümmern anfangen?" Er zeigte auf die mondbeschienenen Ruinen der Stadtmauern und Wachtürme. „Mögen hier nur noch Wölfe und Schlangen hausen." „Töte mich, Hannibal!" antwortete Alkon entschlossen. „Jeder, der es wagen würde, den Saguntinern solche Bedingungen zu überbringen, würde hingerichtet werden. Und ich will lieber durch die Hand des Feindes sterben als durch die meiner Mitbürger." „Glaube ihm nicht, er ist ein Feigling!" rief eine Stimme dazwischen. Aus der Menge, die den Überläufer umringte, trat ein Krieger, der einen Lederhelm auf dem Kopf trug. Hannibal wußte, daß er. Alorkes hieß und schon unter seinem Vater eine Abteilung von iberischen Reitern befehligt hatte. „Die Saguntiner kennen mich", fuhr Alorkes fort. „Unsere beiden Stämme sind durch die Bande alter Gastfreundschaft miteinander verknüpft. Und wenn Alkon den Zorn seiner Mitbürger fürchtet, dann wähle mich zu deinem Mittelsmann. Ich werde den Belagerten deine Bedingungen überbringen." Am nächsten Morgen ging ein Mann mit einem Olivenzweig in der Hand auf das saguntinische Stadttor zu. Es war Alorkes. Die Wachen ließen ihn ein und verbanden ihm wortlos die Augen. Dann mußte er einen langen Weg zurücklegen, anscheinend wurde er durch sämtliche Straßen der Stadt geführt. Hinter sich hörte er ein ständig anschwellendes Geräusch von Schritten, aber keine einzige menschliche Stimme. Die Saguntiner verließen ihre Häuser und folgten dem Mann mit den verbundenen Augen schweigend, als wäre er die Verkörperung des blinden Schicksals. Endlich legte ihm jemand die Hand auf die Schulter. Er blieb stehen. Die Binde wurde ihm von den Augen genommen. Vor ihm lag der Stadtplatz, auf dem dicht an dicht die Saguntiner standen. Viele hundert schwarz umrandete Augen waren auf ihn gerichtet. Alorkes drehte sich zu den Stadtältesten um und richtete ihnen Hannibals Bedingungen aus. Jedes seiner Worte war auf dem Platz zu hören. Danach gingen die Saguntiner auseinander, kamen aber bald wieder zurück, Brennholz und Reisig in den Händen, das sie auf dem Stadtplatz zu einem hohen Scheiterhaufen auftürmten. Einer hielt die Fackel an den Scheiterhaufen, und als er in hellen Flammen stand, sprangen die Menschen hinein - einzeln, die Eheleute zu zweit. Viele trugen ihre kleinen Kinder auf dem Arm. Andere zerrissen sich die Kleider und erstachen sich. Alorkes hielt sich die Augen zu, geschüttelt von Grauen. Inzwischen setzten die Karthager zum Sturm an, ohne seine Rückkehr abzuwarten. Sie stießen auf keinen Widerstand. Die Straßen waren leer bis auf die Leichen. Die Saguntiner hatten den Tod der Sklaverei vorgezogen.  Bericht eines entflohenen Sklaven Nach der Einnahme von Sagunt begab sich Hannibal nach Neu-Karthago, wo er die Beute unter seinen Kriegern verteilte und die Boten empfing, die er nach Gallien entsandt hatte. Begeistert berichteten sie von dem unwahrscheinlich fruchtbaren Boden der italischen Gallier und von den billigen Lebensmittelpreisen. Auf den Äckern wurden reiche Gerste- und Hirseernten eingebracht, in den Eichenwäldern weideten große Schweineherden, und auf den saftigen Bergwiesen grasten unzählige Ziegen, Schafe und Pferde. Das Land wäre dicht mit gallischen Völkerstämmen besiedelt, hochgewachsenen schönen Menschen, in deren Herzen der Haß auf Rom lebte. Sie wären bereit, das karthagische Heer mit Menschen und Lebensmitteln zu unterstützen. Die Boten brachten auch einen Dolmetscher mit, den Gallier Dukarion, einen ehemaligen römischen Sklaven. Er war fünfundzwanzig Jahre, also ebensoalt wie Hannibal, hatte blondes Haar und ein regelmäßig geschnittenes Gesicht. Sein Haß auf Rom verband ihn mit Hannibal. Zudem konnte er ihm vieles von Rom erzählen. „Wie wurdest du Sklave?" fragte Hannibal. Dukarion starrte finster vor sich hin. „Nachdem die Römer unser Heer in der Schlacht an der Adda besiegt hatten, drangen sie in unser Dorf ein und steckten es in Brand. Meine Mutter und meine kleine Schwester kamen in den Flammen um. Die jungen Männer des Dorfes, darunter auch ich, wurden an die Bäume gebunden und ausgepeitscht. Gaius Flaminius lachte, als er unsere Qualen sah." „Gaius Flaminius?" wiederholte Hannibal. Dieser Mann war der erste Regent Siziliens gewesen, nachdem die Römer es den Karthagern weggenommen hatten. „Ja, er befehligte die römische Legion, die unser Dorf besetzte." „Wie sieht er aus?" Dukarion zuckte erstaunt die Schultern; er begriff nicht, weshalb sich der mächtige karthagische Feldherr für einen Römer interessierte, der zur Zeit kein öffentliches Amt mehr bekleidete. „Er ist etwas größer als du, wohl auch älter, hat ein glattrasiertes Gesicht wie alle Römer, einen schnellen Gang, graue Augen, und wenn er lacht, reißt er den Mund auf." „Ich fürchte, daß ich nach deiner Beschreibung Flaminius nicht erkennen würde, wenn ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünde. Die meisten Römer haben graue Augen, und jedermann lacht mit offenem Mund. Ist er Patrizier, ich meine, gehört er einem der alten römischen Adelsgeschlechter an?" „Ich hörte, daß er seine Karriere nicht einer edlen Geburt, sondern der Verehrung der Plebejer verdankt, zumal er auch den Kreisen dieser niedriggestellten römischen Bürger entstammt. Er schenkte ihnen das Land, das er meinem Volke geraubt hatte, und sie setzten es auch durch, daß die Straße, die das Tyrrhenische und Adriatische Meer verbindet und teilweise durch gallisches Gebiet führt, auf seinen Namen getauft wurde und seitdem Flaminische Straße heißt. Anschließend baute er in Rom für seine plebejischen Mitbürger einen Zirkus, der ebenfalls seinen Namen trägt." Hannibal nickte schweigend. Er verglich den Plebejer Gaius Flaminius in Gedanken mit dem Patrizier Quintus Fabius. Zwar begannen ihre Nachnamen mit dem gleichen Buchstaben, aber sonst ähnelten sie sich wenig. Quintus Fabius war ein vorsichtiger, besonnener Mann, im Gegensatz zu dem temperamentvollen, unbesonnenen Flaminius, dem der Erfolg zu Kopf gestiegen war. Hannibal fuhr aus seinen Gedanken auf. „Verzeih, daß ich deinen Bericht unterbrach", sagte er. „Und was geschah dann mit dir?" „Wir wurden in Ketten nach Rom gebracht, und dort trennte man mich von meinen Freunden. Die Römer vermeiden es, Angehörige desselben Volkes zusammen zu halten. Uns kauften verschiedene Leute. Ich kam in eine Mühle. Mit mir wurden ein Syrer, ein Thrakier, ein Skythe und ein Grieche an den Mühlstein geschmiedet. Unser Besitzer war überzeugt, daß wir uns untereinander nicht verständigen konnten. Freilich lautet das Wort Freiheit in den verschiedenen Sprachen anders, aber es ist dem Herzen eines jeden Menschen gleichermaßen teuer. Während der Saturnalien, dieser römischen Feiertage, an denen die Sklaven vorübergehend freigelassen werden, ergriffen wir die Flucht. Die Römer verfolgten uns mit Hunden, die auf die Menschenjagd abgerichtet waren. Aber wir entkamen ihnen und ihren Herren, weil wir auf einer Tiberinsel Zuflucht suchten und das Wasser unsere Spuren verwischte. Die Römer haben diese Insel auf den Namen Äskulaps, des Gottes der Heilkunst, getauft und bringen die alten und hoffnungslos kranken Sklaven zum Sterben dorthin. Viele kleine und größere Schiffe fahren täglich an der Insel vorüber, aber keines legt dort an, um den Sterbenden wenigstens etwas trockenes Brot hinzuwerfen. Vielleicht war es jedoch gerade diese Unmenschlichkeit, die uns das Leben rettete. Drei Tage hielten wir uns im Dickicht verborgen, und jeder flehte seine Götter in seiner Sprache um Schutz und Hilfe an. Und sie erhörten unsere Gebete. In der vierten Nacht gelang es uns, unbemerkt auf ein Getreideschiff zu klettern und uns im Laderaum zu verstecken. Wir wußten nicht, wohin das Schiff fuhr, und wagten auch nicht, uns bemerkbar zu machen. Nach einigen Tagen quälte uns der Durst so sehr, daß wir uns fast verraten hätten. Doch unser Durst nach Freiheit war noch größer. Ich weiß nicht, wie viele Tage wir unterwegs waren, denn mein Bewußtsein hatte sich getrübt, und ich glaubte zu träumen, als ich die Ankerkette rasseln hörte. Kurz darauf wurde das Korn ausgeladen, und die Sklaven, die als Lastträger arbeiteten, sagten mir, daß ich mich in Marseille befand. Sie brachten mir auch zu trinken. - Meine Fluchtgefährten brauchten kein Wasser mehr. Sie waren verdurstet. Aus Marseille wanderte ich in Richtung der Alpen, und nach einer Woche war ich wieder in der Heimat. Als ich berichtete, wie mich die Römer behandelt hatten, die Narben auf meinem Rücken zeigte, gelobten alle, an den Römern Rache zu nehmen. Als deine Boten zu uns kamen, sagten Freunde zu mir: ,Geh mit den Fremdlingen und führe ihr Heer in unser Land. Allein werden wir mit den Römern nicht fertig."' Hannibal hörte gespannt zu. Er sah in Dukarion den ersten Bürger jenes großen westlichen Reiches, zu dessen Hauptstadt er Rom machen wollte. Nein, er würde nicht nach Karthago zurückkehren, wo man ihn auf Schritt und Tritt beargwöhnte. Er wollte der Herrscher über all diese Menschen werden, die von Rom gequält und gedemütigt worden waren, sein Reich sollte aus ebenso vielen verschiedenen Völkerstämmen bestehen wie jetzt sein Heer.  Der Tempel am Meer Bei Anbruch des Winters schickte Hannibal seine iberischen Söldner auf Heimaturlaub mit dem Befehl, sich im Frühjahr wieder in Neu-Karthago einzustellen, und begab sich nach Cadiz, um dem Gott Melkart ein Opfer darzubringen und sich mit seinem Bruder Magon zu treffen. Gewaltige Wogen brandeten gegen den Felsen, auf dem Melkarts Tempel stand. Sie zerschellten krachend, rollten aber hartnäckig immer wieder aufs neue heran, wie wilde Krieger, die von einem unsichtbaren Feldherrn in Angriff und Tod geschickt und zu Wasserstaub verwandelt werden. Doch immer neue Krieger mit gewölbten Schilden und spitzen Speeren nehmen ihre Plätze ein. Das majestätische Schauspiel machte Hannibal nachdenklich. Er schmeckte das Salz des Wasserstaubs auf den Lippen, wie einst die Tränen der Mutter, die auf sein Gesicht gefallen waren. Überall ist Kampf! grübelte er. Das Meer kämpft gegen das Ufer, das Ufer gegen den Wind, ein Völkerstamm gegen den anderen. Und was bin ich in diesem Kampf? Ein mächtiger Feldherr oder ein Werkzeug in den Händen noch mächtigerer Gewalten? Bin ich Herr über den Krieg, der vor meiner Geburt begann und mich überdauern wird? Er zog seinen Dolch aus der Scheide und schleuderte ihn ins Meer. Schon seit nahezu tausend Jahren brachten die Gläubigen auf diesem Felsen dem Meere ihre Opfer dar. Die phönizischen und karthagischen Kaufleute warfen Silberbarren und Goldmünzen, Bernstein und kostbare Fingerringe in die Fluten, wenn sie von Melkart guten Wind und reichen Gewinn erflehen wollten. Und der Mann, der nun auf dem Felsen stand, warf seine Waffe ins Meer, um Kampfesdurst zu erhalten. Dann ging er zum Hause des Stadtältesten, wo Magon auf ihn wartete. Aufmerksam lauschte er dem Bericht des Bruders über die Sitzung im Großen Rat, auf der Hanno und seine Anhänger eine Niederlage erlitten hatten. Zuletzt hatte der römische Abgesandte gerufen: „Karthager! Hier bringe ich euch Krieg oder Frieden, wählt!" Und auf die einmütige Antwort: „Wähle selbst!", hatte er den Krieg gewählt. Magon berichtete außerdem von einer neuen Schar Kriegselefanten, die Richad dressiert hatte und jetzt persönlich nach Iberien bringen wollte. „Und was ist mit Gula?" fragte Hannibal. „Erfüllt er meine Bitte?" „Gula versprach, dir eintausendfünfhundert Reiter zu senden. Aber sein Sohn Masinissa wird nicht dabeisein, denn der ist verschwunden." „Verschwunden? Weshalb?" fragte Hannibal erstaunt. „Weil sich sein Vater weigerte, ihn bei seiner Werbung um Sophonisbe zu unterstützen. Dann fragte Gula noch, wozu du Masinissa brauchst, da du doch Sagunt eingenommen hättest." „Sagunt war erst der Anfang. Aus Sagunt führt der Weg nach Rom." „Nach Rom?" rief Magon. „Aber du vergißt den langen Marsch und die vielen Völkerstämme, die sich uns in den Weg stellen werden!" „Nein, das habe ich bedacht." „Und wie willst du deine Krieger im Feindesland verpflegen?" „Und wenn ich Stiefelleder lutschen müßte, wir ziehen nach Rom!"  Der Sprung  Auf dem Wege zur Rhône Hannibals Elefanten schreiten voran. Die Gefechtskörbe auf ihren Rücken schwanken wie Schiffe auf dem Meer. Die Söldner stehen am Straßenrand und lassen sie an sich vorüberziehen. Nur wenige von den vielen tausend Iberern, Galliern und Balearern haben schon früher einen Elefanten zu Gesicht bekommen, und es graut ihnen vor diesen Giganten, die so anders aussehen als die Tiere ihrer heimatlichen Wälder und Berge. Die Beine, die den Umfang von jahrhundertealten Eichen haben, verraten eine gewaltige Kraft. Und diese Kraft wird vom Feldherrn Hannibal gelenkt. Er versteht anscheinend nicht nur alle Sprachen der Erde, er besitzt auch Zauberkräfte, die ihn zum Gebieter dieser seltsamen Tiere machen. Auf einen Wink von ihm setzen sie sich in Bewegung und zertrampeln jeden, der es wagt, sich den Karthagern in den Weg zu stellen. Hannibals Elefanten schreiten voran. Unter ihren Tritten dröhnt und stöhnt die Erde. Aus ihrem Gang sprechen der unbeugsame Wille des Feldherrn und die Unausweichlichkeit seiner Rache. Rom muß vernichtet werden! Rom wird von den karthagischen Elefanten zertreten werden. Viele Tagesmärsche trennen Hannibals Heer noch von Italien. Unzählige Hindernisse - Flüsse, Schluchten, schneebedeckte Berge, kriegerische Völkerstämme - erwarten ihn. Hatten aber diese Elefanten weniger Hindernisse zu überwinden, bevor sie nach Iberien kamen? Um gehorsame Werkzeuge des menschlichen Willens zu werden, mußten sie durch die harte Schule Richads gehen, des Mannes, der so viel wert ist wie ein ganzes Heer. Er vollbrachte das, was keinem anderen gelang. Er zähmte die wilden afrikanischen Elefanten, die man für unzähmbar gehalten hatte. Rom soll vernichtet werden. Das ist das Ziel des Feldzuges, das einstweilen nur Hannibals nächste Vertraute kennen. Für die übrigen ist der Marsch nach Norden in Richtung der Pyrenäen nichts als eine Eroberung iberischer Gebiete, die die Karthager bisher noch nicht besetzt hatten. Hannibals Elefanten schreiten voran. Staubwolken wirbeln unter ihren Schritten empor und legen sich auf Pferde, Reiter und Fußsoldaten. Das blühende Tal des Ebro bleibt hinter ihnen zurück. Bei der Hafenstadt Emporium, einer ehemals griechischen Kolonie, deren weiße Häuser traubenförmig am Uferhang kleben, nehmen die Karthager Abschied vom Meer. Sie werfen Haarbüschel ins Wasser und flüstern Beschwörungen. Sie sammeln am Strand feucht glänzende Kiesel, stecken sie in Beutel und hängen sie sich um den Hals oder an den Gürtel. Dann steigt das Heer in die Berge hinauf. Es stößt auf verlassene Dörfer. Die hier lebenden iberischen Stämme haben ihre Viehherden eilig aus der Reichweite des Heeres fortgetrieben, das gefräßig ist wie ein Heuschreckenschwarm. Hannibals Elefanten schreiten voran. Die Bergkette der Pyrenäen -Iberiens Grenze - erscheint am Horizont. Jetzt wird allen klar, daß Hannibal etwas Größeres plant als die Eroberung ganz Iberiens. Dreitausend Iberer mit Alorkes an der Spitze weigern sich, ihre Heimat zu verlassen. Hannibal könnte sie umzingeln und von den Elefanten zertrampeln lassen. Aber er tut es nicht. Er weiß, daß sich dann ganz Iberien gegen Karthago erheben würde, und es ist fraglich, ob sein Bruder Hasdrubal, dem er nur zwanzigtausend Kavalleristen, Infanteristen und Marinesoldaten zurückgelassen hat, mit einem Aufstand fertig werden würde. Nach einiger Überlegung gestattet Hannibal sogar allen, die den gefährlichen Feldzug nicht mitmachen wollen, in Iberien zu bleiben. Das sind insgesamt elftausend Mann. Durch diese Maßnahme entledigt er sich gleichzeitig der feigen, unzuverlässigen Krieger, die ihm später nur zur Last fallen würden. Weitere zehntausend Mann beläßt er in dem neu eroberten Gebiet zwischen dem Ebro und den Pyrenäen. Er hat nicht die Absicht, auf die eroberten iberischen Landstriche zu verzichten. Er weiß auch, daß er ein zuverlässiges Hinterland braucht, das durch ein starkes Heer abgesichert ist. Mühelos überquert Hannibal die Pyrenäen. Zu dieser Jahreszeit liegt kein Schnee auf den Gebirgspässen, und die Berge sind ungefährlich. Er führt fünfzigtausend Fußsoldaten und zehntausend Reiter mit sich. Die aus dicken, in die Erde gerammten Balken bestehenden Häuser mit den spitzen Strohdächern unterscheiden sich nicht von denen, die jenseits der Pyrenäen stehen. Aber Hannibal weiß, daß nun das gewaltige Land beginnt, das von zahlreichen gallischen Stämmen besiedelt ist. Den karthagischen Kaufleuten ist es bisher nicht gelungen, in die Tiefe dieses Gebietes vorzudringen. Sie wagen nicht, sich weit von ihren Schiffen zu entfernen, sie besuchen nur die Niederlassungen am Mittelmeer und am Ozean - der Westküste Galliens. Alles, was Hannibal über Gallien weiß, hat er aus alten Chroniken und aus den Berichten seiner Söldner erfahren. An den südlichen Ufern Galliens lagen früher phönizische Kolonien, gegründet von unternehmungslustigen Kauffahrern, die auch die ersten Häuser Karthagos bauten. Zu Hannibals Zeit sind diese Landstriche aber wieder von freien Völkerstämmen besiedelt; die griechische Kolonie Marseille bildet die einzige Ausnahme. Die Marseiller sind Verbündete der Römer, und weil Hannibal ihnen seine Pläne nicht preisgeben will, zieht er es vor, sich nördlich von Marseille zu halten. Der erste Ort, in den sie nach dem Abstieg von den Pyrenäen kommen, ist Illiberis. Zu ihrer Verwunderung hören sie weder Hühner gackern noch Schafe blöken - die übliche Beute hungriger Soldaten. Der Ort wurde von seinen Bewohnern verlassen, ein eindeutiges Zeichen dafür, daß die hier ansässigen gallischen Völkerstämme Hannibal als ihren Feind betrachten und zum Widerstand rüsten. Hannibal befiehlt, mindestens einen Einheimischen ausfindig zu machen. Eifrig durchsuchen seine Krieger Häuser, Scheunen und Ställe, aber sie finden niemanden. Erst gegen Abend bringen ihm Magarbais Reiter, die in die Umgebung ausgeschwärmt waren, einen Hirten, der sich mit seiner Herde in einer Bergschlucht versteckt hatte. Sie berichten, daß es schwieriger war, ihn zu fangen, als ein Dutzend Krieger zu überwältigen, denn er und die Herde wurden bewacht von gewaltigen Hunden, so angriffslustig und wild wie Wölfe. Als Hannibal den Hirten fragt, wo sich die Bevölkerung des Ortes versteckt hält, knurrt dieser nur. „Ich warte einen ganzen Tag, und dann bringt ihr mir einen Stummen!" ruft Hannibal. „Er wird gleich den Mund aufmachen!" entgegnet Magarbal drohend und befiehlt, die Folterwerkzeuge zu holen. Ein Blick auf die Zangen und den Block mit den Bronzestacheln genügt, um dem Hirten die Zunge zu lösen. So erfährt Hannibal, daß die Einwohner von Illiberis vor zwei Nächten in ein unweit gelegenes Dorf geflohen sind, wo sich auch die Krieger der anderen gallischen Stämme versammeln. „Weshalb flieht ihr vor mir?" fragt Hannibal. „Ich führe den Krieg doch nicht gegen euch, sondern gegen die Römer." „Wir wissen nicht, gegen wen du Krieg führst", erwidert der Hirt, „und wir fürchten, daß du die Absicht hast, uns ebenso zu unterjochen wie die Iberer." Hannibal schüttelt den Kopf und läßt Dukarion holen. „Es würde mir zwar keine Mühe machen, eine Handvoll Gallier in die Flucht zu schlagen oder sie von den Elefanten zertreten zu lassen, aber das wäre überflüssiges Blutvergießen. Laß dich deshalb von diesem Hirten zu den gallischen Häuptlingen führen und sage ihnen, daß ich sie zu sprechen wünsche. Sie sollen nach Illiberis kommen." Die Zusammenkunft findet schon am folgenden Tage statt. Die Häuptlinge erscheinen in pelzverbrämten Umhängen und Lederhelmen. Sie werden von ihren Leibwächtern begleitet. Erstaunt betrachten sie die Gegenstände, die Hannibal für sie auf einem Teppich aufstellen ließ. Es sind Gefäße, farblos und durchsichtig wie Eis, bronzene Trinkschalen in Form von Stierköpfen und andere Kostbarkeiten. „Dies alles will ich euch schenken", sagt Hannibal. „Und jene Weinschläuche noch dazu." Die Häuptlinge nicken befriedigt. Sie freuen sich über die Geschenke und noch mehr über die Aussicht, daß Hannibal ihr Land offensichtlich bald wieder verlassen will. Ein rotblonder Häuptling reicht Hannibal ein gewaltiges, silberbeschlagenes Trinkhorn. „Nimm auch du unsere Gabe entgegen", sagt er feierlich. „Dies ist das Horn eines Wisents, eines Tieres aus unseren Wäldern. Wisente sind kleiner als deine Ungeheuer", er weist auf die Elefanten, „aber wilder als sie. Es ist noch keinem Menschen gelungen, sich auf ihren Rücken zu setzen, während deine Tiere so gehorsam sind wie Pferde, die man an der Kandare hält." Er ahnt nicht, daß es ein Kampfelefant an Wildheit mit einer Löwin aufnimmt. Aber Hannibal läßt ihn in diesem Glauben und ergreift das Horn. „Wenn es so ist, wie du sagst", erwidert er, „dann wird mir der Wein, den ich von nun an aus diesem Horn trinke, Kampfeskraft verleihen. Ich kämpfe gegen Rom. Diese Stadt ist auch euer Feind. Die Römer haben die Gallier, die jenseits der Alpen wohnen, unterjocht und versklavt. Viele Gallier dienen in meinem Heer. Ihr wußtet das alles nicht und wolltet mich deshalb an meinem Feldzug gegen Rom hindern. Doch nun kann ich auch euch zu meinen Freunden zählen." Er nimmt Abschied von den Häuptlingen und befiehlt den Bläsern, das Signal zum Aufbruch zu geben. Das Heer setzt sich in Marsch. Um die in Illiberis verlorene Zeit wieder einzuholen, läßt Hannibal auch nachts marschieren. Es werden tagsüber nur zwei kurze Rasten gemacht, um die Elefanten und Packtiere zu tränken und zu füttern. Bei einer Rast wird Hannibal gemeldet, daß die Gallier murren und sich weigern, die Säcke mit den Äxten und Picken zu tragen, die er unter alle Krieger verteilen ließ. Das ist Ungehorsam, der strengste Bestrafung erfordert. Aber Hannibal kennt seine Söldner. Sie sind aufbrausend und rauflustig wie Kinder und müssen wie Kinder behandelt werden. Unverzüglich reitet er in Magons Begleitung zu den Galliern hin. Als er vom Pferd springt, umdrängen sie ihn und reden aufgeregt durcheinander. „Ruhe!" Er hebt die Hand. „Einer soll sprechen." Ein älterer Gallier tritt vor. „Wir sind erschöpft!" sagt er. „Du zwingst uns, Tag und Nacht zu marschieren und lädst uns obendrein Lasten auf. Ein freier Krieger braucht nichts zu tragen als seine Waffen." „Ja!" schreien die andern. „Wir sind keine Sklaven. Sollen die Iberer diese Säcke tragen!"  „Ich will euch eine Geschichte erzählen", erwidert Hannibal. „Es waren einmal ein Maultier und ein Esel, die sollten gleich schwere Lasten tragen. Weil das Maultier aber nur einen Teil seiner Last auf den Rücken nehmen wollte, lud der Bauer den anderen Teil zusätzlich dem Esel auf. Da brach der Esel zusammen, und dem Maultier blieb nichts anderes übrig, als die gesamte Last zu schleppen. Ich bin bereit, diese Säcke den Iberern zu geben und euch ihre Waffen auszuhändigen. Aber dann müßt ihr auch für euch und für sie kämpfen. Wollt ihr das?" Allgemeines Gebrumm ist die Antwort. Wortlos gehen die Gallier zu den Säcken und laden sie sich auf.  In Rom Während sich Hannibal den Pyrenäen näherte, befand sich der Konsul Publius Cornelius Scipio, der mit dem iberischen Feldzug beauftragt war, noch in Rom. Der Konsul zählte etwa fünfzig Jahre, er war also nach römischen Begriffen noch kein alter Mann. Außergewöhnliche Umstände hielten den Konsul zurück. Im Norden Italiens hatten sich nacheinander mehrere gallische Stämme erhoben, deren Dörfer kurz zuvor von den Römern zerstört und deren Land von römischen Ansiedlern in Besitz genommen worden war. Nun unternahmen die gallischen Stämme ständig Überfälle auf die römischen Kolonisten. Sie behielten die römischen Unterhändler, die man zu ihnen sandte, als Geiseln zurück und besetzten obendrein Modena, Roms wichtigste Festung in Norditalien. Daraufhin wurde eine römische Legion gegen die Gallier eingesetzt. Aber sie geriet in den Urwäldern, die damals Norditalien bedeckten, in einen Hinterhalt und mußte unter Zurücklassung ihrer Toten und Verwundeten fliehen. Zu ihrer Verstärkung schickte der römische Senat deshalb sofort eine der eigentlich für den Einsatz in Iberien bestimmten Legionen nach Norditalien. Zum Ersatz für diese Legion mußte erst eine neue Legion aufgestellt und ausgebildet werden, und dem Konsul Publius Scipio blieb nichts anderes übrig, als solange in Rom zu warten. Am Einberufungstag strömten viele junge Männer zum Kapitol, der Burg von Rom. Sie lag auf einem der sieben Hügel, auf denen Rom erbaut ist. Unter den Rekruten befanden sich Bauern aus Apulien, lebhafte Winzer aus Kampanien und großstädtisch gekleidete junge Römer, die sich selbstbewußten Blickes abseits hielten. Zu ihnen gehörte auch Publius Cornelius Scipio der Jüngere - der Sohn des Konsuls, der den gleichen Namen wie sein Vater trug. Das gab es bei den Römern häufig. Erst vor knapp einem Jahr hatte der Patriziersohn Publius die rotgesäumte Kindertoga abgelegt, die von den römischen Knaben bis zum sechzehnten Lebensjahre getragen wurde. Trotzdem wirkte er nicht jünger als die übrigen mit seinem zarten blassen Gesicht und den nachdenklichen braunen Augen. Sein Haar war kurz geschnitten, er trug eine sorgfältig gebügelte, schneeweiße Toga und Sandalen, deren Verschnürung bis zu den Knien hinaufreichte. Seine Spielgefährten hatten ihm den Spitznamen Grieche gegeben, weil er fließend griechisch sprach und Homers Gedichte mehr liebte als ihre wilden Spiele. Nun aber hieß es: Leb wohl, Homer, leb wohl, Vaterhaus. Der Kriegsgott Mars ruft!  Rekrutenzeit „Höher die Beine, Jungs!" ruft der Zenturio - der Hundertschaftsführer -, ein Mann mit glattrasiertem wettergegerbtem Gesicht. „Die Reihe gerader! He, du Esel, paß auf, sonst kriegst du die Rute zu kosten!" Der Schweiß rinnt Publius über das Gesicht, die Tunika ist zum Auswringen naß, aber der Zenturio kennt kein Erbarmen. „Was, ihr Muttersöhnchen, wollt ihr schon schlappmachen?" grölt er. „An den Spinnrocken gehört ihr und nicht in eine Legion!" So geht es bis zum Mittag. Dann setzen sich die jungen Rekruten unter die Ulmen, die auf dem Exerzierplatz wachsen, und nehmen ihr kärgliches Mahl ein. Unwillkürlich denkt Publius an den saftigen Schweinebraten, den die Sklaven daheim auf den Mittagstisch zu stellen pflegen. „Aufstehen!" ruft der Zenturio. „Einzeln im Laufschritt zu den Pfählen!" Der meint wohl, ich sei als Affe geboren worden, denkt Publius wütend und bleibt hilflos vor dem glatten, senkrecht in die Erde gerammten Pfahl stehen. „Was glotzt du?" Der Zenturio schlägt ihn leicht mit der Rute. „Klettre hinauf!" Die Arme rutschen ab, die Beine zittern bei der ungewohnten Anstrengung. „Höher!" ruft der Zenturio. „Immer höher! So ist's richtig!" Als die Sonne sinkt, führt er die erschöpften Rekruten zur Pfahlbrücke des Horatius Codes. Vielleicht will er uns von der Heldentat dieses Mannes berichten, der die Pfahlbrücke einstmals zuerst mit zwei Gefährten und dann allein gegen einen übermächtigen Feind verteidigt hat, überlegt Publius. Nein, der Zenturio befiehlt, sich der Kleider zu entledigen. Erleichtert springen die Rekruten ins Wasser und spülen sich Schweiß, Staub und Erschöpfung ab. Doch der Zenturio überläßt sie nur kurze Zeit diesem Vergnügen. „Mir nach!" ruft er. „Zum anderen Ufer!" Gehorsam schwimmen die Rekruten hinter ihm her. Nur mit Mühe können sie die starke Strömung überwinden. Eines Tages rollen Fuhrwerke ins Lager. „Wir erhalten Waffen!" rufen sich die Rekruten zu und laufen ungeduldig zu den Fuhrwerken hin. Endlich werden sie das kurze blitzende Schwert, den Wurfspieß mit der dreikantigen Eisenspitze und den festen Schild erhalten. Aber wie groß ist ihre Enttäuschung, als an Stelle der Schwerter Holzknüppel und an Stelle der Schilde Flechtplatten ausgeladen werden. „Na, das gefällt euch wohl nicht?" fragt der Zenturio spöttisch. „Die Herren tragen ja schon die Männertoga und schämen sich, Stöcke in der Hand zu halten. Aber ihr müßt zuerst lernen, mit den Knüppeln umzugehen. Hebt sie auf! Merkt ihr, daß sie doppelt so schwer sind wie Schwerter? Nun nehmt die Flechtplatten und dann im Laufschritt zu den Puppen. - Zustechen!" Der an einem Querbalken hängende Holzklotz tanzt unter den Stößen, als sei er lebendig. Aber der Zenturio runzelt unzufrieden die Stirn, nimmt Publius den Stock aus der Hand und führt einen kurzen schnellen Stoß in Bauchhöhe gegen den Holzklotz, springt zurück und schlägt dann von oben zu. „Gib die Flechtplatte her!" ruft er. „Während du zustößt, darf kein Teil deines Körpers ungeschützt sein. - So!" Er schützt sich links mit dem Schild und macht mit der rechten Hand einen neuen Ausfall. Es ist nicht leicht, ein Krieger zu werden. Was muß man nicht alles können - rennen, über Gräben springen, auf Bäume klettern, Flüsse durchschwimmen, Schwert und Pfeil und Bogen handhaben und vor allem - gehorchen. Disziplin ist die wichtigste Tugend des römischen Kriegers. Ohne Erlaubnis darf er höchstens atmen, aber auch das ist fraglich, denn er kann jeden Augenblick in den Tod geschickt werden und dabei Atem und Leben verlieren. Ungehorsam wird mit dem Tod bestraft. Jeder Römer kennt die Geschichte des Manlius Torquatus, der seinen siegreichen Sohn wegen eines nichtausgeführten Befehls hinrichten ließ. Und das ist kein Märchen, zur Einschüchterung der Legionäre ersonnen. Jeder höhere römische Beamte wird von mehreren Liktoren begleitet. Das sind Staatsdiener, die ständig ihr Wahrzeichen - die Rutenbündel mit den darin steckenden Beilen - bei sich tragen und an den schuldig Befundenen die Strafen vollziehen. Und wer noch nie der Hinrichtung eines Feiglings oder Disziplinverletzers beigewohnt hat, kennt auf jeden Fall das Pfeifen der Ruten oder trägt die Narben ihrer Schläge auf dem Körper.  Zu Schiff nach Marseille Leb wohl, Rom! dachte Publius, als er auf der Landstraße nach der Hafenstadt Ostia davonmarschierte. Wie gern hätte er sich umgesehen und einen Abschiedsblick auf das Kapitol und auf den flachen Palatinischen Hügel geworfen, wo sein Vaterhaus stand! Aber das durfte er nicht, denn es galt als schlechtes Vorzeichen. „Wer sich umblickt, kehrt nicht zurück!" sagten die Alten. Zwar verlachten die griechischen Philosophen, deren Werke Publius gelesen hatte, diesen Aberglauben. Doch was würden die neben ihm marschierenden Legionäre denken, wenn sie sahen, daß er, der Konsulssohn, nach der Stadt zurückblickte? Von ihnen kannte niemand den berühmten griechischen Philosophen Epikur, der jeden Aberglauben in seinen Schriften verspottete, und alle würden nur annehmen, daß er, Publius, die alten Bräuche mißachte. Da war es schon besser, nur in Gedanken von Rom Abschied zu nehmen. Mittags traf die Truppeneinheit in Ostia ein, einem kleinen Ort, der durch seine Salzsiedereien reich geworden war. Die Straße, die über Rom zu den italischen Provinzen führte, wurde Salzstraße genannt. Zur Zeit konnte man sie auch als Getreidestraße bezeichnen, denn über Ostia rollten die Fuhrwerke mit dem Getreide aus der fruchtbaren Provinz Kampanien nach Rom. Überdies war Ostia Roms Tor zum Meer. Deshalb war Hamilkar auch seinerzeit mit der karthagischen Flotte in Ostia gelandet. Doch Publius glaubte, daß das, was dem Vater gelang, seinem Sohn Hannibal nie gelingen würde. Die Punier, wie die Römer die Karthager nannten, besaßen nur noch wenige Kriegsschiffe, und Hannibal verließ sich ausschließlich auf seine Reiterei und die Elefanten. Das war auch die Meinung des römischen Senats, der die Legion auf dem Seeweg nach Iberien schickte. Sie sollte Hannibals Aufmerksamkeit ablenken, während zur gleichen Zeit die Hauptstreitkräfte der Römer in Afrika, vor den Mauern Karthagos, landen sollten. Bewundernd betrachtete Publius die aus sechzig Schiffen bestehende Flotte, die in Ostia vor Anker lag. Sie wurde ebenfalls von seinem Vater befehligt, der schon vor ihm dort eingetroffen war. Übrigens teilte der die Begeisterung seines Sohnes durchaus nicht. „Diese paar Schiffe kann man doch nicht als Flotte bezeichnen!" sagte er kopfschüttelnd. „Mein Kollege Sempronius, der zweite Konsul, verfügt über einhundertsechzig Schiffe, die kleinen Wachboote nicht mitgerechnet. Als wir über die Verteilung der militärischen Aufgaben das Los warfen, lächelte ihm die Glücksgöttin Fortuna, und er gewann den afrikanischen Kriegsschauplatz. Wir dagegen werden gegen gallische und iberische Barbaren kämpfen müssen. Ich bezweifle nicht, daß der karthagische Senat Hannibal unverzüglich aus Iberien zurückrufen wird, wenn Sempronius' Flotte vor Karthago auftaucht." Nachdem der Konsul den Meeresgöttern ein Opfer dargebracht hatte, ging er an Bord. Daß er seinen Sohn auf sein eigenes Schiff mitnahm, verübelte ihm Publius' Ausbilder, der Zenturio, nicht, denn auf See konnte er die Rekruten doch nicht exerzieren lassen, und da war es auch gleichgültig, ob sie auf einem Mannschaftsschiff oder auf dem des Feldherren fuhren. Das Schiff fuhr nordwärts, an einem flachen Ufer entlang, auf dem Publius vereinzelte Dörfer und Städte sah. Sie hatten vor dreihundert Jahren einem mächtigen Volk, den Etruskern, gehört, die große Teile von Nord- und Mittelitalien beherrschten und der Seeräuberei nachgingen. Ihre Nachkommen hatten sich in friedliche Hirten und Ackerbauern verwandelt, die pünktlich ihre Steuern und Abgaben zahlten. Der Vater wurde lebhaft, als die Küste einen großen Bogen nach links machte. Hier wohnten die Ligurer, ein gallischer Volksstamm, gegen den er in seiner Jugend gekämpft hatte. Publius erblickte mehrere düstere Wachtürme, ehemalige Burgen der kriegerischen Ligurer, in denen jetzt nur noch die Vögel nisteten. „Dort hatte sich der Feind festgesetzt", berichtete der Vater. „Auch sein Getreide und sein Vieh hatte er in die Burgen geholt. Jede einzelne Burg mußten wir belagern. Die Ligurer kämpften, bis ihnen die Lebensmittelvorräte ausgingen." Eines Morgens erblickte Publius am Horizont eine rötliche Wolkenkette. Er betrachtete sie eine Weile und sah, daß ihre merkwürdigen Umrisse unverändert blieben. Da wurde ihm klar, daß er die Schneegipfel der Alpen vor sich hatte. Sie trennten das Gebiet der Gallier, die von den Römern schon unterworfen worden waren, von den noch unabhängigen Völkerstämmen. Der Wind schlug um. Der warme, weiche Südwestwind wurde vom kalten Nordwind abgelöst. Das Deck begann zu schwanken. Publius wurde es schwindlig. Ihn packte die Seekrankheit, die Krankheit des Meeresgottes Neptun. Aber die Pein dauerte nicht lange. Die Schiffe fuhren auf die Küste zu. An einer Stelle sah Publius einen Einschnitt - die Einfahrt nach Marseille. Die Stadt lag an einem Bergeshang und war wie ein Amphitheater gebaut, das in einem Halbrund den Hafen umgab. Auch der Hafen erinnerte Publius an das Theater, denn er hatte die runde Form eines Orchesters, wie die Griechen den Tanzplatz des Chores auf ihren Theaterbühnen nannten. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch die an der Mole liegenden Schiffe, die von weitem wie Chorsänger aussahen. Publius wußte, daß Marseille als einzige Stadt in diesem feindseligen Lande mit Rom verbündet war. Entkräftet durch die ständigen Gefechte mit den Galliern und wohl auch aus Angst vor den karthagischen Seeräubern, die früher das Mittelmeer unsicher machten, hatten die Mar-seiller ein Bündnis mit Rom geschlossen, das Rom zwar bisher noch keine Vorteile gebracht hatte, jetzt aber von unschätzbarem Wert war. Die Zenturionen, die das Ausschiffen befehligten, verboten den Legionären, ihre Waffen an Land mitzunehmen, denn kein Fremdling durfte die Stadt Marseille bewaffnet betreten. Die Marseiller standen am Kai und empfingen die Römer, indem sie jedem ein kleines Geldstück in die Hand drückten. Publius hatte schon in Rom von dieser merkwürdigen Sitte erfahren. Er antwortete dem Marseiller, der ihm das Geldstück überreicht hatte, deshalb nach altem Brauch mit den rätselhaften Worten: „Ich werde in die Unterwelt zurückkehren." Sein Vater, der Konsul, sprach schon mit einigen Männern in Purpurgewändern. Es waren Mitglieder des Marseiller Rates der Sechshundert. Und sie machten ihm die bestürzende Mitteilung, daß Hannibal mit seinem gesamten Heer bereits die Pyrenäen überquert hatte, sich der Rhône näherte und viele Kampfelefanten mit sich führte. Dadurch war der Plan des römischen Senats, Hannibal in Iberien zu stellen und gleichzeitig Karthago anzugreifen, vereitelt worden. Hannibal war den Römern zuvorgekommen! Welches Ziel verfolgt er? grübelte der Konsul. Weshalb entschloß er sich, die kurz zuvor unterworfenen iberischen Gebiete zu verlassen, obgleich dort jederzeit ein Aufstand aufflammen kann? Niemand war imstande, ihm diese Fragen zu beantworten. Aber er mußte einen schnellen Entschluß fassen. Die Karthager konnten jeden Augenblick vor Marseille auftauchen. Er rief einen Liktor und gab ihm einen Befehl. Unmittelbar danach rief ein Hornsignal die Legionäre zum Antreten. Obgleich sie sich noch nicht ganz von der Seekrankheit erholt hatten, mußten sie sofort hinter Marseilles Stadtmauern ein befestigtes Lager errichten.  Gefährlicher Übergang Hannibals Elefanten schreiten voran. Das Heer stößt nicht mehr auf Hindernisse. Die Geschenke, die Hannibal aus der saguntinischen Beute verteilen ließ, ebnen ihm den Weg. Nach zehn Tagesmärschen steht er am Ufer der Rhône. Die Afrikaner, die es von daheim gewöhnt sind, mit jedem Tropfen Wasser zu geizen, bestaunen den breiten, wasserreichen Strom. Ein Land wie dieses, das mit dem Wasser nicht zu sparen braucht, muß verschwendungssüchtige Götter haben! Der Feldherr späht zum anderen Ufer hinüber. Es ist leer. Könnte er die Rhône doch sofort schwimmend überqueren! Aber in seinem ganzen großen Heer gibt es kaum tausend Krieger, die schwimmen können. Und die Elefanten? Wie soll er die Elefanten über den Fluß bringen? Tag und Nacht dröhnen Axtschläge über der Rhone. Die Krieger fällen Bäume und zimmern Flöße. Inzwischen wird das jenseitige Ufer von den Galliern besetzt. Hannibal muß die Gallier unbedingt vertreiben, sonst ist an einen Ubergang über den Fluß nicht zu denken. Er ruft Magon zu sich und befiehlt ihm, mit einem hauptsächlich aus Iberern bestehenden Truppenteil stromaufwärts zu gehen, die Rhone an einer geeigneten Stelle zu überqueren und in einem bestimmten Augenblick die Gallier von hinten zu überfallen. Nachts macht sich die Abteilung auf den Weg. Die Pferde gehen im Schritt. Magon hat ortskundige Führer bei sich. Fünfundzwanzig Meilen vom karthagischen Lager entfernt wird der Fluß seicht, teilt sich in mehrere Arme und bildet kleine baumbewachsene Inseln. Magon springt vom Pferd und geht zum Wasser hinunter. Es riecht nach Algen. Dicht vor ihm stehen große Vögel auf einem Bein im Wasser. Sie haben ein rosa Gefieder, ihr kleiner Kopf sitzt auf einem anmutig gebogenen Hals. Es sind Flamingos, die er von den heimatlichen Gewässern kennt. Von einer Insel klingt ein fremdartiger Vogelschrei. Magon lauscht. Siebenmal ruft der Vogel, dann verstummt er. Das ist ein gutes Vorzeichen, denken die Krieger, treiben beherzt ihre Pferde ins Wasser und überqueren den Fluß. Einen Tag später erblickt Hannibal am gegenüberliegenden Ufer, links vom Feind, eine Rauchsäule. Es ist das verabredete Signal dafür, daß Magons Abteilung den befohlenen Ort erreicht hat und zum Angriff bereit ist. Kaum hat der Wind die schwarze Rauchsäule verweht, da beginnt Hannibal mit dem Übergang über die Rhone. Die Fußsoldaten steigen zu dritt oder zu viert in die am Ufer festgemachten Einbäume. Die Reiter setzen auf Flößen über und halten ihre nebenher schwimmenden Pferde am Zügel fest. Ein Teil der Pferde steht auf den Flößen. Als die Gallier sehen, daß die Karthager mit dem Übersetzen beginnen, stürzen sie ans Ufer, schütteln die Schilde über dem Kopf und stimmen einen Schlachtgesang an. Ihr Gebrüll verschmilzt mit dem Rauschen des Wassers, das unter den Ruderschlägen aufschäumt, den Rufen der karthagischen Krieger, die vom Ufer aus ihre Kameraden anfeuern, und dem Wiehern der Pferde. Magons Abteilung schleicht sich von hinten in die feindlichen Stellungen. Die Gallier sehen sich plötzlich zwischen zwei Fronten, sie werden von vorn und von hinten angegriffen. Sie rennen am Ufer entlang bis dorthin, wo Magons Reiter sie nicht mehr verfolgen, und kehren auf dem schnellsten Wege in ihre Dörfer zurück. Nun können auch die Elefanten übergesetzt werden. Hannibal hat Holzfähren zimmern und sie mit Sand und Rasenstücken bedecken lassen. Diese Fähren sind an Seile gebunden, die ans andere Ufer hinüberreichen. Mit angehaltenem Atem sehen die Krieger an beiden Ufern zu, wie die Elefanten von den Indern auf die Fähren geführt werden. Sur macht den Anfang. Am Wasser bleibt er stehen und beschnüffelt mit dem Rüssel mißtrauisch den Rand des Floßes. Als Sur die Fähre betritt, tun die andern Elefanten das gleiche. Die Seile, mit denen die Fähren am Ufer vertäut sind, werden gekappt, die am anderen Ufer stehenden Krieger beginnen am quergespannten Seil zu ziehen, und bald befinden sich die Fähren schon mitten auf dem Fluß. Einige Elefanten springen vor Angst ins Wasser. Die auf ihrem Rücken sitzenden Treiber ertrinken, aber zu Hannibals größtem Erstaunen schwimmen die Elefanten durch den reißenden Fluß und erreichen unverletzt das andere Ufer. Während die Elefanten übergeholt werden, hat Hannibal eine aus fünfhundert numidischen Reitern bestehende Abteilung als Spähtrupp stromabwärts geschickt. Schon nach kurzer Zeit stoßen die Numidier auf römische Kavalleristen, die von Konsul Scipio auf Erkundung geschickt worden waren. Nach einem erbitterten Gefecht werden die Numidier in die Flucht geschlagen, und die römischen Kavalleristen nähern sich dem karthagischen Lager auf Sichtweite. Ohne zu ahnen, daß sich der größte Teil des karthagischen Heeres schon auf dem jenseitigen Ufer befindet, machen sie kehrt, um dem Konsul vom Standort des Feindes zu berichten. Brennend vor Verlangen, den Feind zu stellen, bricht der Konsul mit seinem gesamten Heer auf. Aber wie groß ist sein Erstaunen, als er nach drei Tagen das karthagische Lager erreicht und es verlassen findet. Von den Galliern erfährt er, daß sämtliche Karthager die Rhone überquert haben und in östlicher Richtung weitermarschieren. Erst jetzt wird dem Konsul klar, was Hannibal im Schilde führt. Und er begibt sich auf dem schnellsten Wege nach Marseille zu den Schiffen.  In den Alpen Eine Woche zuvor hatten Hannibals Krieger noch im Tal der majestätischen Rhone den Sommer erlebt - das in der Sonne flimmernde Wasser, die grünen Uferwiesen, die sanflblaue Silhouette der Hügel, den warmen Wind, der zärtlich mit den gezackten Ahornblättern spielte. Doch nun blies der ewige Winter ihnen seinen Eishauch ins Gesicht. Die schneebedeckten Gipfel der Berge verschmolzen mit tiefhängenden, aschgrauen Wolken und wirkten dadurch noch höher und furchteinflößender. Seltsam geformte Felsbrocken sahen wie Märchengestalten aus, die von Hexenmeistern zu Stein verzaubert worden waren. Neben dem Saumpfad gähnten fürchterliche Abgründe, in denen dröhnend die Fluten rauschten. Auf die Menschen der Tiefebene, der Steppe machten die Berge einen unheimlichen Eindruck. Wenn es böse Geister auf der Erde gibt, dann hausen sie hier! dachten die abergläubischen Krieger und griffen hilfesuchend nach ihren Delphinzähnen, die sie als Amulett an einer Schnur um den Hals trugen. Als die gallischen Krieger unterwegs ein Dorf durchsuchten, rollten sie mit so lautem Freudengeschrei ein reifenbeschlagenes Faß herbei, als enthielte es reines Gold. Eifrig schlugen sie den Deckel ein, Dukarion tauchte als erster eine Metallkelle hinein und hielt sie Hannibal hin. Sie war mit einer trüben, schäumenden Flüssigkeit gefüllt. „Trink!" sagte er. „Das ist der Wein des Nordens. Er wird aus Gerste gemacht und Bier genannt." Hannibal kostete. Die Flüssigkeit hatte einen bitteren Geschmack. Unglückliche Menschen! dachte er. Die Götter haben ihnen die wundervollen Weinreben vorenthalten, deshalb müssen sie dieses scheußliche Zeug trinken. „Schau, sie bringen noch etwas!" Magon zeigte auf mehrere Krieger, die einen länglichen weißen Gegenstand herbeischleppten. Es war ein gewaltiger Tierschädel. In den Augenhöhlen hätte ein Menschenfuß Platz gehabt. „Das ist ja ein Elefant!" rief Magon. „Sieh dir den Stoßzahn an. Ein Elefant in den Alpen. Wie mag der hierhergekommen sein?" „Das ist nicht der Schädel eines Elefanten, sondern eines Mammuts", erklärte Dukarion lächelnd. „Auch in unserer Gegend gab es einstmals Riesentiere!" Hannibal stand schweigend daneben. Es grauste ihm vor dem gewaltigen Kopf mit den leeren Augenhöhlen. Was für Überraschungen würden ihm diese wilden Berge noch bringen? Am selben Tage erreichte das Heer den Fuß eines Steilhanges. Hannibal blickte hinauf. Gewaltige schwarze Felsbrocken hingen über dem Pfad. Mit jedem einzelnen hätte man hundert Krieger zermalmen können. Hinter den Felsbrocken spähten die bärtigen Bergbewohner hervor. Sie wirkten wie starke, gefährliche Raubtiere. Möglicherweise waren es die Einwohner eines ausgeraubten Dorfes oder ihre Nachbarn, die von dem Auftauchen der Fremdlinge aufgescheucht worden waren. Sie saßen in einer unangreifbaren Stellung und konnten dem ganzen Heer den Weg versperren. Hannibal mußte unbedingt erfahren, was sie im Schilde führten und wie lange sie sich in ihrem Adlerhorst aufhalten würden. Dukarion meldete sich als Kundschafter. Er schlug einen weiten Bogen um den Berg und schlich in das Lager der Bergbewohner. In der Dunkelheit hielt man ihn für einen Krieger aus dem Nachbardorf, zumal er gallisch sprach. Er erfuhr, daß die Bergbewohner ihre Stellungen über Nacht verließen, sie aber bei Tagesanbruch wieder besetzten. Das meldete er Hannibal, der in der folgenden Nacht viele Lagerfeuer anzünden ließ, um die Feinde zu täuschen, und gleichzeitig mit seinen besten Kriegern die Stellungen am Steilhang besetzte. Am nächsten Morgen zog das Heer dann ungehindert am Steilhang vorüber.  Unerwartete Rettung am Paß In der neunten Nacht erreichte Hannibal, der mit Dukarion und zwei Leibwächtern an der Spitze seines Heeres ritt, endlich den Paß. Finster ragten die Berge empor, vom Mondlicht beschienen. Ihre eisbedeckten Gipfel reckten sich in den Himmel. Hannibal hatte den Eindruck, als wollten sie bis zu den Sternen vorstoßen, wären aber auf halbem Wege erstarrt - stolz, majestätisch, gleichgültig gegenüber allem, was rings um sie geschah. Wie ein dunkler Strom zog das Heer langsam an den Felsenhängen vorüber und füllte die Schluchten mit Rufen, klatschenden Peitschenhieben, Pferdegewieher. Der scharfe Wind riß erbarmungslos an den Umhängen der Krieger und ließ ihre Gesichter, Hände, Rücken zu Eis erstarren. Die Pferde trotteten trübselig, mit gesenktem Kopf ihres Weges, aus ihren Nüstern drangen weiße Atemwolken. Hannibal sah dem Aufstieg seines Heeres zu, bis es die verschneite Fläche des Passes erreicht hatte. Als die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages auf die Straße fielen, die das Heer hinter sich gelassen hatte, sah Hannibal, daß sie von krepierten Pferden und zerbrochenen Fuhrwerken umsäumt war - wie von tönernen Spielsachen, die ein launenhaftes Kind fortgeworfen hat. Dann wandte Hannibal sich um und blickte in die entgegengesetzte Richtung. Unwillkürlich schrie er auf. Vor ihm lag ein blühendes Land, von Wasserläufen durchschnitten. In der Ferne funkelte das sonnenbeschienene Meer wie ein blankgeputzter Bronzeschild. Italien! Ihn erregte die Nähe dieses Landes, das er noch nie gesehen, sich aber so oft ausgemalt hatte. Wie anders war Italien als die vertrauten afrikanischen Tiefebenen und iberischen Berge! „Hierher!" schrie er seinen Kriegern zu, die von der Kälte erstarrt, von der Erschöpfung wie gelähmt waren. „Seht, das ist Italien, unser Ziel, unsere Beute! Ich gebe es euch ganz - mit seinen Wäldern und Flüssen, mit seinen Städten und Dörfern!" Und so herrlich war der Anblick dieses Landes, so greifbar nahe schien es zu liegen, daß alle am liebsten die Hände nach ihm ausgestreckt hätten, wie nach einem kunstvoll gemalten Bild, um mit den kältestarren Fingern die Leinwand und die leuchtenden Farben zu betasten. Dann begann das Heer mit dem Abstieg. Der eisige Wind drang den Kriegern bis auf die Knochen. Die abschüssige Straße war mit Schneeresten bedeckt, in denen sie versanken. Die schweren Lasten rutschten den Pferden auf den Hals. Die Straße führte in zahllosen Windungen über kahle, vereiste Felsen. Wer ausglitt, stürzte in den Abgrund. Die Reiter sprangen aus dem Sattel, traten hinter ihre Pferde und hielten sie beim Weitergehen am Schwanz fest. Die Gebirgler, die dem Heer seit einigen Tagen ständig folgten, waren plötzlich verschwunden. Offenbar wollten sie die Vernichtung der Eindringlinge der Natur überlassen. Oder war diese Gegend sogar für die Einheimischen unpassierbar, nicht nur für ein Heer mit Reiterei und Elefanten? Plötzlich blies der Hornist Alarm. Sein Signal wurde von wildem Kampfgeschrei übertönt. Die Gebirgler hatten das Heer auf Geheimpfaden umgangen und griffen es jetzt von vorn an. Das ist das Ende! dachte Hannibal. Nun werden die verschreckten Tiere in den Abgrund stürzen und die Menschen mit sich reißen, denn ich kann meine übrigen Krieger nicht dazu bringen, daß sie der Vorausabteilung zu Hilfe kommen. Die Angst vor dem glatten vereisten Pfad ist stärker als mein Befehl, stärker als die Stimme der Vernunft. Ja, es ist aus. Aber seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Es geschah etwas völlig Unerwartetes. Die Angreifer blieben wie versteinert stehen, wandten sich zur Flucht und jagten unter Zurücklassung ihrer Waffen davon, als wäre ihnen eine Schar von bösen Geistern auf den Fersen. Verständnislos blickten die Krieger der karthagischen Vorausabteilung zurück. Was hatte die Gebirgler so erschreckt? Als sie den Grund erkannten, lachten sie schallend. Sie vergaßen Hunger, Kälte und Erschöpfung und bogen sich vor Vergnügen. Die Felsenwände warfen ihr Gelächter als unheimliches Echo zurück. Auch sie schienen zu lachen über diese Menschen, die zum erstenmal einen Elefanten gesehen hatten. Die Elefanten! Hannibal empfand tiefe Dankbarkeit, ja Zärtlichkeit für die gewaltigen Tiere. Selbst hier in der Schneewüste retteten sie ihn vor dem Untergang. Die Elefanten - das war sein heißes, dunkles Afrika, das sich zum Kampf gegen das kalte, hochmütige Europa erhoben hatte. Die Elefanten - das war der Traum vom Sieg über Rom, den schon sein Vater geträumt hatte. Nach drei Tagen erreichte das Heer ein grünes Tal, das nach Süden hin weiter wurde. Klare Bäche plätscherten von den Bergen herab. Vor dem Pfahlzaun, der ein kleines Dorf umgab, standen graubärtige Greise in weißen Gewändern. Sie blickten den fremdartigen Ankömmlingen. auf ihre Stäbe gestützt, verwundert entgegen. Den Häusern dieses Tals war die wilde Feindseligkeit der Gebirgler fremd. Zusammen mit der Natur und dem Klima hatten sich offenbar auch die Menschen gewandelt und waren sanfter, gastfreundlicher geworden.  Rast im grünen Tal Wie Recken mit blendend weißen Helmen, schwarzen Panzern und grünen Umhängen standen die Berge majestätisch im Halbkreis da. Fünfzehn Tage lang war das Heer über ihre Hänge herabgestiegen. Sie hatten Steine und Schneelawinen von ihren Schultern geschüttelt, sie hatten Hindernisse aufgetürmt, Abgründe aufgerissen, den Kriegern die Wangen erfroren und ihnen mit dem grauenhaften Gefunkel ihrer Eisfelder die Augen geblendet. Wie schwach und hilflos waren die Menschen im Kampf gegen diese unerbittlichen Giganten gewesen! Dennoch hatte ihre Ausdauer gesiegt. Die Berge hatten ihnen Platz gemacht und sie widerstrebend durchgelassen. Jetzt schienen sie mit herablassendem Lächeln zu fragen: Na, ihr Ameisen, sind noch viel von euch übrig? Hörnerschall riß Hannibal aus seinen Gedanken. Das Heer war angetreten. Heute hatte er zum erstenmal seit vielen Monaten einen Appell angesetzt, einen Namensaufruf der noch Lebenden. An der linken Flanke standen die Iberer, in die Fetzen ihrer rotwollenen Umhänge gehüllt. Das Haar war ihnen unterwegs so lang gewachsen, daß es wie eine Löwenmähne auf ihre Schultern hing. Sie grüßten den Feldherrn, indem sie die mit Sehnen durchflochtenen kleinen Schilde erhoben. Daneben die Gallier, in knöchellange Hosen und leichte Überhemden gekleidet. Viele besaßen keinen Schild. Es waren nur noch etwa tausend Mann, obgleich sechstausend Gallier die Pyrenäen überquert hatten. Wo waren die übrigen geblieben? Gestorben oder geflüchtet? Bei den Gebirglern untergetaucht oder in ihre Heimat zurückgekehrt? Was veranlaßte die im Heer Verbliebenen, hier zu stehen? Beutehunger oder Pflichtbewußtsein? „Jetzt werden wir echten Wein in Hülle und Fülle trinken!" rief Hannibal ihnen aufmunternd zu, denn er kannte ihre Leidenschaft für dieses Getränk. Die Afrikaner - was für ein trauriger Anblick! Meine Afrikaner! pflegte er sie in Gedanken oder im engsten Freundeskreis zu nennen, weil er sich seiner übergroßen Liebe zu diesen tapferen, treuen Menschen schämte. Aber waren die Männer vor ihm seine Afrikaner? In Lumpen gehüllt, die Füße umwickelt mit Fetzen, durch die das Blut sickerte, Gesichter und Hände mit blauen und schwarzen Flecken bedeckt, als wären sie gebrandmarkte Sklaven. Am liebsten hätte Hannibal die geballten Fäuste gegen den Himmel geschüttelt und den Göttern zugeschrien: Was habt ihr mit meinen Afrikanern gemacht? Gebt mir meine Afrikaner wieder! - Aber er verbarg die geballten Fäuste auf dem Rücken und sagte laut: „Einstmals, es ist schon lange her, kämpften wir Afrikaner gegen die griechische Stadt Kyrene, die nördlich von Karthago liegt, um einen strittigen Landstreifen zwischen unseren Gebieten. Als die Kämpfe unentschieden blieben, ließen sich zwei unserer Brüder lebendig in jenem Landstreifen begraben, auf daß er für immer zu unserer afrikanischen Heimat gehöre." Er musterte die gelichteten Reihen der Afrikaner. „Ihr habt viele Brüder verloren", fuhr er fort. „Sie starben auf dieser fremden Erde, auf daß sie für immer zu unserer afrikanischen Heimat gehöre." Die balearischen Schleuderer. Hannibal machte einen Witz in ihrer Sprache, und sie lachten, daß die schwarzen Schnüre auf ihren mageren Leibern hüpften. „Was hat er gesagt?" wurde aus anderen Abteilungen gerufen. „Das war in unserer Sprache gesprochen und galt nur uns!" war die stolze Antwort. Die Numidier. Sechstausend waren noch übrig. Sie hatten die geringsten Verluste erlitten. Es war sinnvoll gewesen, sie so zu hüten. Zwar hatten viele ihre Pferde eingebüßt, aber in diesem Lande würde man genügend neue Pferde für sie finden. Die Kampfelefanten. Sie wiegten anklagend die Köpfe, als wollten sie sagen: Was hast du mit uns gemacht, Hannibal? Wir sind nur noch siebzehn. Und wir können uns kaum auf den Beinen halten. „Richad", fragte Hannibal, „werden sie es überleben?" Der Inder verneigte sich tief. „Ja, vorausgesetzt, daß du ihnen mindestens zwei Wochen Ruhe gönnst. Hier ist das Gras hoch und saftig, so daß sie sich satt fressen könnten!" Zwei Wochen Ruhe brauchen die Elefanten ebenso wie die Menschen! dachte Hannibal. Zwei Wochen, dann werde ich wieder ein wirkliches Heer besitzen. Doch was würde geschehen, wenn mir die Römer diese zwei Wochen Ruhe streitig machten? Dann wäre alles aus. Dann wären alle Mühen und Opfer umsonst. Hannibal verkürzte sich die Ruhetage mit einem Spiel, das Richad ihm einst in Iberien beigebracht hatte. Der Inder nannte es Tschaturanga, was in der Übersetzung „Vier Waffengattungen" hieß, und es war ein Vorgänger des Schachspiels. Auf einem Holzbrett, das in Quadrate aufgeteilt war wie ein römisches Feldlager, wurden schwarze und weiße Elfenbeinfiguren einander gegenübergestellt - Fußsoldaten, Reiter, Kriegselefanten und quadratische Wandeltürme. Die beiden Heere wurden von je einem König und einer Königin befehligt. Tschaturanga war ein ernstes, kluges Spiel, und Hannibal spielte es so gut, daß er Richad, seinen Gegner, meistens besiegte. „Ich kann nicht verstehen", sagte er zu Magon, „warum dir das Tschaturanga nicht gefällt! Was hast du vom Würfelspiel, dem du deine Freizeit widmest? Was lehrt es dich? Daß du dem Zufall ausgeliefert bist, der blind ist wie ein altes Roß in den Silberbergwerken?" „Ich finde Tschaturanga viel zu schwierig und langweilig", widersprach Magon. „Den ganzen Tag über einem Holzbrett zu brüten, als hänge von dem nächsten Zug das Schicksal des Heeres ab, ist nicht nach meinem Geschmack." Hannibal machte beim Spiel oft ein so ernstes Gesicht, als hätte er kein Brett vor sich, sondern ein richtiges Schlachtfeld. Wer das Geheimnis von Hannibals Siegen ergründen wollte, brauchte ihn nur bei diesem Spiel zu beobachten. Er war tollkühn und gleichzeitig vorausschauend. Häufig opferte er eine Figur, um für die anderen eine bessere Position zu gewinnen, und immer machte er sich den kleinsten Fehler seines Gegners zunutze. „Nein", sagte er zu Magon, „Tschaturanga erinnert nur entfernt an Feldzüge und Schlachten. Hier" - er zeigte auf das Brett - „bin ich sicher, daß meine Krieger ihre Waffen nicht gegen mich kehren und daß sie meine Schlachtpläne gehorsam ausführen. Im Leben ist alles anders."  Zweikampf Hannibal machte sich Sorgen. Die Kundschafter, die er ausgesandt hatte, waren mit der Nachricht zurückgekehrt, daß der römische Konsul Publius Scipio auf dem Seeweg aus Marseille mit einer kleinen Truppeneinheit im Hafen von Pisa gelandet wäre. Dort hätte er seine Leute mit den Legionen vereinigt, die an der Nordgrenze von Italien stationiert waren, und wäre mit dem gesamten Heer zur Poebene marschiert. Zur Zeit waren die beiden Heere nur noch drei Tagesmärsche von einander entfernt. Meine Truppen haben sich von dem anstrengenden Alpenübergang noch nicht erholt, sagte sich Hannibal. Und wenn ich gleich die erste Schlacht verlöre, würden die Gallier Reißaus nehmen wie Hasen aus einem zerlöcherten Korb. Er beschloß, einen zweiten Appell abzuhalten. Er mußte den Kriegern klarmachen, daß sie in der kommenden Schlacht nicht nur für die Handvoll Silber kämpfen würden, die sie an jedem Neumond erhielten, sondern um ihre eigene Freiheit, um ihr Leben. Sie mußten erkennen, daß es für sie keine Rückkehr in die Heimat gab und jede Gefangennahme gleichbedeutend war mit Sklaverei, Ketten und Leiden. Hannibal wußte, daß die Söldner lange Reden verabscheuten. Am besten verstanden sie die Sprache der Tat. Und er faßte einen Entschluß. „Laß das Heer antreten und stell die Gefangenen, die wir neulich bei Turin gemacht haben, davor auf", sagte er zu Magon. Der Bruder gehorchte. „Dukarion", befahl Hannibal seinem Dolmetscher, nachdem das Heer angetreten war, „sage den Gefangenen: Wer seine Freiheit und das hier erhalten will" - er zeigte auf Pferde und Waffen -, „soll vortreten und in Gegenwart des Heeres mit einem Stammesgenossen einen Zweikampf ausfechten." Als Dukarion übersetzt hatte, traten fast alle Gefangenen vor.  „Das sind zuviel", wehrte Hannibal ab. „Zwei genügen. Laß das Los entscheiden." Das Los fiel auf zwei junge Männer, die vor Freude strahlten. Die übrigen Gefangenen senkten finster den Kopf.  Auf einen Befehl Hannibals schlugen die Schmiede den beiden die Fesseln von Armen und Beinen. Dann wurden ihnen Schwerter gegeben.  Sie wußten, daß sie in Kürze frei sein würden. Der erste würde heimkehren und seine Lieben in die Arme schließen können, den zweiten würde der Tod von jeder Qual erlösen. Der Kampf begann. Die Gallier umkreisten sich mit gezückten Schwertern. Ihre Gesichter brannten vor Kampfeswut, als wären sie nicht Stammesbrüder, sondern erbitterte Feinde. Ein Schwerthieb folgte dem anderen, aber am Anfang gelang es beiden Kämpfern, ihnen auszuweichen. Die Erregung der zuschauenden Krieger wuchs. Sie quittierten die Hiebe mit zustimmenden oder empörten Rufen, traten aus dem Glied und schlossen um die Kämpfer einen Kreis. Plötzlich sprang der eine vor, versetzte seinem Gegner einen fürchterlichen Stoß, wurde jedoch gleichzeitig in die Schulter getroffen. Doch das hinderte ihn nicht, sein Schwert auf den Kopf des anderen niedersausen zu lassen. Ein Schrei brach aus tausend Kehlen. Der Getroffene hielt sich noch ein paar Augenblicke auf den Beinen. Das Blut strömte ihm über das Gesicht. Dann stürzte er zu Boden. Der Sieger blieb mit gesenktem Schwert vor ihm stehen, wortlos, entsetzt über das, was er getan hatte. Dann blickte er haßerfüllt zu Hannibal hinüber und ging langsam zu seinen Trophäen. Hannibal hob die Hand. Es wurde still. „Auch ihr habt diese Wahl!" rief er. „Sklaverei!" Er zeigte auf die Gruppe der Gefangenen. „Tod!" Er wies auf den blutigen Leib des sterbenden Galliers. „Oder Sieg" Und er streckte beide Hände nach dem Sieger aus. Dieser hatte inzwischen den schimmernden Helm aufgesetzt, die Rüstung angelegt und sich aufs Pferd geschwungen.  Das war die kürzeste Rede, die Hannibal jemals hielt. Und die überzeugendste. Sie machte den Kriegern klar, daß sie in der nächsten Schlacht um ihr Leben kämpfen mußten und jeder Versuch, durch die Flucht ihre Heimat zu erreichen, sinnlos war, weil hinter ihnen todbringende Berge und feindselige Stämme waren.  Das erste Gefecht mit den Römern Am Ticino, einem Nebenfluß des Po, ließ Konsul Publius Scipio ein befestigtes Lager bauen und daneben eine Brücke über den Fluß schlagen. Anschließend unternahm er mit einer kleinen Einheit einen Erkundungsritt. Die Kavallerie ging in einer gekrümmten Linie vor - die Mitte vorn, die beiden äußeren Enden weiter zurück. Dumpf hallten die Hufe über den steinigen Boden. Die Kundschafter hatten dem Konsul gemeldet, daß Hannibals Heer die Alpen überquert hatte und noch zwei Tagesmärsche vom Ticino entfernt war. Er staunte über den Wagemut dieses Mannes. Wer hätte annehmen können, daß Hannibal mit seiner Reiterei und seinen Elefanten die Alpen überqueren würde? Dadurch hatte er alle Pläne des Konsuls über den Haufen geworfen. „Mir blieb nichts anderes übrig", erklärte der Konsul seinem Sohn, der neben ihm ritt, „als mein Heer zu teilen. Die eine Hälfte habe ich nach Iberien geschickt - sie wird von meinem Bruder Gnaeus geleitet -, und die andere Hälfte habe ich auf dem schnellsten Wege nach Italien gebracht. Ich bin fest überzeugt, daß der Alpenübergang den Karthagern viel Kraft gekostet hat. Ich muß sie schlagen, bevor sie sich erholt und ihre gelichteten Reihen wieder aufgefüllt haben." Eine Meile von der Brücke entfernt bemerkte der Konsul eine dichte Staubwolke. Da er von der Richtigkeit der Meldungen seiner Kundschafter überzeugt war, nahm er an, daß sich in der Staubwolke Gallier befanden, die ihre Viehherden aus Angst vor feindlichen Übergriffen von den Weiden trieben. Erst als die Staubwolke nahe herangekommen und ein Rückzug nicht mehr möglich war, sah der Konsul, daß sich feindliche Reiterei darin verbarg. Es waren hagere, dunkelhäutige Männer, die zu sechsen nebeneinander ritten und mit ihren Pferden wie verwachsen waren. Angeführt wurden sie von einem etwa dreißigjährigen Mann mit schwarzem Ringelbart. Er trug einen funkelnden Panzer und einen langen Purpurumhang. Hannibal! durchfuhr es den Konsul, doch bevor er einen Befehl geben konnte, brachen die Numidier in ihr Kriegsgeschrei aus. Die Erde dröhnte unter den Hufen. Die leichtbewaffneten römischen Fußsoldaten suchten angstvoll Schutz hinter der römischen Reiterei und trugen dadurch Verwirrung in ihre Reihen. Ein Befehl von Hannibal, und die Numidier änderten in vollem Galopp ihre Richtung und griffen die Römer in der Flanke an. Speere pfiffen durch die Luft. Entsetzensschreie und Schmerzensrufe waren die Folge. Der junge Publius befand sich noch immer nahe bei seinem Vater. Er sah, daß dieser sein Pferd ruckartig anhielt, in unnatürlicher Bewegung den rechten Ellenbogen hochriß und langsam zu Boden glitt. Die römischen Kavalleristen bildeten einen engen Kreis um den Verwundeten. Aber ihre Reihen lichteten sich, und das Kriegsgeschrei der Numidier klang schon in allernächster Nähe. Da sprengte Publius in rasendem Galopp auf seinen Vater zu, riß den Verwundeten blitzschnell zu sich aufs Pferd und jagte mit ihm dem römischen Lager zu. Seine Wangen brannten, der Wind pfiff ihm um die Ohren, das Herz klopfte vor Aufregung. Rechts und links ritten schützend die Liktoren des Vaters. Schon kam das römische Lager mit seinem Pfahlzaun in Sicht. Die Posten hoben den Balken, der das Tor ersetzte. Aus den anderen Toren marschierten schwerbewaffnete Infanterieeinheiten. Als die Numidier erkannten, daß sie die Flüchtlinge nicht einholen würden, machten sie kehrt. Behutsam ließ Publius seinen Vater vom Pferd gleiten und half ihm, sich auf einen Umhang zu legen, den ein Krieger auf der Erde ausgebreitet hatte. Der Legionsarzt kam, nahm dem Konsul die Rüstung ab und hob die blutgetränkte Toga, um ihn zu verbinden. Der Konsul wandte seinem Sohn das bleiche Gesicht zu. „Du hast nicht schlecht begonnen, mein Junge!" murmelte er.  Überläufer Die Floßbrücke, die die Römer noch vor dem Gefecht über den Ticino geschlagen hatten, war unbeschädigt geblieben. Die Räder des Reisewagens ratterten über ihre Bohlen und rollten dann lautlos auf der regenfeuchten Erde weiter. Publius deckte seinen Vater, der eingeschlafen war, sorgsam mit der Toga zu und sprang von der Kutsche ab. Vor ihm lag der breite Po. Die mit düsterem Wald bestandenen Ufer wirkten so traurig, daß ihm die griechische Sage von dem unbesonnenen Phaethon einfiel, dem Lenker des Sonnenwagens, der einstmals mit seinem Gefährt am Po zur Erde herabgestürzt sein soll. Ob jene Pappeln, die sich dort über den Fluß neigten, vielleicht Phaetons Schwestern waren, die in Pappeln verwandelt wurden und seitdem Bernsteintränen über ihren Bruder vergossen? Publius vernahm dumpfe Schläge. Die Legionäre zerstörten die Brücke, weil der Feind sie nicht benutzen sollte. Publius wandte sich wieder der Kutsche zu. Der Vater war erwacht. Besorgt musterte er den düsteren Wald und das jenseitige Ufer des Po. Nach der Niederlage am Ticino hatte er es nicht mehr eilig, den Feind zum Kampf zu stellen; im Gegenteil, er bemühte sich, jeder kriegerischen Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen, bis das andere Heer, das vom Konsul Sempronius befehligt wurde, aus Sizilien eingetroffen war. Am selben Tage erreichten die Römer Piacenza und schlugen dort ihr Lager auf. Während die Legionäre sich ausruhten, erhielt der Konsul die erfreuliche Nachricht, daß Sempronius sich ihm in Eilmärschen näherte und in Piacenza eintreffen würde, noch bevor Hannibal den Po überqueren konnte. Doch kurz darauf wurde bekannt, daß sich Hannibal schon mit seinem gesamten Heer diesseits des Po befand. Das war wie ein Wunder. Einige sagten, Hannibal hätte seine Elefanten am Oberlauf des Flusses in einer Reihe aufgestellt, um den Druck der Strömung abzuschwächen, und wäre dann mit allen Truppen hinübergewatet. Andere behaupteten, daß er aus den Booten italischer Gallier eine Brücke gebaut hätte. Auf jeden Fall hatte er es fertiggebracht, in zwei Tagen das zu schaffen, zu jeder andere Feldherr eine Woche gebraucht hätte. Das machte dem Konsul klar, daß Hannibal ihm trotz seiner Jugend an Erfahrung und Talent überlegen war. Er befahl, die Wachen zu verstärken, weil er einen unerwarteten Angriff fürchtete. Der Angriff fand dort statt, wo ihn niemand erwartete. Bei Tagesanbruch gellten Schreie durch das Lager. Der Konsul eilte aus dem Feldherrnzelt, auf die Schulter seines Sohnes gestützt. Er begriff nicht, was geschehen war. Die Wachen standen auf ihren Posten. Das Tor war geschlossen, die Lagerstraßen leer. Aber in den Zelten ging irgend etwas vor sich. Wer war der unsichtbare Feind, der unbemerkt ins Lager eingedrungen war? Die Hörner bliesen Alarm. Die Krieger rannten zum Feldherrnzelt und formierten sich. Ein Blick auf ihre Reihen genügte, um alles zu begreifen. Die Gallier und ihre römischen Offiziere fehlten. Als die konsultreuen Legionäre zu den Zelten stürzten, stellten sie fest, daß die Gallier spurlos verschwunden waren und die Offiziere als enthauptete Leichen zurückgelassen hatten. Jede Verfolgung war sinnlos. Die Mörder, die sich in dieser Gegend genau auskannten, hatten ihre heimatlichen Wälder schon erreicht. Ein weiterer Mißerfolg, dessen Folgen noch schwerwiegender sind als die Niederlage am Ticino! dachte der Konsul niedergeschlagen. Nun gab es an der feindseligen Haltung der Gallier keinen Zweifel mehr. Die Römer konnten sich nur noch auf die eigenen Kräfte verlassen. Schon in der folgenden Nacht verließen Konsul Scipios Legionen das Unglückslager und marschierten zur Trebia, einem Nebenfluß des Po, um sich mit dem Heer des Konsuls Sempronius zu vereinigen. Zur selben Zeit empfing Hannibal die gallischen Überläufer. Sie traten einzeln vor ihn hin und legten ihm die blutigen Häupter der Römer zu Füßen. Hannibal lächelte ihnen freundlich zu und schenkte jedem eine Handvoll Silbermünzen. „Geht heim", sagte er. „Mögen eure Eltern sich über die Befreiung ihrer Söhne freuen. Dieses Silber wird euch wohl in eurer Freude kaum stören, nicht wahr?" Der danebenstehende Dukarion machte ein verständnisloses Gesicht. Solche ausgezeichneten Krieger, die obendrein Überläufer waren und sich deshalb aus Angst vor der Bestrafung niemals in römische Gefangenschaft begeben würden, heimkehren zu lassen! Das war doch Unsinn! Als die Gallier gegangen waren, betrachtete Hannibal belustigt sein fassungsloses Gesicht. „Wenn diese Leute zu den Ihren heimgekehrt sind, werden sie meine besten Fürsprecher sein", setzte er ihm auseinander. „Jeder von ihnen wird drei, vielleicht sogar vier mitbringen, wenn er zu mir zurückkommt. Du hast mir deine Ergebenheit bewiesen, deshalb ernenne ich dich zum Kommandeur dieser künftigen Truppeneinheit." Hannibal hatte recht. Nach knapp einer Woche strömte eine gewaltige Menge Krieger auf das karthagische Lager zu. Und Hannibal nahm alle Ankömmlinge in sein Heer auf. Es waren siebentausend Mann.  Konsul Zeit Nach altem römischen Brauch wurde der Krieger, der einen Kameraden gerettet hatte, hoch geehrt. Außerdem war der Gerettete verpflichtet, ihn Vater zu nennen und ihm in jeder Beziehung gefällig zu sein. Aber ein Vater kann seinen Sohn schließlich nicht Vater nennen. So mußte sich der junge Publius damit begnügen, daß er den Schikanen seines Zenturios entronnen war und von nun an das Recht hatte, im Feldherrnzelt zu wohnen. Sein Vater lehnte jede ärztliche Behandlung ab und behandelte sich mit erprobten Hausmitteln, die in Kräutertees und Gebeten zu den Schutzgöttern der Familie bestanden. Als die Wunde am Arm dennoch nicht heilte, schickte er Kylon, einen in Capri geborenen griechischen Seefahrer, der in seinen Diensten stand, mit einem kunstvoll geschmiedeten Silberarm nach Antium, zum Tempel des Äskulap, der bei den Römern als Gott der Heilkunst verehrt wurde. Kylon sollte den Silberarm auf dem Altar des Gottes niederlegen und dadurch für den Konsul Genesung erbitten. Während Kylon unterwegs war, verband Publius seinem Vater die Wunde. Er pflegte den Verwundeten so liebevoll und sachkundig, daß dieser am liebsten öffentlich verkündet hätte: Meine Genesung habe ich allein meinem Sohn zu verdanken! - Aber er schwieg, weil er den Zorn der Götter fürchtete. Wenn er mit seinem Sohn allein war, teilte er ihm häufig seine Überlegungen mit und weihte ihn in seine Pläne ein. „Die größte Sorge macht mir das Schicksal der Legionen, die ich unter dem Befehl meines Bruders Gnaeus auf dem Seewege nach Iberien geschickt habe", sagte er. „Es ist unwahrscheinlich, daß Hannibal sein gesamtes Heer nach Italien geführt hat. Er muß doch wissen, daß er bei den Iberern ebenso unbeliebt ist wie wir bei den Galliern. Aber wen hat er als seinen Stellvertreter in Iberien zurückgelassen? Und wie viele Truppen? Wird es Gnaeus gelingen, in Iberien Fuß zu fassen und die Iberer zum Kampf gegen Karthago aufzurufen?" Publius war auch dabei, wenn sich sein Vater von den Kommandeuren über die im Lager eingetroffenen Verstärkungen, über die Stimmung unter den Truppen und über die Bewegungen des Gegners Bericht erstatten ließ, wenn er gefangene karthagische Kundschafter verhörte und die Abgesandten des Senats empfing, die sich nach seinen Schwierigkeiten und Absichten erkundigten. Eines Tages kam Sempronius, der zweite Konsul, sichtlich erfreut zu seinem Vater ans Krankenbett. „Du kannst mich beglückwünschen!" rief er. „Meine Legionäre haben die numidischen Reiter, als diese einen Raubzug unternahmen, bis zum karthagischen Lager verfolgt. Da hast du Hannibals unbesiegbare Reiterei! Sie flohen wie die Hasen. Meine Legionäre triumphieren. Ich habe ihnen die Siegesgewißheit zurückgegeben." Der Vater machte ein ungerührtes Gesicht. Dieses Ereignis schien für ihn ganz unwichtig zu sein. „Jetzt brauchen wir nicht mehr zu zögern", fuhr Sempronius fort. „Wir wollen unsere Heere vereinigen und den Feind gemeinsam schlagen." „Überschätze deinen Sieg in diesem Geplänkel nicht!" warnte Publius' Vater. „Du kennst Hannibal nicht. Er ist ein hinterlistiger, gefährlicher Feind. Wir müssen noch warten." „Warten? Worauf?" fuhr Sempronius hoch. „Auf den dritten Konsul mit seinem Heer oder darauf, daß die Gallier ganz und gar zum Feind überlaufen?" Publius wußte, daß die Bemerkung über den dritten Konsul nichts als Spott war - es gab in Rom nach dem Gesetz nur zwei Konsuln. „Vergiß nicht", erwiderte sein Vater gelassen, „daß ein Krieg nicht allein durch erfahrene, mutige Feldherren und ihre Heere entschieden wird, sondern auch durch andere Mächte. Ja, ich warte auf das, was du als dritten Konsul bezeichnest. Dieser Konsul wurde nicht vom Volke gewählt und vom Senat bestätigt. Dieser Konsul ist die Zeit, und seine Legionen sind die Tage, Wochen und Monate der Untätigkeit des feindlichen Heeres. Bedenke, daß Hannibal sich im Ausland befindet und daß es in Afrika keinen zweiten Hannibal gibt, der seinen Alpenübergang wiederholen und ihm Verstärkungen bringen könnte. Den Galliern wird bald die Lust vergehen, den gefräßigen karthagischen Heuschreckenschwarm zu füttern. Die Gallier sind ungeduldige Leute, sie wollen schnelle Siege sehen. Und wenn solche Siege ausbleiben, werden sie zu unseren Bundesgenossen." Unter widersprüchlichen Gefühlen lauschte Publius dem Streit der beiden Konsuln. Die klugen Einwände seines Vaters flößten ihm Achtung ein. Dennoch vermochte er als junger Kommandeur nicht zu begreifen, warum sein Vater sich nicht zur Schlacht stellen wollte, obwohl der Feind das Land verheerte und sich Rom unablässig näherte. In den früheren Kriegen hatte Rom doch auch mit der Waffe in der Hand den Sieg errungen! sagte er sich. Zweimal stellten sich unsere Vorfahren dem König Pyrrhos zur Schlacht, und beide Male erlitten sie schwere Niederlagen. Trotzdem wichen sie einer dritten Schlacht nicht aus, und diese entschied dann den Ausgang des Krieges zu ihren Gunsten. Bei einer späteren Gelegenheit legte Publius seinem Vater diese Zweifel dar. „Häufig lassen sich die Menschen von ihrem Ehrgeiz leiten", erwiderte der Konsul seufzend. „Sempronius findet den dritten Konsul höchst unwichtig, obgleich er Rom bestimmt den Sieg bringen wird. Sempronius denkt nur daran, daß die Konsulwahlen vor der Tür stehen und daß der Siegesruhm einem anderen zufallen würde, wenn er nicht wiedergewählt wird. Das fürchtet er, und aus diesem Grunde will er unbedingt eine Schlacht schlagen. Was für entsetzlichen Schaden kann ein einziger unvernünftiger Mensch doch der Republik zufügen, wenn ihm die höchste Macht übertragen ist!" Wenige Jahre später sollten alle Römer, auch der junge Publius, begreifen, daß es im Kampf gegen einen Gegner wie Hannibal tatsächlich keinen besseren Verbündeten gab als die Zeit. Doch einstweilen wirkte Vorsicht noch wie Feigheit und Unvernunft wie Tapferkeit. Der ehrgeizige Sempronius bauschte seinen unbedeutenden Erfolg dermaßen auf, daß er in Rom als echter Sieg betrachtet wurde. Obendrein ließ er durch seine Anhänger in der Stadt das Gerücht verbreiten, Konsul Scipio wolle deshalb keine Schlacht, weil er wegen seiner Verwundung nicht daran teilnehmen könne und zu verhindern trachte, daß Sempronius den Siegeslorbeer gewinne. Dieses Gerücht drang auch ins Feldlager, und wiederholt hörte der junge Publius, daß die Legionäre spöttische Bemerkungen über seinen Vater machten. Hannibal kannte die Stimmung der römischen Legionäre genau, und er freute sich, daß sich alles so entwickelte, wie er es geplant hatte. Magarbal, der Kommandeur der numidischen Reiterei, erhielt eine Belohnung dafür, daß er die Fluchtszene so meisterhaft ins Werk gesetzt hatte. Auch seine Reiter, die befehlsgemäß die Flüchtlinge gespielt hatten, wurden nicht vergessen. „Ich hätte nie gedacht, daß du uns für einen Rückzug auch belohnen würdest!" sagte Magarbal. Hannibal lachte. Er erklärte Magarbal nicht, wie erfreulich es für ihn war, daß er in den unerfahrenen und schlecht ausgebildeten römischen Legionären Siegeshoffnungen geweckt hatte. Fast die Hälfte seines eigenen Heeres bestand aus Galliern, um deren Stimmung er sich einstweilen noch keine Sorge zu machen brauchte. Da die Römer vor Überheblichkeit geradezu blind waren, da der Konsul Sempronius überdies eine erstaunliche Beschränktheit an den Tag legte und der viel scharfsinnigere Konsul Scipio wegen seiner Verwundung das Bett hüten mußte, hatte Hannibal in der Wahl von Tag und Ort der künftigen Schlacht völlig freie Hand. Mit erfahrenen Augen nahm er jeden Vorteil wahr, die ihm die zwischen seinem Lager und dem der Römer befindliche Tiefebene bot. Sie wurde durchschnitten von der Trebia, einem kleinen Fluß, dessen abschüssige Ufer mit Dornensträuchern bewachsen waren. Hannibal wußte, daß die Römer um jedes Waldstück einen Bogen schlugen, weil sich die italischen Gallier dort häufig in den Hinterhalt legten. Doch die strauchbewachsenen Flußufer würden bestimmt nicht ihren Argwohn erregen. „Sieh her!" sagte er zu Magon. „In diesem Dornengebüsch verbirgst du dich mit tausend Fußsoldaten und ebenso vielen Reitern. Vergiß nicht, ihnen zu befehlen, daß sie die blitzenden Rüstungen und Helme ausziehen und auf den Boden legen sollen." „Kann ich gehen?" fragte Magon. „Ja!" Hannibal nickte. „Nein, warte noch!" rief er dann. Magon blieb stehen. Nichts verriet einem Außenstehenden, daß Hannibal und Magon nicht bloß Feldherr und Untergebener, sondern auch Brüder waren, im Gegenteil - in der Öffentlichkeit behandelte Hannibal seinen Bruder bewußt kühl. Jetzt aber klang seine Stimme überraschend zärtlich. „Paß gut auf dich auf, Magon. Wir haben noch viele Schlachten vor uns. Stürz dich nicht als erster in den Kampf. Du bist kein Krieger wie jeder andere. Denke daran, was uns der Vater lehrte." Magon hob den Kopf. Tränen standen ihm in den Augen. Was hatte sie hervorgerufen? Die Erinnerung an den Vater und die ferne Kindheit oder Hannibals überraschende Freundlichkeit? „Geh und ruh dich aus", murmelte Hannibal. „Auch deine Krieger sollen sich noch ein Stündchen aufs Ohr legen." Er wurde wieder sachlich. „In der Nacht beziehst du die Stellung. Verstanden?"  Die Schlacht an der Trebia Ein römischer Legionär war nicht sehr gesprächig. Wenn man ihn fragte, wo er gekämpft und wofür er seine Kriegsmedaillen erhalten hatte und wo er verwundet worden war, erhielt man höchstens ein Gebrumm zur Antwort. Erkundigte man sich dagegen, welche Speisen er in bestimmten Ländern zu sich genommen hatte, wurde er plötzlich ungeheuer lebhaft und entwickelte eine ausgesprochene Rednergabe. Er konnte eine in Milch und Honig gedämpfte Gänseleber, marinierte Oliven oder einen Schweinebraten mit knuspriger Kruste so anschaulich beschreiben, daß seinem Zuhörer das Wasser im Munde zusammenlief. Das war übrigens kein Wunder. Denn woraus bestand das Leben eines Legionärs? Aus den Flüchen des Zenturios, aus Rutenstreichen, Verwundungen, Gefahr für Leib und Leben. Und dieses harte, mühselige Dasein wurde nur durch das Essen verschönt. Auch an jenem kalten Morgen, als die Krieger des Konsuls Sempronius frierend aus ihren Zelten krochen, dachten sie ans Essen. Was würde ihnen der Koch Mummius - möge Jupiter ihn mit seinem Blitz treffen - heute zum Frühstück geben? Seitdem sie aus dem sonnigen Sizilien in dieses rauhe, unwirtliche Land gekommen waren, hatte er ihnen nur Bohnensuppe vorgesetzt. „Mummius kocht uns schon bei Lebzeiten den Totenschmaus", sagten die Legionäre. Denn in Rom war es Sitte, den verstorbenen Ahnen an bestimmten Gedenktagen gekochte Bohnen aufs Grab zu legen. Aber diesmal roch der dampfende Kupferkessel nicht nach Bohnen, sondern nach Fleisch, und Mummius zwinkerte den Legionären verheißungsvoll zu, als sie sich mit ihrem Kochgeschirr bei ihm einstellten. Im selben Augenblick erklang das Alarmsignal. „Antreten!" schrien die Zenturionen. Wahrhaftig! dachte Sempronius. Die Karthager werden immer unverschämter! Ihre Reiterei treibt sich bereits dicht vor unserem Lager herum, und ihre Speere fliegen bis vor mein Feldherrnzelt. Offensichtlich will mich Hannibal zur Schlacht herausfordern. Kann ich mir diese Gelegenheit entgehen lassen? Zwar ist es noch reichlich früh am Morgen, und meine Legionäre haben noch nicht gefrühstückt. Doch das ist nicht so wichtig, dann werden sie eben nach der Schlacht mit um so größerem Appetit zu Mittag essen! Und der Konsul gab das Zeichen zum Angriff. Die Kavallerie und die Infanterie verließen das Lager. Auf Helmen wippten schwarze und rote Federbüsche. Speere und Schwerter blitzten. In Bewunderung betrachtete der Konsul sein eindrucksvolles Heer. Die Karthager hatten sich inzwischen bis zur Trebia zurückgezogen. Nachts hatte es in den Bergen geregnet. Der Fluß war angeschwollen. Die Legionäre wateten bis zum Gürtel im Wasser. Der Konsul befahl ihnen, sich an den Händen zu halten, damit sie von der starken Strömung nicht fortgerissen wurden; ihre Waffen und Rüstungen ließ er auf Packpferden übersetzen. Als die ganze Legion den Fluß überquert hatte, war es Mittag geworden. Die Sonne schien durch die Regenwolken. Aber sie hatte nicht die Kraft, die Krieger zu trocknen, die von der Kälte und obendrein vom Hunger wie erstarrt waren. Mummius, wo ist deine Bohnensuppe? Die Legionäre sehnten sich nach ihr wie nach dem Vaterhaus. Aber Mummius war mit seinem Kupferkessel am anderen Ufer dieses scheußlichen Flusses zurückgeblieben. Zur selben Zeit verließ Hannibal mit seinem Heer das karthagische Lager. Seine Krieger waren gesättigt und ausgeruht, sie hatten ihre Pferde gefüttert und sich am Lagerfeuer mit Öl gesalbt. Sie bildeten eine gerade Reihe. Die Reiterei besetzte die Flanken. Vor dem Heer marschierten die Kampfelefanten auf. Im Zentrum standen die balearischen Schleuderer, dahinter schlossen sich die Afrikaner, Iberer und Gallier an. Die Balearer empfingen die römischen Schützen mit einem so wohlgezielten Steinhagel, daß diese hinter ihrer schweren Infanterie Zuflucht suchten. Diese war durch ihre Helme und Schilde geschützt. Die Balearer konnten ihr nur wenig anhaben. Deshalb setzte Hannibal die Schleuderer gegen die römische Kavallerie ein, die in Verwirrung geriet, als sie mit den Steinen überschüttet wurde, und sich zur Flucht wandte. Die römischen Infanteristen im Zentrum widerstanden trotz Kälte und Erschöpfung dem Angriff der Elefanten. Sie ließen sie vorbei und stürzten sich dann von beiden Seiten mit Speeren und Wurfspießen auf die erschrockenen Tiere. Diese machten kehrt, und ohne das Können Richads und der anderen Treiber hätten sie die karthagischen Krieger zertrampelt. Auch an der linken Flanke standen gallische Truppen. Als sie das Signal zum Angriff vernahmen, warfen sie ihre Umhänge ab. Sie wollten die Feinde durch den Anblick ihrer muskulösen Arme erschrecken und ihre Verachtung gegenüber Wunden und Tod kundtun; vielleicht aber fürchteten sie auch, daß die Umhänge am Gesträuch hängenbleiben und sie im Kampf hindern würden. In der ersten Reihe standen Gallier, die alle eine goldene Kette um den Hals trugen - das Zeichen für ihre vornehme Abstammung. Unter ihnen befand sich auch Dukarion. Heute wollte er Rache nehmen für die Versklavung, für die Narben auf seinem Rücken! Rache! Seine Schwerthiebe prasselten. Rache! Aber der Ausgang der Schlacht wurde von der karthagischen Reiterei entschieden. Sie überrannte die römischen Kavalleristen, trieb sie bis zur Trebia zurück und umzingelte gleichzeitig die römische Infanterie, die im Zentrum immer noch tapfer kämpfte. Dann brachen Magons Reiter aus dem Hinterhalt hervor und griffen die Römer im Rücken an. Magon an der Spitze, auf die Mähne seines Rappens geduckt. Vergessen waren alle Mahnungen des Bruders, sich nicht als erster in den Kampf zu stürzen. Sein Schwert fuhr wie ein Blitzstrahl auf die Feinde nieder. „Zerschmettere sie, Magon!" flüsterte Hannibal, der die Schlacht von einem Hügel aus beobachtete. „Versenge sie wie unser heißer afrikanischer Wüstenwind!" Staubwolken verhüllten das Schlachtfeld. Als sie sich zerteilten, sah Hannibal, daß das Ufer der Trebia mit Leichen und zerbrochenen Waffen übersät war. Nur zehntausend Legionären mit Sempronius an der Spitze gelang es, die Umzingelung der Karthager zu durchbrechen und zu entkommen.  In Hannibals Zelt Als Dukarion eines Morgens zu Hannibal ging, stand vor dessen Zelt ein Krieger in knöchellangen Hosen und leichtem Umhang. Der Kleidung nach also ein Iberer. Der Unbekannte nahm den Helm ab, und der Morgenwind spielte in seinem rotblonden Haar. Dukarion kannte alle Freunde Hannibals, die Zugang zu seinem Zelt hatten, aber diesen Rotblonden sah er zum erstenmal. „Tritt ein, Dukarion!" redete der Mann ihn an und schlug höflich den Zeltvorhang zurück. „Woher kennst du mich?" fragte der Gallier erstaunt. „Ich bin Hannibals neuer Leibwächter. Er sagte mir, daß du kommen würdest, und beauftragte mich, mit dir zu reden." Besorgt trat Dukarion ins Zelt. Bisher hatte Hannibal immer ohne Mittelsmänner mit ihm gesprochen, wenn er seinen Rat einholen oder ihm einen Befehl geben wollte. Und das schmeichelte dem Gallier, erhob ihn über seine Stammesgenossen. Ob Hannibal mir zürnt? fragte er sich. Oder ob ihm etwas zugestoßen ist? Neben dem Eingang, auf dem Teppich, wo Hannibal zu schlafen pflegte, lag sein Schwert, von dem er sich niemals trennte. Verständnislos sah Dukarion es an. Noch besorgniserregender fand er die beiden Löcher in der Zeltwand, genau über dem Teppich. „Was ist Hannibal zugestoßen?" rief er entsetzt. „Woher stammen diese Löcher?" „Beruhige dich", erwiderte der Rotblonde, „und setz dich auf den Teppich. Hannibal lebt noch. Die Verschwörer haben sich verrechnet. Sie wußten nicht, daß der Feldherr Tag und Nacht keine Ruhe kennt." „Wer waren diese Verschwörer?" forschte Dukarion. „Die Spuren führen zum Zelt jener Gallier, die erst vor kurzem zu unserem Heer stießen, zu den Männern, die unter deinem Befehl stehen. Zudem bist du selbst ein Gallier. Du mußt am besten wissen, aus welchem Grunde die Gallier dem Feldherrn nach dem Leben trachten." „Hat dich Hannibal beauftragt, mir diese Frage zu stellen?" „Ja, das ist sein Wille, nein, seine Bitte", verbesserte sich der Rotblonde.  Dukarion überlegte. „Bist du schon einmal irgendwo zu Gast gewesen?" fragte er dann. Der Rotblonde nickte. „Dann müßtest du wissen", fuhr Dukarion fort, „daß der Hausherr den Gast, der nicht allzu lange bleibt, am höchsten schätzt. Ein Gast muß wissen, wann er zu gehen hat, weil sonst beim Hausherrn der Eindruck entsteht, als wollte er für immer in seinem Hause bleiben." „Ich verstehe, Dukarion", antwortete der Rotblonde. „Aber wenn der Hausherr seines Gastes überdrüssig wird, weshalb sagt er ihm das nicht offen ins Gesicht?" „Das könnte der Hausherr tun", räumte Dukarion ein. „Aber er kennt seinen Gast nicht genau und fürchtet, daß eine solche Offenheit dessen Zorn erregen würde. Dadurch" - er wies auf die Löcher im Zelt -„wollten die Gallier Hannibal warnen." „Und was rätst du ihm?" „Es steht mir nicht zu, Hannibal Ratschläge zu erteilen, doch wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich nicht bis zum Frühjahr warten, sondern unverzüglich nach Rom abrücken." „Vielen Dank für den Rat, Dukarion", sagte der Rotblonde. „Ich habe deinen Verstand und deine Ergebenheit schon immer geschätzt." „Du?" fragte Dukarion erstaunt. „Ich sehe dich zum erstenmal." Der Rotblonde lächelte, riß sich mit einem Ruck die Perücke ab, und vor dem verblüfften Dukarion stand Hannibal. „Mach kein so erstauntes Gesicht", lachte er. „Ich weiß, daß du mein Freund bist. Wenn ein römischer Konsul ums Leben kommt, wählen die Römer einen neuen. Doch wenn mir etwas zustößt, löst sich das Heer auf. Magon ist noch zu jung, Hasdrubal ist in Iberien. Deshalb wird von nun an ein rotblonder Leibwächter im Zelt des karthagischen Feldherrn schlafen. Hast du verstanden?"  Hagelschlag Die waldbedeckten Höhen des Apennins wirkten wie der zottige Rücken eines sprungbereiten Raubtieres. Furchtlos zog das Heer ihm über die schmale, gewundene Straße entgegen. An der Spitze gingen die Elefanten, ihnen schlossen sich die afrikanischen, gallischen und iberischen Fußsoldaten an. Den Schluß der Kolonne bildete die Reiterei. Es war ein klarer Wintermorgen, und die Sonne schien auf die Helme der Krieger und auf ihre blankgeputzten Schilde, auf die numidischen Pferde und die Proviantfuhrwerke, die die Gallier Hannibal zur Verfügung gestellt hatten aus Erleichterung darüber, daß ihr Dauergast endlich aufgebrochen war. Hannibal hatte beschlossen, die Poebene zu verlassen, ohne das Frühjahr abzuwarten. Er wußte, daß sich die Römer von den ersten beiden empfindlichen Niederlagen noch nicht erholt hatten. Je schneller er ihnen die dritte zufügte, um so begründeter würde die Hoffnung auf einen endgültigen Sieg sein. Dukarion kannte den Apennin genau, und er hatte versichert, daß dem Heer dort keine Abgründe oder feindliche Überfälle drohten, im Gegensatz zu den Alpen. Daraufhin hatte sich Hannibal trotz der winterlichen Jahreszeit zum Weitermarsch entschlossen. Gegen Mittag schoben sich schwarze Wolken vor die Sonne. Von den Felsenhängen kam ein kalter Hauch. Mit Schnee vermischter Regen peitschte den Kriegern ins Gesicht, daß sie nach Atem rangen. Augenbrauen und Bart bereiften, die nassen Kleider vereisten. Hannibal befahl, Zelte aufzuschlagen. Der Sturm riß sie ab. Wie gigantische Vögel klatschten sie mit den Schwingen ihrer Leinenbahnen. Kurz darauf fielen spitze Eisstückchen vom Himmel. Hannibal hatte schon früher von dieser seltsamen Naturerscheinung gehört, die man Hagel nennt, und jetzt spürte er sie auch am eigenen Körper. Die Hagelkörner prasselten auf Helme, Rücken und Knie der Krieger, die sich hastig die Schilde über den Kopf hielten und schutzsuchend zu überhängenden Felsen rannten. Nur die Balearer blieben mitten im Hagel stehen. Sie spähten unter der vorgehaltenen Hand zum Himmel. Viele nahmen sich sogar die Schnur vom Hals, als wollten sie ihre Kraft mit diesen unsichtbaren Himmels-schleuderern messen. „Lagerfeuer anzünden!" befahl Hannibal. Er wußte, daß schnelle Bewegungen jetzt die einzige Rettung für seine Krieger waren. Wenn er ihnen keine Arbeit gab, würden sie sich in Eiszapfen verwandeln. - Er schalt, befahl, drängte zur Eile. Hastig fällten die Krieger mit den Schwertern Sträucher und junge Bäume, die an den Felshängen wuchsen; kurz darauf loderten die Feuer auf. So dicht wie möglich hockten sich die Krieger davor, aber der ätzende Rauch trieb ihnen die Tränen in die Augen, und bei jedem Windstoß wurden sie von einem Funkenregen überschüttet. Dazu zuckten Blitze, und das Echo warf die Donnerschläge mit dreifacher Lautstärke zurück. Der Sturm hörte so schnell auf, wie er gekommen war. Die Wolken zogen ab, die Sonne schien wieder auf die Straße. Erst jetzt erkannte Hannibal, welch einen entsetzlichen Verlust das Heer erlitten hatte. Aus Angst vor dem Hagel hatten die indischen Treiber ihre Elefanten sich selbst überlassen - diese aber waren davongerannt und abgestürzt. Nur Richad hatte Sur nicht im Stich gelassen. Er preßte das Gesicht gegen die rauhe Haut des gewaltigen Tieres. In diesem wilden, fremden Land kam er sich unendlich einsam vor. Was gingen ihn Hannibals Pläne an! Er hatte alles getan, was von ihm verlangt worden war. Und daß von der aus fünfzig Elefanten bestehenden Herde nur noch das Leittier übrig war, lag nicht an ihm. Er streichelte Surs Rüssel. „Sur, mein Junge!" flüsterte er. Sur war ein Teil seines Vaterlandes, das fern, hinter Meeren, Bergen und Wüsten lag. Vielleicht würde er es niemals wiedersehen. Hannibal befahl, in das alte Lager zurückzukehren. Wer die von den Bergen hinabsteigenden Karthager sah, konnte annehmen, daß sie kurz zuvor eine schwere Niederlage erlitten hatten, denn sie taumelten vor Erschöpfung.  Der letzte Elefant Das Siebengestirn stieg am Himmel empor und wies den Schiffern den Weg. Von Süden blies ein feuchter Wind, der Föhn. Die Sonne leuchtete, von den Bergen des Apennins schäumten die Tauwässer und überschwemmten die Täler. Der Frühling war gekommen, heftig und ungeduldig, der erste Frühling, den Hannibal in Italien erlebte. Man sagt, der Frühling sei die Zeit der Liebesgöttin. Aber zu hören waren nicht die Seufzer verliebter Paare, sondern gluckerndes Wasser und schmatzender nasser Lehm, in dem Menschen und Pferde steckenblieben. Da waren keine Nachtigallenlieder, sondern das angestrengte Schnauben von Pferden und die Peitschenhiebe, die auf ihre nassen Rücken klatschten. Das Frühjahr ist auch die Jahreszeit des Krieges. Deshalb tauften die Römer den ersten Frühlingsmonat, den März, nach ihrem Kriegsgott Mars. In diesem Frühjahr hatte der furchteinflößende Mars einen ebenbürtigen Gegner erhalten, den Gott Melkart aus dem heißen Afrika mit seinen feurigen numidischen Pferden und dunkelhäutigen Reitern. Das karthagische Heer zog durch die Sümpfe der italischen Provinz Etrurien. Hannibal hatte erfahren, daß Flaminius wiederum zum Konsul gewählt worden war und ihm die Straße nach Rimini versperren wollte. Deshalb zog er quer durch die überschwemmten Täler. Plötzlich zuckte sein Pferd zusammen und begann zu taumeln. Er sprang aus dem Sattel, ohne die Zügel aus der Hand zu lassen. Das Pferd knickte in den Knien ein, versuchte mit einer letzten verzweifelten Anstrengung sich wieder aufzurichten und sank dann endgültig zu Boden. Tränen standen ihm in den sanften Augen. Dieses Pferd hatte Hannibal noch von seinem Vater zum Geschenk erhalten. Er erinnerte sich noch ganz genau an die Worte des Vaters: „Du mußt lernen, besser zu reiten als jeder andere." Diese weinenden Pferdeaugen hatten in die Flammen von Sagunt, auf die schäumende Rhone und auf die Schneegipfel der Alpen geblickt. Hannibal war so traurig, als würde er von seinem besten Freund verlassen. Niedergeschlagen erklomm er den Elefanten, den Richad lenkte. Erstaunlich, wie zäh Sur war! Er hatte sämtliche Elefanten überlebt. Die gewaltigen Knochen seiner indischen und afrikanischen Brüder bleichten nun in den Alpen und im Apennin. Nach hundert oder gar tausend Jahren würden die Menschen sie finden und staunend fragen: Haben hier einst Elefanten gelebt? Und dann würde man ihnen antworten, daß es in dieser Gegend niemals Elefanten gegeben hätte, ausgenommen jene, mit denen er, Hannibal, einst hergekommen war, um den Letzten Willen seines Vaters zu erfüllen. „Die Elefanten müssen Rom zertreten, hört ihr, junge Löwen?" hatte der Vater auf dem Totenbett gesagt. Und Hannibal hatte diese Worte vernommen, obgleich ihn zu jener Stunde viele Meilen von seinem Vater trennten. Er hatte die Elefanten über Berge, Flüsse, Sümpfe gegen Rom geführt. Von Surs Rücken aus konnte er das ganze Heer überblicken. Hinter den Afrikanern und Iberern marschierten die Gallier. Oft versanken sie bis zum Gürtel im Schlamm, den viele tausend Füße vor ihnen zerwühlt hatten, und würden vermutlich mit größter Freude auf sämtliche künftigen Beutezüge verzichten, falls sie die Möglichkeit zur Heimkehr hätten. Doch hinter ihnen ritt die Reiterei, von Magarbal und Magon befehligt; sie hielt jeden Flüchtling mit Gewalt zurück. Fünf Tage und fünf Nächte dauerte dieser Marsch. Klebriger Schweiß stand Hannibal auf Gesicht und Körper. Er war am Sumpffieber erkrankt. Man erzählte sich, daß die Bewohner dieser Gegend dem Fieber sogar Altäre errichteten und es wie eine Gottheit verehrten. Richad, der neben Hannibal saß, schlang ihm ein in Sumpfwasser getauchtes Tuch um den Kopf. „Vater!" schrie Hannibal mit ausgestreckten Armen. „Ich war außerstande, deinen Auftrag auszuführen! Sophonisbe stellte sich mir in den Weg. Masinissa verschwand in der Steppe, dort, wo die Elefanten grasen!" Richad hörte kopfschüttelnd zu. Hannibal phantasierte und sprach mit seinem Vater, der doch schon lange im Lande der Ahnen weilte. Er sprach von einer Sophonisbe. Wer mag das sein? überlegte der Inder. Dagegen war ihm Masinissas Name bekannt. So hieß doch der junge Numidier, der Sohn des Königs Gula, der einst das Seil durchgehauen hatte, mit dem ein störrischer Elefant an den Pfahl gefesselt gewesen war. Neun Jahre lag das nun schon zurück. Aber der Feldherr dachte noch immer an diesen eigensinnigen jungen Mann. Seltsam! Gegen Morgen schlief der Inder ein und erwachte erst, als Hannibal ihm die Hand auf die Schulter legte. „Weißt du, Richad", sagte er, „wir haben beide etwas verloren - du all deine Elefanten bis auf einen und ich ein Auge." Richad blickte auf. Hannibals rechtes Auge war stark entzündet. Aber man würde es noch retten können. Es brauchte Ruhe und gründliche ärztliche Behandlung. - Da nahm sich der Inder wortlos den schwarzen Stoffgürtel ab und verband seinen Feldherrn. Der schwarze Augenverband verlieh Hannibals Gesicht einen düsteren Ausdruck, aber Hannibal war froh. Er hatte sein Ziel erreicht - Flaminius umgangen und die Heere der beiden Konsuln gehindert, sich zu vereinigen.  Ein unerwarteter Angriff Es war ein trüber Morgen. Die Oberfläche des großen Sees dampfte wie eine Schale, unter der ein Feuer brennt. Langsam krochen die grauen Nebelschwaden in die Berge, verdeckten alle Umrisse, füllten Täler und Schluchten und zerstreuten sich erst auf den Gipfeln, die von den ersten Strahlen der Morgensonne getroffen wurden. Nichts störte die Stille. Nur manchmal klang ein schwermütiger Vogelschrei aus den schilfbewachsenen Uferwiesen. Doch dann klirrten Waffen. Maultiere schnaubten, Pferde wieherten, Räder knarrten. Dumpfer Marschtritt näherte sich, und bald konnte man hören, wie die Zenturionen die zurückbleibenden Legionäre mit heiserer Stimme beschimpften, ihnen mit Rutenstreichen drohten und den Zorn der Götter auf ihr Haupt herabwünschten. Das römische Heer kam auf der von Cortona nach Rom führenden Straße heranmarschiert, die an dieser Stelle an den Trasimenischen See stieß. Flaminius sprengte auf seinem Schimmel an den Soldaten vorbei. Er hatte es so eilig, daß er durch eine ungeschickte Bewegung ein Feldzeichen umstieß. Das galt als schlechtes Vorzeichen, aber Flaminius kümmerte sich nicht darum. Er hielt das Heer deshalb auch nicht an, um den Göttern ein Sühneopfer darzubringen. Mit seinen Gedanken war er völlig bei der bevorstehenden Schlacht. Als beschränkter Mann nahm er an, daß sich der Gegner so benehmen würde, wie er, Flaminius, es wünschte und für logisch hielt. Aber in Hannibals Vorgehen fand er diese Logik nicht. Zwar konnte er noch begreifen, daß Hannibal das Gebiet der Gallier deshalb so schnell verlassen hatte, weil er seine Verbündeten nicht mit Einquartierungen und Abgaben belasten wollte, und daß er einen Umweg um die Straße gemacht hatte und durch die Sümpfe gezogen war, um die nächste Schlacht in einer Tiefebene schlagen zu können und nicht in den Bergen, wo Servilius, der zweite neu gewählte Konsul, sein Lager aufgeschlagen hatte. Doch aus welchem Grunde zieht Hannibal in Eilmärschen weiter nach Süden, obgleich die etrurische Tiefebene, in der er sich zur Zeit befindet, für die Aktionen seiner Reiterei ein besonders günstiges Gelände ist? Will er Rom angreifen, obgleich er weiß, daß meine vier Legionen in seinem Rücken stehen? Oder hat er ganz einfach Angst gekriegt, als er erfuhr, daß ich der Oberbefehlshaber des römischen Heeres bin? Dieser Gedanke erfüllte Flaminius mit Stolz, und er richtete sich in den Steigbügeln auf und rückte seinen vergoldeten Helm zurecht. Ja, dachte er, meine Eltern waren nur Plebejer, aber dennoch hat Rom mir in einer Zeit höchster Gefahr sein Schicksal anvertraut! Kein einziger von diesen hochmütigen Patriziern, die stolz darauf sind, wächserne Ebenbilder von ihren Ahnen zu besitzen, kommandiert in meiner Armee auch nur eine einzige Hundertschaft! Nach meinem Sieg über die Gallier hatten sie mir den Triumph, den feierlichen Einzug in Rom, verweigert und sich dabei auf den angeblichen Willen der Götter berufen. Nun aber, da Hannibals Horden auf Rom losmarschieren, brauchen sie mich wieder und haben mich geradezu angefleht, Konsul zu werden! Flaminius lächelte höhnisch, als er sich vorstellte, welch saure Miene der ehemalige Konsul Publius Scipio ziehen würde, wenn er erführe, daß er, Flaminius, den angeblich unbesiegbaren Hannibal geschlagen hätte. Wo mag sich der Karthager wohl augenblicklich befinden? Vermutlich auf derselben Straße wie ich. Das macht nichts, er wird nicht weit kommen. Für ihn und seine Krieger sind die Ketten schon bereit, in die wir sie schmieden werden. Ich habe zehn Fuhren mit Eisenketten bei mir. Flaminius blickte sich um. Die Wagen, die im Zentrum der Marschkolonne fuhren, waren nicht zu sehen. Der vom Trasimenischen See heranziehende Nebel hatte sich verdichtet, und Flaminius konnte nur noch die verschwommenen Umrisse der vordersten Kolonne erkennen. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es schien aus der Luft zu kommen. Ein Hagel von Steinen und Speeren prasselte auf ihn und seine Soldaten herab. Ein Überfall! schoß es ihm durch den Kopf. Im selben Augenblick traf ihn etwas Schweres gegen den Helm. Er taumelte und klammerte sich mit beiden Händen an die Mähne seines Pferdes, aber das Tier war ebenfalls verwundet, es sank um. Er sprang aus dem Sattel, um nicht zerquetscht zu werden, und betastete sich den Kopf. Der Helm war weg, links über dem Ohr blutete es, aber der Knochen war anscheinend heil geblieben. Die Feinde griffen an. Wegen des Nebels konnte Flaminius nicht erkennen, wie viele es waren. An dieser Stelle wurde die Straße durch Felshänge eingeengt, so daß sich die Legionäre nicht zur Schlachtordnung formieren konnten. Die in der Mitte befindlichen Truppen versuchten, nach rechts und links auszubrechen, doch von dort kamen ihnen die anderen entgegen, auf der Flucht vor der karthagischen Reiterei. Viele Legionäre stürzten sich in den See, um zu den kleinen Inseln zu gelangen, die ungefähr eine halbe Meile vom Ufer entfernt waren. Während sie mit hochgehaltenen Waffen durch das Wasser wateten, wurden sie zur Zielscheibe der balearischen Schleuderer, die eine regelrechte Jagd auf die Wehrlosen veranstalteten. In ihrer Verzweiflung versuchten die römischen Legionäre zu schwimmen, wurden aber von ihren Rüstungen in die Tiefe gezogen. Andere versuchten, über die steilen Felshänge zu flüchten, rutschten aber ab und stürzten in die Tiefe. Viele baten die Karthager jammernd um Gnade. Aber auch sie starben unter den Schwerthieben. Wo der Konsul Flaminius stand, entspann sich ein erbitterter Kampf. Eine Gruppe von Legionären schützte ihn mit dem eigenen Leib. „Formiert euch!" brüllte er mit blutüberströmtem Gesicht. Die Legionäre bildeten einen Halbkreis und wehrten sich mit Todesmut gegen die andrängenden Gallier, deren Schwerthiebe pausenlos gegen ihre Schilde dröhnten. Dukarion beobachtete den Verlauf des Kampfes und hielt seinen Galliern den Rücken frei. Plötzlich richtete er sich in den Steigbügeln auf. Sein Blick war auf Flaminius gefallen. „Das ist er!" schrie er und stürzte sich ins dichteste Kampfgetümmel. Als die Sonne höher stieg, zerteilte sich der Nebel. Die Inseln im See und das gegenüberliegende felsige Ufer wurden deutlicher erkennbar. Magarbal verfolgte mit den numidischen Reitern jene Römer, denen es gelungen war, unter dem Schutz des Nebels zu fliehen. Hannibals Söldner begannen das Schlachtfeld abzuernten, wie sie sich ausdrückten. Das war die Entschädigung für die Wunden und Qualen der Schlacht. Am eifrigsten waren die Gallier. Sie machten sich nicht die Mühe, die Quersäcke der Legionäre durchzukramen, denn sie wußten, daß sie darin kaum etwas anderes finden würden als getrocknete Gerstenfladen, bronzene Rasiermesser, die vom langen Gebrauch schartig geworden waren, und ein paar Amulette. Sie suchten nach den Kommandeuren, die zum Zeichen ihres Ranges goldene Ringe an den Fingern trugen. Wenn Hannibal wissen wollte, wie viele römische Kommandeure in einer Schlacht ums Leben gekommen waren, brauchte er nur von den Galliern die Ringe zählen zu lassen, die sie gesammelt hatten. Langsam schritten der Baleare Tirnes und seine Schleuderer über das Schlachtfeld, schwere Eichenknüppel auf den Schultern. Die Wertsachen der Toten ließen sie liegen - sie hatten Angst, daß ihnen diese Dinge Unglück bringen würden. Sie suchten nach Landsleuten, um sie nach dem Brauch ihrer Väter zu begraben. Aber bevor sie das taten, brachen sie dem Toten mit ihren Eichenknüppeln die Beine, um ihn zu hindern, ihnen nachts als Gespenst zu erscheinen. Außerdem beschwerten sie sein Grab mit Steinen - erst dann fühlten sie sich endgültig vor ihm sicher. Hannibal stand auf einem Hügel, von wo er die Straße, die Bergkette im Norden, das Uferschilf und die spiegelglatte, graue Wasserfläche des Sees überblicken konnte. Eine Staubwolke näherte sich - Magarbais Reiter kehrten mit den Gefangenen zurück. Aus der Länge der Kolonne zu schließen, hatte Magarbal mindestens fünftausend Römer gefangengenommen. Ungeduldig spähte Hannibal nach Dukarion aus, der nach der Leiche des Konsuls Flaminius suchte. Er war neugierig, den Mann zu Gesicht zu bekommen, über den er in letzter Zeit soviel nachgedacht hatte. Am Fuße des Hügels hoben seine Krieger neben der Straße bereits ein Grab aus, in dem der Konsul zur letzten Ruhe gebettet werden sollte. Hannibal wollte ganz Italien kundtun, daß er seinen toten, tapferen Feinden ein ehrenvolles Begräbnis zuteil werden ließ. Als Hannibal Pferdegetrappel hörte, blickte er sich um. Es war Dukarion. „Wir haben das ganze Schlachtfeld abgesucht, Flaminius ist nirgendwo zu finden", meldete er hilflos. „Wo ist er denn geblieben?" forschte Hannibal verärgert. „Das weiß ich nicht!" Der Gallier zuckte die Schultern. „Wenn ich ihn nicht mit eigener Hand getötet hätte, würde ich annehmen, daß er geflohen ist." Hannibal wandte sich mit finsterem Gesicht ab. Das Verschwinden des toten Flaminius war ihm im Grunde gleichgültig. Er ärgerte sich über etwas anderes. Er hatte angenommen, daß nun die Stadtväter der italischen Städte zu ihm kommen würden, um ihm ihre Unterstützung im Krieg gegen Rom anzubieten. Doch niemand stellte sich ein. Wußten die Italiker etwa noch nichts von den beiden Niederlagen der Römer, oder war ihre Angst vor den Römern noch immer so stark, daß sie erst eine dritte Niederlage abwarten wollten?  Der Diktator Auf dem Janiculus, einem der sieben Hügel Roms, flatterten die Fahnen. Der Prätor, der als höchster Staatsbeamter galt, wenn die beiden Konsuln nicht in Rom weilten, hatte die Bürger auf dem Marsfeld zusammengerufen. Dort versammelten sie sich nach altem Brauch in Zenturien, die aus je hundert bewaffneten Bürgern im Alter von siebzehn bis sechsundvierzig Jahren bestanden. Unter den vielen tausend Römern, die an diesem Tag aus allen Teilen der Stadt und allen umliegenden Dörfern zum Marsfeld gekommen waren, befand sich auch der junge Publius. Er trug wie alle anderen eine funkelnde Kupferrüstung. In der rechten Hand hielt er den runden Schild, am Gürtel hing das kurze Schwert. Nach der Schlacht am Ticino war er mit dem Vater nach Rom zurückgekehrt. Der Vater war nun nicht mehr Konsul, sondern nur noch Senator. Als stolzer Patrizier, der Emporkömmlinge wie Flaminius verachtete, hatte er seinem Sohn verboten, unter dem Kommando eines Plebejers zu dienen. „Erst wenn das römische Heer wieder einen wirklichen Feldherrn erhält, werde ich dir erlauben, erneut die Waffen in die Hand zu nehmen!" hatte er gesagt. Publius fand, daß der Vater ungerecht gegenüber Flaminius war. Flaminius hat doch keine Schuld, daß seine Vorfahren Plebejer sind und in seinem Hause nicht ihre wächsernen Abbilder stehen! dachte er. Die Geschichte Roms kennt viele Beispiele für die hohen Tugenden von Niedriggeborenen. Zudem hat Flaminius durch seine Siege über die Gallier doch die höchste Würde erworben, die Rom zu vergeben hat, nämlich die Stellung eines Konsuls! Trotzdem stellte sich nur wenig später heraus, daß der Vater im Recht gewesen war. Flaminius hatte das römische Heer ins Verderben geführt -allerdings nicht wegen seiner niedrigen Herkunft, sondern wegen seiner Überheblichkeit. „Bürger!" Der Prätor hob ruhegebietend die Hand. „Es ist euch bekannt, daß unsere ruhmreichen Legionen schon wiederholt gegen Hannibal kämpften. Aber den Meldungen, die die Feldherren an den Senat sandten, ließ sich nicht immer entnehmen, wie die Schlachten ausliefen. Bis gestern glaubten wir noch, daß das römische Heer zwar keinen entscheidenden Sieg errungen, aber auch noch keine Niederlage erlitten hätte." Publius errötete. Er begriff, was der Prätor meinte. Weder sein Vater noch Sempronius hatten dem Senat die Wahrheit über die Schlacht am Ticino gesagt. „Jetzt ist Konsul Flaminius tot", fuhr der Prätor fort. „Er kann dem Senat keine Meldung mehr machen. Aber auch wenn er noch lebte, würde es ihm nicht gelingen, den Untergang der Legionen vor dem römischen Volke zu verheimlichen. Unser Staat ist in Gefahr. Nach unseren Gesetzen ist ein Konsul berechtigt, einen Diktator zu ernennen. Doch zur Zeit befindet sich kein Konsul in Rom. Servilius, der einzige jetzt noch lebende Konsul, ist mit seinen Legionen weiter von Rom entfernt als Hannibal. In Anbetracht dessen schlägt der Senat euch vor, einen Diktator zu wählen. Nach sorgfältiger Überlegung haben wir uns für Quin-tus Fabius entschieden. Nun müßt ihr euch darüber klarwerden, ob ihr ihm die Vollmacht eines Diktators übertragen wollt." Quintus Fabius! Publius kannte diesen gebeugten, kleinen Mann ziemlich genau. An Festtagen pflegte er das gastliche Haus von Publius' Vater häufig zu besuchen. In der lärmenden Runde der Gäste verhielt er sich immer unauffällig. Man erzählte sich, daß er einst in Sizilien und Gallien erfolgreich gekämpft hätte, doch er selber sprach nie von seinen Siegen. Er hörte lieber den anderen zu und machte auch dann ein freundlich aufmerksames Gesicht, wenn die betreffende Geschichte offenkundig erlogen war. Er verlor nie seine Würde, gleichgültig, ob er grüßte, aß, sich die Hände wusch; er heuchelte andererseits aber auch nie. Trotzdem stellte sich Publius den Feldherrn, der Hannibal besiegen würde, anders vor - kraftvoller, entschlossener, furchtloser. Die Bürger schritten zur Abstimmung. Zuerst traten die Mitglieder der achtzehn Ritterzenturien vor, die reichsten Bürger, die nach altem Brauch verpflichtet waren, ihr eigenes Pferd zu reiten. Zu diesem Zeitpunkt waren allerdings viele Ritter außerstande, sich ohne die Hilfe eines Sklaven aufs Pferd zu schwingen. Sie waren Großgrundbesitzer, Kaufleute, Wucherer und Steuerpächter. Zum Zeichen ihres hohen Ranges trugen sie einen goldenen Ring am Finger. Nach den Rittern stimmten die Zenturien erster Klasse ab, die Patrizier, zu denen auch Publius gehörte. Sie wählten Quintus Fabius einmütig zum Diktator, und die Zenturien der Plebejer folgten ihrem Beispiel. Es war üblich, daß der Diktator unmittelbar nach seiner Wahl eine Rede hielt, in der er seinen Mitbürgern für ihr Vertrauen dankte und versprach, sein Bestes zu leisten. Mit den Wahrzeichen seiner Macht - der Purpurtoga und einem Gefolge von vierundzwanzig Liktoren - trat auch Quintus Fabius vor die Römer hin. „Bürger!" rief er. „Wir erlitten unsere Niederlagen nicht etwa, weil unsere Brüder und Söhne feige gekämpft haben. Wir erlitten sie, weil wir die Götter mißachteten. Konsul Flaminius hielt es für überflüssig, ihnen Opfer zu bringen und einen günstigen Ausgang der Schlacht von ihnen zu erflehen. Um die Götter zu versöhnen, gelobe ich, ihnen den gesamten Zuwuchs an Ziegen, Ferkeln, Lämmern und Kälbern zu opfern, der in diesem Frühjahr in den Bergen und Tälern, auf den Wiesen und Weiden Italiens das Licht der Welt erblickt." Die Anklage gegen Flaminius ist lächerlich! dachte Publius. Er ist doch überfallen worden und konnte den Göttern deshalb vor der Schlacht kein Opfer darbringen! Trotzdem ist es sehr klug, was Quintus Fabius sagt. Er will dem Volk einreden, daß Rom nicht durch Hannibals Feldherrnkunst und die Tapferkeit seiner Krieger eine Niederlage erlitt, sondern nur deshalb, weil Flaminius die Götter mißachtete. Dadurch hat Quintus Fabius einen Schuldigen gefunden und gleichzeitig auch Maßnahmen zur Versöhnung der Götter eingeleitet. Er fuhr aus seinen Gedanken auf. Die Versammlung war beendet, die Römer gingen heim.  Rast am Ufer der Adria Die Räder des geschlossenen Wagens, in dem Hannibal den Schlaf der Erschöpfung schlief, ratterten auf etwas Festes und rollten gleichmäßig auf einer ebenen Fläche weiter. Hannibal erwachte und steckte den Kopf aus der Öffnung. „Halt!" rief er dem Krieger zu, der die Pferde lenkte. Das war die erste römische Pflasterstraße, die er zu Gesicht bekam. Und sie hieß Flaminische Straße nach dem Manne, der kürzlich in der Schlacht den Tod gefunden hatte. Die Römer bauten gute Straßen. Diese hier sollte Rom mit den gallischen Gebieten verbinden und deren Niederhaltung und Beraubung erleichtern. Die Römer hatten sich schon daran gewöhnt, ganz Italien zu beherrschen, und kamen überhaupt nicht auf den Gedanken, daß auch ein anderer ihre Straßen benutzen könnte. In drei Tagesmärschen hätte Hannibal die verhaßte Stadt, die ihre Straßen nach allen Seiten ausreckte wie ein Krake seine Arme, erreichen können. Aber das war noch zu früh. Seine Leute waren erschöpft, Kleidung und Schuhwerk waren verschlissen, die Pferde lahmten. „Diese gerade, glatte Straße ist nichts für uns", sagte Hannibal. „Wir müssen einen anderen Weg nach Rom finden." Nach einigen Stunden weiteren Marsches erblickte das Heer vor sich eine sonnenflimmernde Wasserfläche, die am Horizont mit dem Himmel verschmolz und mit Segeln wie mit Blüten besetzt war. Das Meer! Zum erstenmal nach den monatelangen Märschen durch Gebirge und Wälder hatten die Karthager wieder ihr vertrautes Element vor sich. Das Meer war von allen Seiten ihrer großen Heimatstadt zu sehen, und jetzt schien es seine Kinder mit ausgebreiteten Armen zu empfangen. Das Meer war Karthagos Mutter, und die Flotte war seine Wiege. Deshalb nannten sich auch Hannibals Vorfahren Nomaden der Meere. Mit ihren hochbordigen Segelschiffen bezwangen sie die Stürme, die - verblüfft über die Zähigkeit der Seefahrer - vor ihnen die grauen Häupter ihrer Wogen neigten. In unzähligen Buchten waren karthagische Seefahrer vor Anker gegangen, mit unzähligen Waren hatten sie den gierigen Rachen ihrer Laderäume vollgestopft, gegen unzählige Völker hatten sie gefochten. Häufig brachten sie die Bugspitzen feindlicher Schiffe, die wie die Stoßzähne eines Elefanten gebogen waren, als Siegestrophäen heim. Aber das Meer hatte Karthago verraten, war zu den Römern übergelaufen. Die karthagische Flotte mußte im vorigen Krieg mehrere schwere Niederlagen erleiden. Und die Aegatischen Inseln hatten das größte Unheil - den Untergang von Karthagos Seefahrtsruhm - mit angesehen. Ja, überlegte Hannibal, es ist sinnlos, das Schicksal noch einmal herauszufordern. Mein Vater Hamilkar hat das als erster erkannt. Er drehte dem Meer den Rücken und versuchte sein Glück an Land. Da Karthago keine Flotte mehr besaß, führte er den Krieg gegen Iberien auf festem Boden. Er schuf das aus vielen Völkerstämmen bestehende Heer und befahl mir, ebenfalls einen Landkrieg zu führen. Es ist doch seltsam! Damals wurden die besten Seeleute der Welt von Landratten besiegt, die noch nie ein Ruder in der Hand gehalten hatten, und jetzt besiegen Seeleute an Land die als unbesiegbar geltenden römischen Landtruppen. Ja, mein Vater hatte recht. Die Meeresgötter haben Karthago verraten und besitzen jetzt neue Günstlinge. Dennoch ist noch nichts verloren. Es gibt noch die Götter der Berge, der Wälder und Steppen. Mit ihrer Hilfe werden wir den Sieg erringen! Das waren Hannibals Gedanken, während er in Betrachtung des Meeres versunken war. Die erschöpften Krieger warfen sich am Strand hin und streckten erleichtert die wunden Füße aus. Dumpf brandeten die Wellen gegen die Ufersteine, die manchmal unter dem Wasser verschwanden und dann wieder mit glänzend schwarzem Buckel zum Vorschein kamen. Die Krieger fühlten sich im frischen Seewind wohl. Sie dachten nicht darüber nach, aus welchem Grunde das Meer Karthago verraten hatte. Der Baleare Tirnes betastete den Ledergürtel, in den er seine Ersparnisse eingenäht hatte - zwanzig Silbermünzen, die wegen des galoppierenden Pferdes, das darin eingeprägt war, Renner genannt wurden. Noch zehn Renner! dachte er, dann kann ich einen Bauernhof erwerben. Es würde auch nicht schaden, ein paar Sklaven zu kaufen. Während sie den Acker pflügen, könnte ich mit meinem Vater auf die Ziegenjagd gehen. Die Gallier aus Dukarions Abteilung grölten ein Lied. Sie hatten bereits die Keller des naheliegenden Dorfes durchsucht und dort so viel Wein gefunden, wie sie in einem Jahre nicht austrinken konnten. „Warum soll der Wein umkommen!" lachte Dukarion. „Rollt die Fässer an den Strand. Wir wollen die Pferde in Wein baden." Der Vorschlag wurde mit Freudengebrüll begrüßt. Die Afrikaner luden auf Hannibals Befehl die am Trasimenischen See erbeuteten Waffen von den Fuhrwerken. Er musterte sie und stellte fest, daß sie den karthagischen Waffen überlegen waren. Das spitze römische Eisenschwert war wegen seiner Kürze handlicher im Nahkampf. Schade, daß die gefährlichen römischen Wurflanzen nicht gegen die Römer zu gebrauchen waren, denn die lange dünne Lanzenspitze würde sich beim Aufprall auf die Schilde und Rüstungen verbiegen. Der römische Schild war etwas ungefüge, schützte jedoch den ganzen Körper. Er war mit Leinen und Kalbfell bezogen und mit Blechstreifen beschlagen, die die Schwerthiebe abhielten. Gut waren auch die aus Blechbändern bestehenden römischen Rüstungen. Am Strand wurden die Waffen zu Haufen aufgetürmt. Es waren so viele, daß sie für das ganze Heer ausgereicht hätten. Aber Hannibal ließ nur den Afrikanern, seinen erfahrensten, treuesten Kriegern, einige davon aushändigen. Die übrigen wurden ins Meer geworfen, um sie für den Feind unbrauchbar zu machen. Dann besichtigte er mit seinem Gefolge die in einer Bucht vor Anker liegenden kleinen Schiffe. Er schritt ein Deck ab, prüfte die Takelage und die Ruder und stieg in den engen Laderaum hinab, der höchstens zehn Faß Süßwasser und zwei Dutzend Ledersäcke mit Mehl faßte. Mit einem dieser Schiffe würde Magon nach Karthago segeln. Er sollte dort und auch in Iberien melden, daß sich Hannibal mit dem Heer am Ufer der Adria befände und Verstärkung brauchte. Denn sonst würde er nicht in der Lage sein, den Römern die entscheidende Niederlage beizubringen. Ja, sagte sich Hannibal seufzend, ich brauche unbedingt noch mehr numidische Reiter und Pferde. Falls Gula keine mehr hat, wird Syphax sie mir vielleicht zur Verfügung stellen, denn es ist durchaus möglich, daß er nun, nach der Schlacht am Trasimenischen See, seinen Sinn geändert hat und begreift, daß von den Römern nichts mehr zu erwarten ist.  Begegnung im Theater Publius nahm wieder einmal Abschied von Rom. In wenigen Tagen würde er in die Legion des Diktators Fabius eintreten. Das hatte der Vater vor seiner Abreise nach Iberien bestimmt. Aber bis dahin streifte Publius noch durch die Stadt. Auf einem seiner Streifzüge kam Publius auch ins Theater, wo nach dem Willen des Diktators Wettspiele auf dem Gebiet der Schauspielkunst stattfanden. Es lag am Palatinischen Hügel. Zu dieser Zeit besaß Rom noch kein ständiges Theatergebäude mit Bühne, Orchester und Zuschauerplätzen. Am Fuße des Hügels war nur ein überdachtes Holzpodium errichtet, und auf dem Hang, der sich davor erhob, versammelten sich die Zuschauer - die Senatoren stehend, weil sie ihre schneeweißen Togen nicht beschmutzen wollten, die Plebejer auf Matten sitzend, die sie sich von daheim mitgebracht hatten. Es wurde das Stück „Achilles" von Livius Andronicus aufgeführt. Es war eine lateinische Übersetzung der „Ilias" von Homer, jenes unsterblichen Versepos über den trojanischen Krieg, der zwischen den Griechen und Trojanern entbrannte, weil der trojanische Prinz Paris die wunderschöne Helena, die Gemahlin des griechischen Königs Menelaos, geraubt hatte. Dieser Krieg dauerte zehn lange Jahre. Er wurde auf beiden Seiten mit Tapferkeit geführt, aber er brachte beiden Völkern Tod und Jammer und endete mit der vollständigen Zerstörung Trojas. Allerdings war die lateinische Fassung des Werkes so weit vom griechischen Original entfernt wie die Erde vom Himmel. Um den Römern zu schmeicheln, die sich für die Nachkommen der Trojaner hielten, hatte Livius Andronicus im Gegensatz zu Homer den trojanischen Königssohn Hektor mit weit mehr Körperkraft ausgestattet als den griechischen Helden Achilles, und als die beiden ihren berühmten Zweikampf ausfochten, ließ er Achilles - auch im Gegensatz zu Homer - vor Hektor Reißaus nehmen, so daß dieser den edlen Griechen vielleicht sogar umgebracht hätte, wäre nicht eine jugendliche Gestalt vom Holzdach der Bühne herabgeschwebt, die dem trojanischen Helden von oben auf den Kopf schlug. Bei dieser Gestalt handelte es sich um Hera, die Gemahlin des Götterkönigs Zeus, die, wie alle Frauen im römischen Theater, von einem Mann dargestellt wurde. Die Zuschauer bekundeten jedoch keine übermäßig große Achtung vor der Göttin, denn sie bewarfen sie mit den Resten der Äpfel und Fladen, die sie sich vorsorglich mitgebracht hatten, weil die Theatervorstellungen vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang dauerten. Als Publius hinter sich Stimmen hörte, drehte er sich um. Ein etwa vierzigjähriger Mann kam den Hügel herabgehinkt. Er war schmutzig und offenbar seit Wochen nicht mehr rasiert. Fast konnte man annehmen, daß er in Trauer war, weil sich die Römer dann nicht zu rasieren pflegten, aber er machte ein ausgesprochen fröhliches Gesicht. Als er näher kam, sprangen viele Plebejer von ihren Plätzen und grüßten ihn lärmend. „Gnaeus Naevius! Sei gegrüßt! Setz dich zu uns!" „Ich danke euch, Freunde!" Gnaeus Naevius legte die Hand aufs Herz. „Verzeiht mein Aussehen. Aber im Gefängnis erhält man kein Rasiermesser. Als Schreibstift konnte ich meine Phantasie benutzen und als Papyrusrolle mein Gedächtnis. Aber ein Rasiermesser ist unersetzlich." „Deine Gedichte schneiden schärfer als jedes Rasiermesser!" rief ein Plebejer. „Du hast das hochmütige Patriziergeschlecht der Meteller so scharf mit ihnen rasiert, daß sich kein Meteller mehr in der Volksversammlung zu zeigen wagt!" Das ist also der gefürchtete Gnaeus Naevius! dachte Publius. Seine beißenden Verse gegen die Meteller sind noch immer in aller Munde. Er blickte zur Bühne hinüber. Dort saß Achilles in seinem Zelt, von düsteren Todesahnungen gequält. Priamos, der greise Trojanerkönig, trat leidgebeugt ein, denn er hatte mitansehen müssen, wie Achilles seinen geliebten Sohn Hektor tötete, den Leichnam an seinen Streitwagen band und ihn dreimal um die Stadt Troja schleifte. Sieger und Besiegter. Achilles und Priamos. Erbitterte Feinde. Aber beides Sterbliche. Der Greis kniete vor Achilles nieder, küßte dem Manne, der seinen Sohn umgebracht hatte, die Hand, um den Toten von ihm zu erflehen. Achilles stieß ihn nicht zurück. Er umarmte ihn und weinte mit ihm. Noch in Jahrhunderten werden die Sänger den Sieg über die Feinde rühmen. Aber es gibt etwas Größeres als Heldentaten. Das ist die Menschlichkeit. Sie triumphiert über das Böse, das die Sterblichen einander zufügen, über Feindschaft und Rache, über die Grausamkeit der Götter und sogar über das Schicksal. Das wurde dem jungen Publius klar, während er den Vorgängen auf der Bühne folgte. „Verzeih", redete er den Mann an, der sich kurz zuvor neben ihn gesetzt hatte. „Ich hörte, daß du dich Gnaeus Naevius nennst. Würdest du mir deine Meinung über das Stück und die Kunst der Schauspieler sagen?" „Sie spielen nicht gut!" rief Gnaeus Naevius. „Du hörst, daß dem Darsteller des Achilles die Stimme zittert und glaubst, das geschehe aus Mitleid mit dem unglücklichen Priamos, nicht wahr? Nein, vor Angst zittert ihm die Stimme! Der Sklave, der den Achilles spielt, fürchtet, daß die Zuschauer mit der Vorstellung unzufrieden sein könnten. In diesem Falle würde man ihn nämlich dermaßen verprügeln, daß er eine Woche lang nicht mehr sitzen kann. Die gleiche Angst haben auch die übrigen Schauspieler. Bei einem meiner Theaterstücke äußerten die Zuschauer so laut ihren Unwillen, daß der Aufsichtsbeamte befahl, die Vorstellung abzubrechen. Anschließend rissen die Liktoren den Schauspielern gleich auf der Bühne die Kleider vom Leibe und peitschten sie aus. Dieses Schauspiel gefiel den Zuschauern weit besser als das Stück. Sie gerieten vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen." „Du hast recht", erwiderte Publius. „Die Vorführung eines Faustkampfes geht den Römern über alles. Aber es ist doch die Aufgabe des Theaters, die Zuschauer zu erziehen. Die Griechen nannten es eine Schule für Erwachsene. Um das römische Volk zu belehren, brauchen wir Tragödien und Komödien, die aus seinem Leben gegriffen sind. Rom muß seine eigenen Dichter haben." „Rom kann keine eigenen Dichter erwarten, solange es die Wahrheit nicht verträgt. Du kennst vermutlich die Komödien des Griechen Aristophanes. Er schrieb sie zu Lebzeiten des athenischen Politikers Kleon, der beim Volk große Achtung genoß. Bei der Uraufführung der Komödie ,Die Ritter' war Kleon zugegen, und in der Gestalt eines frechen Gerbers, der mit den schlimmsten Schimpfworten belegt wird, erkannte er sich wieder. Ganz Athen lachte über ihn. Doch was machte er mit Aristophanes? Ließ er ihn köpfen? Ins Gefängnis werfen? Nichts von alledem, im Gegenteil, er verlieh ihm einen Lorbeerkranz. Aus diesem Grunde hatte Athen einen Aristophanes und auch Tragödiendichter vom Range eines Euripides. Rom dagegen besitzt nur so einen Nachahmet wie den Livius Andronicus." „Nein, Rom besitzt auch einen Gnaeus Naevius!" widersprach Publius, „und es liebt seine Gedichte. Jetzt erwartet es von ihm ein Poem über den Krieg gegen Hannibal." „Über diesen Krieg soll mein Enkel schreiben." „Dein Enkel?" wiederholte Publius verwundert. „Wie alt ist er denn?" „Einen Monat. Er kam an dem Tag zur Welt, als ich ins Gefängnis geworfen wurde." „Aber er weiß dann kaum mehr etwas von Hannibal und von den Schlachten, die er schlug! Auch die römischen Feldherren wird er nur noch vom Hörensagen kennen." „Das bringt ihm nur Vorteile. Es ist ungefährlicher, über Vergangenes zu schreiben. Und noch besser ist es, die Werke der Griechen zu übersetzen. Allerdings muß man sich dabei vorsehen, daß sich ein römischer Patrizier nicht etwa in der Gestalt des prahlerischen Kriegers, dieser typischen Figur der griechischen Komödie, wiedererkennt. Du rätst mir, über den Krieg gegen Hannibal zu schreiben, aber wie soll ich denn die Konsuln Scipio und Sempronius schildern, die ihre Niederlagen als Siege ausgaben?" Publius wurde rot. Gnaeus Naevius nahm sein Schweigen als Zustimmung, er fuhr fort: „Ja, Scipio und Sempronius hätten wenig Freude an so einem Poem, falls ich es schreiben würde. Dagegen würde es Hannibal mehr Vergnügen machen, denn er dürfte darin nicht schlecht wegkommen. Ja, es tut mir doch leid, einen so interessanten literarischen Stoff meinem Enkel zu überlassen. Vielleicht befasse ich mich selber damit. Aber wie soll ich über jemanden schreiben, den ich nicht gesehen habe? Was weiß ich von Hannibal? Daß er geschworen hat, ein ewiger Feind Roms zu sein. Und daß er nur ein Auge besitzt." „Als wir uns begegneten, hatte er noch zwei Augen", erwiderte Publius. „Aber ich weiß von Hannibal auch nicht mehr als du." „Du sahst Hannibal?" fragte der Dichter erstaunt. „Publius Scipio der Jüngere soll sich melden", schrie der Ausrufer. „Publius Scipio der Jüngere!"  Publius erhob sich.  „Leb wohl, ich werde gerufen."  „Du bist der Sohn des ehemaligen Konsuls?" fragte Gnaeus Naevius verblüfft. „Ach, ich Esel. Nie werde ich es mir abgewöhnen können, mich mit fremden Leuten zu unterhalten." „Keine Sorge!" lachte Publius. „Mich kann die Wahrheit nicht beleidigen. Ich freue mich, dich kennengelernt zu haben, und ich wäre glücklich, wenn wir uns wiedersehen und unser Gespräch fortsetzen könnten. Leb wohl!"  Im römischen Feldlager Fabius schlenderte an den schnurgeraden Reihen der Leinwandzelte vorüber. Er war nun schon seit einem Monat Diktator, und während der ganzen Zeit hatte er keine einzige ruhige Nacht verbracht. Die Diktatorwürde brachte ihm außer Ehre und Ruhm auch Aufregung und Schlaflosigkeit. Durch die Niederlagen hatte Italien das Vertrauen in die eigene Kraft verloren und sein Schicksal ihm, Fabius, in die Hände gelegt. Es erwartete, daß er es von Hannibals Horden befreite, aber was gab es ihm zu diesem Zweck? Ein paar tausend im Kriegshandwerk notdürftig ausgebildete Bauernjungen, mit denen er die erfahrenen iberischen und afrikanischen Fußtruppen und obendrein die gefährliche numidische Reiterei besiegen sollte. Auf dem Erdwall stand die dunkle Silhouette eines Postens, der sich auf seinen Speer stützte. Bei diesem Anblick mußte Fabius an seine Jugend denken, die er im römischen Feldlager in Sizilien verbracht hatte. Wie einfach war damals alles für ihn gewesen. Wachablösung und anschließend tiefer Schlaf. Jetzt dagegen kannte er keine Ruhe bei Tag und Nacht, als hätte Italien ihn als immer wachen Dauerposten eingesetzt. Das römische Feldlager lag auf einem Hügel, von dem man einen weiten Blick auf die Ebene, die verschwommenen Umrisse kleiner Wälder und Weingärten hatte. Vielleicht schlief Hannibal zu dieser Stunde auch nicht und war mit den Vorbereitungen eines neuen Überfalls beschäftigt. Hannibal will den Krieg so schnell wie möglich beenden! sagte sich Fabius. Denn jeder Tag seines Aufenthaltes auf fremdem Boden zehrt an seinen Kräften. Er ist ungeduldig, dieser Afrikaner, er hat heißes, südliches Blut. Im Kampf gegen ihn ist Geduld die beste Waffe. In den Zelten schnarchten die Legionäre. Sie waren erschöpft. Fast täglich mußten sie ein neues Feldlager bauen, Gräben ausschachten, den Erdwall mit Rasenstücken bedecken und mit einem Pfahlzaun absichern. Und wenn einmal kein Lager gebaut wurde, fanden sich genügend andere Arbeiten. Dann mußten sie Korn schroten oder mit einem Gemisch von Kreide und Essig ihre Waffen reinigen. In einem Zelt unterhielten sich zwei Legionäre. Fabius lauschte. „Wie lange sollen wir hier noch hocken wie die Glucke auf dem Nest? Es sieht fast so aus, als wollte das Schäfchen uns bloß zuschauen lassen, wie Hannibal Italien verheert." Schäfchen! Fabius lächelte trübe. Das war in der Schule mein Spitzname. Den kennt man also hier auch schon. „Was ist von ihm zu erwarten?" antwortete der andere. „Er würde sich am liebsten hinter den sieben Bergen vor Hannibal verkriechen. Der Kommandeur Minucius dagegen, der ist ein wahrhafter Held. Wenn der Diktator wäre, hätte Hannibal schon längst Reißaus genommen." Langsam ging Fabius zum Feldherrnzelt zurück. Wer sind diese Leute, die so verächtlich über mich reden? fragte er sich. Bauern oder Hirten? Auf jeden Fall stammen sie aus Italien, und Hannibal hat ihnen Heim und Familie geraubt. Nun warten sie auf den Kampf und vergessen dabei das Los, das Flaminius und sein Heer erlitten. Mögen die Götter ihren Irrtum verzeihen! Es ziemt sich nicht, daß ich zu einem Zeitpunkt, da sich das Schicksal des Vaterlandes entscheidet, den Beleidigten spiele. Schon Flaminius wurde von seinem Ehrgeiz ins Verderben geführt. Meinetwegen sollen die Legionäre mich für einen Feigling oder Verräter halten. Das wird mich nicht umstimmen. Gegen Morgen ging Fabius zur Ruhe, aber sein Schlaf war nur von kurzer Dauer. Ein lauter Wortwechsel vor dem Zelteingang weckte ihn. Jemand wollte ihn unbedingt sprechen; aber der Posten verwehrte ihm den Eintritt. „Warte draußen!" befahl er. „Der Diktator schläft noch." „Ich habe schon lange gewartet!" widersprach eine unbekannte Stimme. Fabius warf sich die Toga über und trat aus dem Zelt. Ein etwa vierzigjähriger hagerer Mann hinkte auf ihn zu. Er kam Fabius bekannt vor. „Sei gegrüßt!" sprach der Unbekannte. „Ich höre dich!" erwiderte Fabius. „Ich werde mich kurz fassen. Nimm mich in dein Heer auf." „Du solltest lieber daheim bleiben. Feldzüge und Schlachten sind nichts mehr für dich." „Das gleiche erwiderten die Spartaner dem hinkenden athenischen Dichter Tyrtäus", wandte der Unbekannte auf griechisch ein. „Doch dann ..." „Ich weiß, was du sagen willst", fiel Fabius ihm ins Wort. „Doch dann schrieb Tyrtäus seine Kriegsgedichte, die den Kriegern so viel Mut einflößten, daß sie ihre Feinde besiegten. Aber ich brauche deine Gedichte nicht, Gnaeus Naevius. Du bist etwas zu spät gekommen. An Flaminius hättest du dich wenden müssen." „Brauchen denn deine Krieger in diesen schweren Zeiten keinen Mut?" „Es gibt verschiedene Arten von Mut", antwortete Fabius ausweichend. „Die Dichter besingen nur jene Krieger, die sich in den Kampf stürzen. Ich aber will meinen Legionären beibringen, daß sie sich von jeder Schlacht fernhalten müssen. Nicht umsonst habe ich den Spitznamen Schäfchen. Verstehst du jetzt, daß du hier nicht am rechten Platz bist?" „Nein, denn erst jetzt begreife ich, daß mein Platz nur an deiner Seite sein kann. Weiß doch der Dichter besser als jeder andere, daß der Mann den meisten Mut braucht, der sich der allgemeinen Meinung entgegenstellt und Spott und Verleumdung über sich ergehen lassen muß. In Rom nennt man dich den Zauderer, aber in Wirklichkeit hast du den Namen Maximus - der Größte - verdient. Und ich bin überzeugt, daß unsere Nachfahren dich auch so nennen werden."  Wieder auf See An jenem Tag im Theater war der junge Publius in den Senat gerufen worden. Nein, man schickte ihn nicht ins Heer, wie er angenommen hatte. Er erhielt einen weitaus gefährlicheren und gleichzeitig auch ehrenvolleren Auftrag, den der Senat nur einem entschlossenen, zähen jungen Mann anvertrauen konnte, nicht aber einem hinfälligen, verkalkten Senator. Kurz, Publius sollte dem numidischen König Syphax, der mit den Römern verbündet war, eine Botschaft des Senats überbringen. Der Grieche Kylon, der als der gerissenste Seefahrer des ganzen Mittelmeeres galt, erhielt den Befehl, den jungen Abgesandten mit dem Schiff nach Numidien zu bringen. Und wieder wurde Publius vom Meer gewiegt, wieder plätscherten die Wellen gegen die Bordwände des Schiffes, in dem die Rudersklaven in drei Reihen übereinandersaßen. Delphine sprangen aus dem Wasser, schwarzköpfige Möwen schossen blitzschnell über die Wellen dahin. Bei Sonnenuntergang hatte das Schiff den Anker gelichtet, und als der Tag graute, erblickte Publius seitlich eine bewaldete Halbinsel, auf deren Spitze sich ein weißer Säulentempel erhob. „Das ist Antium!" rief der gesprächige Kylon ihm zu. „Siehst du, dort steht der Tempel des Äskulap, dem ich damals im Auftrage deines Vaters einen silbernen Arm opferte. Der Gott hat deinem Vater auch wirklich die Gesundheit zurückgegeben." „Du kennst ja alle Gegenden der Erde, Kylon", meinte Publius nicht ohne Spott. „Ich würde mich nicht wundern, wenn ich eines Tages erführe, daß du auch in die Unterwelt hinabgestiegen bist und sie, ähnlich wie der sagenhafte Held Odysseus, lebendig wieder verlassen hast." „Ich habe überhaupt vieles mit Odysseus gemeinsam", bestätigte Kylon ungerührt. „Beide kamen wir auf einer Insel zur Welt, beide wurden wir von rachsüchtigen Göttern verfolgt, beide waren wir Bettler und von unseren Freunden verlassen." Er überlegte. „Allerdings gibt es zwischen uns doch einen Unterschied", sagte er dann. „Welchen meinst du?" Publius lächelte. „Auf Odysseus wartete zwanzig Jahre lang seine Gemahlin, die edle Penelope, ich dagegen, den Göttern sei Dank, bin unvermählt. Ein Seemann braucht keine Penelope, er hat schon ohnedies genug am Halse. Er muß aufpassen, daß er nicht gegen ein Felsenriff fährt, nicht in einen Sturm gerät und keinen Piraten begegnet, daß sich keine Ratten im Laderaum und keine Muscheln am Schiffskiel ansiedeln, daß seine Seile nicht verfaulen und seine Segel nicht platzen. Und wenn es ihm gelingt, all das zu vermeiden, kommt ihm ein neues Unglück aufs Haupt. Zum Beispiel wird er nach Rom gerufen und erhält den Befehl: ,Kylon, fahre nach Numidien!' Den Leuten, die ihre Toga nur durch das Stillsitzen verschleißen, macht es ja keine Mühe, so etwas zu befehlen. Aber zur Zeit ist Krieg, und wenn die Karthager erfahren, wen ich an Bord habe, kümmern sie sich nicht darum, daß ich ein friedfertiger Grieche bin, sondern hängen mich da oben auf!" Er zeigte auf den Mast. „Aber du hast dir deinen gefährlichen Beruf doch selbst gewählt, deshalb solltest du den Senatoren auch keine Vorwürfe machen, daß sie dich mit einem gefährlichen Unternehmen betrauen. Zudem erhältst du zweihundert Goldstücke, falls du mich wohlbehalten nach Rom zurückbringst." „Was nützen mir die Goldstücke", brummte Kylon. „Aber um eins bitte ich dich: Falls man mich am Mast aufhängt, du aber wohlbehalten nach Rom zurückkehrst, dann, kaufe für die Goldstücke so viel Wein, wie sämtliche Seeleute von Capri austrinken können, während sie vor dem Auslaufen darauf warten, daß das Siebengestirn am Himmel erscheint. Versprichst du mir das?" „Ja", erwiderte Publius, „aber nur dann, wenn es mir gelingt, die Botschaft des Senats dem König Syphax zu übermitteln." Eine Insel glitt vorbei, die an der Mündung eines kleinen Flusses lag. Sie hieß Astura und war der Erholungsort des römischen Adels. Nach einigen Stunden sah Publius den weißen Gipfel des Vesuvs in der Ferne liegen, von Olivenhainen und Weinbergen umkränzt. Er gehörte zu der fruchtbaren Provinz Kampanien. Rechts von ihm erstreckten sich die Phlegräischen Felder, wo der Sage nach einst die Götter mit den Riesen kämpften. Und den Menschen blieb späterhin nichts anderes übrig, als dem Beispiel der Götter zu folgen und ebenfalls zu kämpfen. Das schöne Land am Vesuv hatte zahllose Eroberungszüge über sich ergehen lassen müssen, und jetzt waren die Karthager offenbar an der Reihe. Vor seiner Abreise aus Rom hatte Publius erfahren, daß Hannibal auf Kampanien zumarschierte. Vielleicht war er jetzt schon in Capua! Und Fabius? Ob er wieder zurückweichen würde? Ob er auch diese Provinz den Karthagern überlassen wollte? Das Schiff fuhr jetzt durch die Meerenge, die die Halbinsel Salerno von der Insel Capri trennte. Capri war Kylons Heimat. Mit den feurigsten Worten beschrieb er Capris Schönheit, aber sie verblaßten vor den leuchtenden Farben, vor dem Zauber der steinigen und grünen Hügel, die sich gegen den hellblauen Himmel abhoben. Südlich von Salerno wurde das Ufer höher und ging in eine bucklige dunkle Hügelkette über. Hier konnten sie schon auf eine Begegnung mit karthagischen Schiffen gefaßt sein, deshalb fuhren sie nur noch nachts. Tagsüber legte Kylon sein Schiff in einer versteckten Bucht des Westufers von Sizilien vor Anker. Dort betrachtete Publius den malerischen Ätna, der sein stolzes graues Haupt über die grünen Fluren erhob. Wahrscheinlich konnte man vom Gipfel des Ätna bis nach Karthago sehen. Aber außer dem weisen griechischen Philosophen Empedokles hatte es noch niemand gewagt, den Ätna zu erklimmen. Oben angelangt, hatte sich Empedokles in den feurigen Krater gestürzt, um seinen Verfolgern zu entrinnen, und am nächsten Tage, so erzählte man sich, hätte der Ätna dann seine Sandalen wieder ausgespien. Bei den Aegatischen Inseln wurde das Schiff von einem Wachboot der Karthager gestellt. Kylon befahl, die Segel zu bergen. „Was für Fracht hast du?" fragte der dicke karthagische Kapitän, als die Schiffe Bord an Bord lagen. „Friede sei mit dir, guter Mann!" gab Kylon zur Antwort. „Ich freue mich aufrichtig, einem Manne wie dir mitten auf dem weiten Meer zu begegnen. Manchmal fährt man eine ganze Woche, ohne ein einziges Segel auszumachen. Mit diesen Barbaren" - er zeigte auf Publius und die neben ihm stehenden Matrosen - „kann man sich doch nicht vernünftig unterhalten." „Fasel nicht soviel!" bremste der dicke Kapitän Kylons Redestrom. „Sag mir klar und deutlich, woher du kommst, wohin du fährst und was du im Laderaum hast." „Beim Herakles!" fuhr der schlaue Grieche ungerührt fort. „Seitdem Hannibal und seine Krieger wie Götter von den Alpen herabgestiegen sind, läßt es sich in unserem Neapel leben. Die Römer treiben keine Steuern mehr ein, und ihre Soldaten brauchen wir auch nicht mehr zu verpflegen. Ich besitze am Fuße des Vesuvs mehrere Weinberge und kann mich im Wein geradezu baden. Deshalb bringe ich zwanzig Tonkrüge davon nach Karthago; dort will ich sie verkaufen." „Ist der Wein gut?" Der Karthager wurde freundlicher. Kylon schnalzte mit der Zunge. „Echter Falerner, der köstlichste aller Weine. He, du", befahl er einem Matrosen, „lauf in den Laderaum und bring mir den versiegelten Krug, der dort in der Ecke steht." Der Matrose gehorchte, und Kylon überreichte den Krug dem Karthager. „Öffne ihn aber erst nach einer Woche!" prägte er ihm ein. „Solange muß der Wein nämlich noch lagern." „Leb wohl", sagte der Karthager. „Halte dich rechts, sonst fährst du auf ein Riff. Und falls du einem von unseren Schiffen begegnest, dann sage, daß du mit Heskon bekannt bist. Daraufhin wird man dich unkontrolliert weiterfahren lassen." „Mögen dir die Götter gnädig sein!" erwiderte Kylon und gab das Zeichen zum Segelhissen. Sie fuhren mit Rückenwind davon, und schon nach kurzer Zeit hatte sich das karthagische Wachboot in einen winzigen Punkt verwandelt. Kylon brach in schallendes Gelächter aus. „Was hast du?" forschte Publius. „Falerner"! Der Grieche platzte fast vor Lachen. „Der wird staunen, wenn er meinen Falerner kostet."  Beim Numidierkönig Syphax Cirta, die Hauptstadt des Numidierkönigs Syphax, lag auf einem Hochplateau mit steilen Felsenhängen und war nur im Südwesten über eine schmale Landenge zugänglich. Offenbar fühlte sich die Stadt nicht bedroht, denn auf der Zugangsstraße begegnete Publius keinem einzigen Bewaffneten. Zur Vorsicht hatte er sich von Kylon ein griechisches Gewand geliehen und sah nun wie einer der vielen griechischen Händler aus, die häufig nach Cirta kamen. Am Stadttor wurde Publius von einem jungen numidischen Krieger angehalten, der sich bis auf einen Schopf am Hinterkopf den Schädel kahlrasiert hatte, wie es hierzulande üblich war. Als er erfuhr, wen er vor sich hatte, führte er Publius höflich in die Stadt. Aus den achtungsvollen Blicken und Verbeugungen der Vorübergehenden schloß Publius, daß sein Begleiter mehr war als ein einfacher Krieger. Nach kurzer Zeit erreichten sie ein großes Gebäude mit flachem Dach, auf dem ein Blumengarten angelegt war. Publius wußte, daß sich die reichen Karthager von ihren Sklaven Erde auf die Dächer bringen und Blumen und Bäume darin einpflanzen ließen. Offenbar ahmte der Numidierkönig Syphax sie nach. Die Innenausstattung des Hauses bestätigte diese Vermutung. Wände und Fußböden waren nach karthagischer Art mit Teppichen bedeckt. Die wenigen Diener trugen so lange Gewänder, daß der Saum über den Boden schleifte und die Ärmel über die Fingerspitzen reichten. Unwillkürlich dachte Publius an die Sklaven im Hause seines Vaters. Sie trugen eine knapp bis zum Knie reichende Tunika - ein Unterkleid aus weißer Wolle -, die sie beim Arbeiten nicht behinderte. König Syphax empfing den römischen Abgesandten auf seinem Thron sitzend und in numidische Tracht gekleidet, eine Federkrone auf dem Kopf. Wortlos überreichte Publius ihm die Schriflrolle mit der Botschaft des Senats. Während Syphax sie umständlich studierte, blieb sein zerfurchtes Gesicht völlig ausdruckslos. Die Beschuldigung der Senatoren, daß er sein Wort gebrochen hätte, schien ihn ebensowenig zu beeindrucken wie ihr Versprechen, ihn mit Reichtümern zu überschütten, falls er ihnen mehrere hundert Berittene zur Verfügung stellte. Als er endlich mit der Lektüre fertig war, warf er die Schriftrolle beiseite, stieg von seinem Thron herab und legte Publius freundlich die Hand auf die Schulter. „Ich kenne deinen Vater", sagte er. „Er besuchte mich im selben Jahr, als Hamilkar von den Iberern getötet wurde. Zu jener Zeit war dein Vater noch ein junger Mann. Wenn man aber mit ihm sprach, erkannte man, daß er es weit bringen würde. Ich freue mich, daß der Senat dich zu mir sandte. Hat dein Vater noch mehr Söhne?" „Ich habe einen Bruder, der Lucius heißt", gab Publius sachlich Auskunft. Er ärgerte sich, daß Syphax ihn nach seinem Vater und seinen Verwandten ausfragte, anstatt auf die Bitten des Senats einzugehen. Syphax änderte den Gesprächsgegenstand. „Es gibt auf der Welt kein Volk, das tückischer wäre als die Karthager", begann er. „Ich würde Tage benötigen, wenn ich alle Kränkungen und Demütigungen aufzählen wollte, die sie mir zufügten. Seitdem sie den Krieg gegen euch begannen, werden sie allerdings freundlicher. Sie haben sogar Gulas Reich meinem Sohn Wermino versprochen." Er wies auf den Jüngling, der Publius zu ihm geführt hatte. „Aber ich weiß, daß sie es in Wirklichkeit Masinissa geben wollen." „Und wer ist Masinissa?" Publius tat, als hörte er diesen Namen zum erstenmal. „Die Götter schenkten Gula ein langes Leben, aber nur einen Sohn, der sich obendrein mit seinem Vater überwarf, seinen Palast verließ und sich seitdem im Lande der Schwarzhäutigen umhertreibt. Ich kenne den Wert der karthagischen Versprechungen!" fuhr Syphax zornig fort. „Meine einzige Hoffnung ist, daß ihr Römer es fertigbringt, ihnen den Hals umzudrehen! Dabei will ich euch nach besten Kräften helfen. In genau einer Woche werde ich dir mitteilen können, wie viele Reitet ich euch zur Verfügung stelle. Wir werden uns auch überlegen, wie wir sie mit Schiffen nach Italien schaffen können. In meiner Hauptstadt gibt es keine Truppen. Alle befinden sich an der Grenze zu Gulas Reich." Die Unterredung war beendet. Wermino führte Publius in ein Haus, wo ihn gutes Essen und ein Nachtlager erwarteten. Schlafen! Zum erstenmal seit Tagen in dem ruhigen Bewußtsein, daß er nicht auf einem karthagischen Schiff als Gefangener erwachen würde. Publius war über das Ergebnis seiner ersten Unterredung mit König Syphax zufrieden. Anscheinend wußte Syphax nichts von Flaminius' Niederlage, oder sie hatte an seinem Vertrauen auf die Macht Roms nichts geändert.  Der König wird umgestimmt Darüber, daß ausgerechnet Hanno sich erbot, mit Syphax zu verhandeln, wunderte sich nicht nur Magon, der in Hannibals Auftrag nach Karthago gekommen war. Auch viele Stadträte, die zu Hannos Anhängern zählten, konnten nicht begreifen, aus welchem Grunde er zu Syphax reisen und ihn um eine Reitereinheit für Hannibals Heer bitten wollte, obgleich er doch noch vor ganz kurzer Zeit diesem Heer den Untergang und seiner karthagischen Vaterstadt schreckliches Unheil prophezeit hatte! Weshalb wollte er außerdem Magon, den Sohn seines Feindes, in seiner Begleitung haben? Ob die Schlacht am Trasimenischen See auf ihn einen so tiefen Eindruck gemacht hatte? Oder fürchtete er, daß er von dem Beutestrom, der in Kürze aus Italien nach Karthago fließen würde, nichts abbekäme? Auf jeden Fall reiste Hanno nun zu Syphax. Begleitet wurde er von seiner Tochter Sophonisbe. Fünf Jahre waren seit jenem Tag vergangen, als sie dem jungen Masinissa vor dem Tempel der Tanit begegnete. Vieles war in diesen Jahren geschehen. Das von Hannibal geführte Heer hatte die eisbedeckten Berge überquert und war in Italien eingedrungen. Auf den Ebenen dieses Landes, das den Römern gehörte, hatten Schlachten stattgefunden, die von der ganzen Welt mit angehaltenem Atem beobachtet wurden. Doch von allen Ereignissen war nur ein schwacher Widerhall durch die Steinmauern von Hannos Palast gedrungen. Dadurch, daß Hanno den jungen Masinissa aus dem Haus gejagt hatte, fühlte sich Sophonisbe ihrem Vater entfremdet. Sie hörte kaum mehr zu, wenn er ihr nach alter Gewohnheit weitschweifig seine Pläne auseinandersetzte. Was ging sie Italien an, von dem er so häufig sprach. Ihr Herz weilte nach wie vor im Lande Masinissas. Und gerade in der Zeit, als sie zu der Überzeugung kam, dieses Land für immer verloren zu haben, teilte der Vater ihr mit, daß er mit ihr nach Numidien reisen würde. Das war also Masinissas Heimat, mit dem kniehohen Gras, den Wildpferden, der bläulichen Gebirgskette am Horizont! Würden die Vögel, die mit ausgebreiteten Flügeln am Himmel schwebten, Sophonisbe ihre Flügel leihen, dann würde sie sicherlich das Zelt finden, in dem Masinissa auf sie wartete, und dann würde sie niemand mehr trennen! An der Grenze zu Syphax' Herrschaftsbereich wurden Hanno und sein Gefolge von Reitern erwartet. An ihrer Spitze befand sich ein stämmiger, breitschultriger Mann - König Syphax. Er starrte Sophonisbe mit entzückten Blicken an, ohne Hanno zuzuhören, der ihn in wohlgesetzten Worten bat, dem karthagischen Staat eine Kavallerieeinheit zur Verfügung zu stellen. Oh, Vater, dachte Sophonisbe entsetzt, siehst du nicht, begreifst du nicht, daß Menschen, die diesen Ausdruck in den Augen haben, dir mehr als eine Kavallerieeinheit zur Verfügung stellen würden, um ihr Ziel zu erreichen? Hanno zwinkerte ihr lächelnd zu. Hab keine Angst, Töchterchen, sollte das heißen, ich würde dich niemals mit einem Numidier verheiraten. Aber warum soll man ihm das auf die Nase binden, bevor man genügend Nutzen aus seiner Verliebtheit gezogen hat? Am selben Tage erschien Wermino bei Publius. „Mein Vater läßt dir bestellen, daß er eure Bitte ablehnen muß", sagte er kurz. Das kam so überraschend, daß Publius die Kehle zugeschnürt war. „Aber er hat es uns doch schon zugesagt!" stieß er hervor. „Ich muß ihn sofort sprechen!" „Das ist unmöglich. Und für dich ist es am besten, Cirta auf dem schnellsten Wege zu verlassen, wenn du nicht gefangengenommen werden willst. Wir erhalten in den nächsten Stunden Besuch aus Karthago." Publius begriff, daß jedes weitere Wort nutzlos sein würde. Offenbar hatte Syphax von Flaminius' Niederlage erfahren oder durch andere Umstände seine Meinung geändert. Jedenfalls mußte Publius so schnell wie möglich den Hafen erreichten, wo ihn Kylon mit dem Schiff erwartete. Als er sich ungefähr eine Meile von Cirta entfernt hatte, hörte er in der Ferne Hufgetrappel. Man verfolgt mich! dachte er. Als aber die Staubwolke, die von den Pferdehufen aufgewirbelt wurde, näher kam, stellte er fest, daß es sich um zwei- bis dreitausend Reiter handeln mußte. Und, so sagte er sich, es ist unwahrscheinlich, daß man so viele Krieger aussendet, um einen einzigen Mann zu fangen. Trotzdem verließ er zur Sicherheit die Landstraße und legte sich in eine Grube. Von hier aus konnte er alles beobachten, ohne gesehen zu werden. Die Reiter kamen näher. Es waren Numidier, und an ihrer Spitze ritt ein Karthager, der über seiner Rüstung einen roten Umhang trug. Publius kam das Gesicht bekannt vor. War das Hannibal? Genauso hatte er am Ticino ausgesehen, als die Staubwolke verwehte und er den Römern von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Nein, Hannibal konnte sein Heer nicht verlassen. Er befand sich in Italien. Aber wer war dieser Mann, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah? Und auf welche Weise hatte er König Syphax umgestimmt? Und weshalb hatte Syphax sein Versprechen gebrochen? Was war der Grund?  Hannibal vor den Toren  Feuer in den Bergen Die Nacht versprach ruhig zu bleiben. Die römischen Posten horchten zum Lager der Karthager hinüber. Dort war alles still. Anscheinend hatte Hannibal nicht die Absicht, Kampanien jemals wieder zu verlassen. Es gefiel ihm hier wohl zu gut. Wo würde er auch einen besseren Platz zum Überwintern finden? Allerdings hielt Capua seine Tore noch immer vor ihm verschlossen, aber es war bekannt, daß die capuanischen Bürger nur auf eine gute Gelegenheit warteten, um ihn in die Stadt zu lassen. Doch was war das? Lichter leuchteten aus der Dunkelheit. Sie wurden immer größer und zahlreicher. Nein, Lagerfeuer waren es nicht. Sie bewegten sich vorwärts. Ein Lichtermeer. Es überflutete das Tal und näherte sich den Berghängen am Hohlweg, auf denen sich viertausend römische Legionäre verschanzt hatten. Sie sollten dem karthagischen Heer den Hohlweg versperren. Ihr Kommandeur sah das Lichtermeer und glaubte, die Feinde wären dabei, bei Fackellicht die Berghänge von hinten zu besetzen und den Römern in den Rücken zu fallen. Um das zu verhindern, teilte er seine Legionäre in zwei Gruppen auf und befahl ihnen, ihre festen Stellungen zu verlassen und zum Angriff vorzugehen. „Vorwärts! Oder soll ich morgen früh dem Koch befehlen, euch zur Strafe für eure Feigheit Gerstenbrot statt Weizenbrot zu geben?" Die Legionäre versuchten, an den Hängen hochzuklettern. Aber sie rutschten aus, zerschrammten sich an den Dornensträuchern Arme und Beine. Hier am Hohlweg waren die Hänge steiler als auf der Gegenseite, wo die Karthager aufstiegen. Schon waren sie heran. Die Römer zückten die Wurflanzen. Doch da erstarrten sie vor Verblüffung. Was ihnen entgegengerannt kam, waren keine Menschen, sondern Ochsen, die brennende Reisigbündel auf den Hörnern trugen. Der Wind blies in die Flammen, daß die Funken sprühten. Rasend vor Angst versuchten die Ochsen, das brennende Reisig abzuschütteln. Von hinten klangen die Rufe der Treiber, Peitschengeknall, Kriegsgeschrei. Die Ochsen wurden demnach von den Karthagern bergauf getrieben. Wie sollten die römischen Legionäre mit einem Feind kämpfen, der sich hinter Ochsen verschanzte? Hinter friedlichen Tieren, die es gewohnt waren, vor dem Pflug zu gehen oder Lasten zu ziehen? Aus Angst vor einer neuen List ergriffen die Römer die Flucht. Aber auf halber Höhe des Berges stießen sie mit der leichten karthagischen Kavallerie zusammen, und nur die Dunkelheit rettete sie vor der gänzlichen Vernichtung. Auch Quintus Fabius nahm die Feuer in den Bergen wahr, doch mit der ihm eigenen Besonnenheit befahl er seinen Legionären, das Lager nicht zu verlassen. Als es tagte, erkannte er, daß das karthagische Heer den Hohlweg besetzt hielt und seine mit Pferden und Maultieren bespannten Troßwagen in ununterbrochener Schlange hindurchfuhren. Die römischen Truppen dagegen waren spurlos von den Hängen am Hohlweg verschwunden. Er ließ die flüchtigen Legionäre vor seinem Feldherrnzelt antreten. Mit gesenktem Kopf standen sie da. Ihre Kleidung war zerfetzt, ihre Arme und Beine zerschrammt. Der Diktator trat vor sie hin, gefolgt von seinen Liktoren, die alle fast einen Kopf größer waren als er. „Das römische Volk hat mich mit gewaltiger Macht ausgestattet", sagte er und wies auf die Liktoren, die wie immer ihre Rutenbündel mit den Beilen bei sich trugen. „Aber ich werde euch weder zum Tode noch zu demütigenden Strafen verurteilen. Euch kann ich diesen Fehler verzeihen, mir jedoch nicht. Die Götter sollen entscheiden, ob ich der Macht noch würdig bin, mit der mich der Senat und das römische Volk betrauten. Deshalb will ich mich nach Rom begeben und nach altem Brauch die Götter befragen. Minucius wird euch in meiner Abwesenheit befehligen!" Er drehte sich um und ging langsam in sein Zelt zurück. Die Legionäre blickten ihm verwundert nach. Unter ihnen stand auch Gnaeus Naevius. Aber er starrte abwesend vor sich hin. Die Einfälle drängten sich in seinem Hirn, die ersten Zeilen fügten sich zu rhythmischem Klang zusammen. Sie kündeten von den nächtlichen Sternen, die über dem Hohlweg standen, von brennenden Reisigbündeln auf den Hörnern brüllender Ochsen, vom Geklirr der Waffen und den leisen Worten des Diktators. Es waren die ersten Verse des großen Poems, das Gnaeus Naevius schreiben würde, falls die Götter ihn am Leben ließen. Denn er hatte erkannt, daß dieser Krieg ebenso bedeutsam war wie jener, den Homer einst in seiner , Ilias" beschrieb. Die Nachfahren des trojanischen Helden Äneas, der aus dem brennenden Troja floh und nach langen Irrfahrten in Italien ansässig wurde, kämpfen nun gegen die Nachfahren der Königin Dido, die Karthago gründete und sich später aus Kummer über die Untreue des Äneas freiwillig auf dem Scheiterhaufen verbrannte! stellte Gnaeus Naevius fest. Aber was weiß ich eigentlich von den Nachfahren der Dido? grübelte er weiter. Daß sie schlau und rachsüchtig sind, mehr nicht. Obgleich Homer Grieche war, hat er die Trojaner, die Feinde der Griechen, nicht als Bösewichter geschildert, sondern als mutige, kluge, edle Männer, die ihre Väter, ihre Frauen und Kinder liebten. Auf welche Weise gelang es Homer, sich so tief in seine Feinde hineinzuversetzen? Hat er sich jahrelang bei ihnen aufgehalten, war er Augenzeuge, als der greise König Priamos weinte? All das ist mir unbekannt. Dagegen weiß ich genau, daß ich es nur dann mit Homers Gestaltungskunst aufnehmen kann, wenn ich die Karthager genauer kennenlerne, wenn ich von ihnen mehr sehe als Ochsen mit Feuern auf den Hörnern!  Der zweite Diktator Der römische Erdgott Consus liebt es, wenn zur Erntezeit fröhliche Stimmen über die Felder schallen, die Sicheln blinken und die reifen Ähren rauschend zu Boden sinken, wenn in den Scheunen die goldenen Garben aufgetürmt werden und am Schluß die Fuhrwerke durch die Straßen rollen, bespannt mit bekränzten Maultieren und Pferden. Aber in diesem Jahr konnte er sich an solchen Freuden nicht ergötzen. Eines Nachts verließen die Karthager ihr Lager, Sicheln und Stricke in den Händen. Sie schlichen zu fremden Feldern, um zu ernten, was sie nicht gesät hatten. Doch Consus bestrafte die Diebe. Ein römischer Chronist müßte jene Nacht tatsächlich nach dem Brauch seines Volkes mit einem weißen Stein - dem Zeichen für ein glückliches Ereignis - vermerken. Als die Karthager, mit Garben schwer beladen, schon fast das Tor ihres Lagers erreicht hatten, blitzten Schwerter über ihren Köpfen. Die Krieger des Minucius, die im Hinterhalt gelegen hatten, fielen über sie her, nahmen ihnen die Beute ab und schlugen sie in die Flucht. Die Nachricht von diesem Sieg erreichte Rom auf dem schnellsten Weg, und die Volkstribunen, wie man die Vertreter der Plebejer nannte, beriefen sofort eine Versammlung ein. „Zum Forum! Zum Forum!" schrien die Ausrufer durch die Straßen der Schuster, Kuchenbäcker, Kupferschmiede, Vergolder und Töpfer, denn in Rom wohnten die Handwerker voneinander gesondert. In ihrer Arbeitskleidung, der kurzen Tunika, noch mit Lehm oder Ruß, mit Kuchenteig oder Teer beschmiert, verließen die Männer ihre Werkstätten und strömten durch die engen, gewundenen Straßen zum Herzen der Stadt, dem römischen Forum. „Bürger!" begann ein Volkstribun. „Ich beglückwünsche euch zum Siege des Minucius! Als Kommandeur der Reiterei überfiel er mit seinen Truppen die Feinde, die die Dörfer Apuliens verheerten. Dabei wurden über hundert Karthager getötet und ebenso viele gefangengenommen. Unsere Krieger haben bewiesen, daß sie nicht nur imstande sind, befestigte Lager zu bauen und sich verlustlos zurückzuziehen, was der Diktator Fabius offenbar für die wichtigste Aufgabe hält, sondern daß sie es auch verstehen, die Feinde in die Flucht zu schlagen." Beifall rauschte über den Platz. Die Senatoren, die Fabius umringten, erschraken über diese Mißfallenskundgebung gegen den Diktator. Doch dieser zuckte nicht mit der Wimper. „Jetzt wißt ihr", fuhr der Volkstribun fort, „wer die Schuld trägt an unserem Unglück und an den Menschenverlusten, die fast jede Familie zu beklagen hat. Es sind die Patrizier! Sie benutzen diesen Krieg, um das Volk seiner Rechte zu berauben, es einem Diktator zu überantworten! Und jetzt ziehen sie den Krieg absichtlich in die Länge, um ihm die Macht zu erhalten. Kaum hat Fabius für kurze Zeit die Truppen verlassen, da errangen sie schon einen Sieg! Wir müssen den Diktator absetzen und einen tüchtigeren Mann an die Spitze des Heeres stellen. Dann könnte sich der Feind keinen Tag länger in Italien halten!" Beifällige Rufe dröhnten über den Platz. „Richtig!" riefen die Plebejer. „Fort mit dem Zauderer Fabius!" Trotz ihrer empörten Rufe erklomm Fabius die Rednertribüne. Die Plebejer ließen ihn nicht zu Wort kommen, beschimpften ihn als Feigling und Verräter. Eindeutig lehnten sie die Art seiner Kriegführung ab. Nachdenklich blickte Fabius zu ihnen hinab. Daß ihre Geduld erschöpft war, konnte er durchaus verstehen. Hannibals Söldner hatten die Felder der Bauern verheert, deshalb litten die Städter unter der Teuerung, der unausbleiblichen Folge jedes Krieges, dehalb wollten sie eine Entscheidungsschlacht so schnell wie möglich herbeiführen. Aber Fabius wußte, daß dies unmöglich war, denn eine solche Schlacht würde im gegenwärtigen Augenblick nur mit einer weiteren Niederlage enden. Das hatten er und seine Freunde den Römern oft genug gesagt, aber sie glaubten es nicht. „Ich werde auf diese Beschuldigungen keine Antwort geben", sagte er scharf, als er sich schließlich doch Gehör verschaffen konnte. „Ich habe Minucius das Heer anvertraut mit dem Befehl, sich nicht in eine Schlacht einzulassen. Er hat diesen Befehl nicht ausgeführt und wird dafür bestraft werden. Mehr habe ich nicht zu sagen." Es erhob sich ein unbeschreiblicher Lärm. Alle wußten, daß ein Diktator die Macht hatte, jeden Bürger in Ketten zu schlagen und ihn ohne Gerichtsverfahren hinzurichten. „Bürger, laßt Minucius nicht im Stich!" schrie der Volkstribun. „Nehmt Fabius die Macht und übergebt sie dem, der imstande ist, Rom zu retten!" Daraufhin faßten die Plebejer einen Entschluß, der in der römischen Geschichte einmalig war: Sie wählten Minucius zum zweiten Diktator mit den gleichen Rechten, die Fabius besaß. Als Fabius wieder bei den Truppen eintraf, platzte Minucius, sein ehemaliger Untergebener, fast vor Stolz. „Laß uns abwechselnd kommandieren!" schlug er Fabius vor. „Einen Tag ich, einen Tag du." Fabius schüttelte den Kopf. „Besser ist es, wenn wir die Legionen teilen", erwiderte er. „Ich behalte die erste und vierte, du nimmst die zweite und dritte." „Wie du willst", stimmte Minucius bereitwillig zu. „Aber merke dir, daß ich mich den Feinden stellen und sie bei jeder Gelegenheit angreifen werde." „Das ist deine Sache", versetzte Fabius kühl. „Dafür bist du Diktator. Aber vergiß nicht, daß du bisher nur einen Sieg über Fabius errungen hast, nicht aber über Hannibal." Auf diese Weise gab es nun in der Provinz Apulien zwei römische Lager, aus je zwei Legionen bestehend und von Feldherren befehligt, die miteinander verfeindet waren. Das erfuhr Hannibal schnell. Er beobachtete die Römer ununterbrochen und wartete ungeduldig auf die beste Gelegenheit zur Schlacht. Zwischen seinem und Minucius' Lager befand sich eine Anhöhe, die mühelos zu besetzen war und sich besonders gut als Standort für ein Lager eignete. Davor lag eine baumlose Ebene, die aber nur von weitem eben wirkte, in Wirklichkeit kleine Gräben und Senken hatte. Nachts befahl Hannibal einem Teil seines Heeres, in diesen Gräben und Senken Stellung zu beziehen, und als der Morgen graute, ließ er eine kleine Truppeneinheit offen die Anhöhe besetzen. Es war kennzeichnend für Hannibals Kriegskunst, daß er seinem Gegner falsche Vorstellungen von seinen Absichten vermittelte. Als Minucius sah, wie gering die Anzahl der Feinde war, schickte er seine leichte Infanterie und anschließend seine Kavallerie gegen die Anhöhe vor. Dann bemerkte er, daß Hannibal seinen Truppen Verstärkung schickte, und marschierte mit seinem ganzen Heer in Schlachtordnung auf. Er war der festen Überzeugung, daß die Karthager die Anhöhe erstürmen wollten, um ein Feldlager darauf zu errichten. Es entspann sich eine erbitterte Schlacht. Sie verlief mit wechselndem Erfolg, bis Hannibal den in den Gräben und Senken wartenden Kriegern das Signal zum Angriff gab. Sie sprangen hervor, stürzten sich mit lautem Kampfgeschrei von hinten auf den Feind und vernichteten die Nachhut des römischen Heeres. In den Legionen entstand eine unbeschreibliche Verwirrung. Vom Wall seines Lagers aus beobachtete Fabius das Geschehen. Als er sah, daß die Römer umzingelt waren und sich ihre Reihen lichteten, schlug er sich wütend aufs Knie. „Beim Herkules!" rief er. „Minucius stürzt sich schneller ins Verderben, als ich je angenommen hätte. He, Hornist! Blase Alarm!" Kurz darauf marschierten Fabius' Legionen mit flatternden Feldzeichen aus dem Lager. Die Karthager, die Minucius in den Rücken gefallen waren, sahen sich nun auch von hinten bedroht und ergriffen die Flucht. Das römische Heer war gerettet.  Der Weg ins Verderben Publius meldete dem Senat das Mißlingen seiner Mission und begab sich anschließend nach Apulien zum Heer. Es wurde nicht mehr von Fabius kommandiert, der sich nach Ablauf seiner sechsmonatigen Dienstzeit als Diktator wieder ins Privatleben zurückgezogen hatte, sondern von zwei neu gewählten Konsuln. Der Weg nach Apulien führte durch die Provinz Samnien, die von den Karthagern verwüstet worden war. In den Dörfern herrschte die Stille des Todes. Kein Huhn gackerte, kein Schaf blökte, keine Kuh muhte. Vieh und Geflügel waren von den Karthagern weggeschleppt oder von den Dorfbewohnern geschlachtet worden, damit den Feinden kein Proviant in die Hände fiel. Die Frauen, die ihre Wirtschaft mit Hilfe von wenigen überlebenden Sklaven besorgten, betrachteten den Reisenden ängstlich und mißtrauisch. Wann kehren unsere Männer und Söhne zurück? fragten ihre Blicke. Wann wird Italien befreit sein? Im Morgengrauen traf Publius in dem bei Cannae gelegenen römischen Lager ein. Es war eine richtige Stadt. Nur wenige italische Städte hätten es an Bevölkerungszahl mit ihm aufnehmen können. Viele Legionäre liefen zum Aufidus, um sich mit seinem eiskalten Wasser die Schlaftrunkenheit abzuspülen. Jenseits des Flusses bemerkte Publius den Wall und den Pfahlzaun des kleineren römischen Lagers. Auf der von Posten bewachten Pfahlbrücke, die beide Lager verband, herrschte lebhaftes Kommen und Gehen. Die beiden Lager machten sich kampfbereit. Vor dem Gerichtsplatz wurde Publius vom Konsul Aemilius Paullus angerufen. Er war schon über vierzig, hatte aber ein faltenloses Gesicht mit sanften runden Augen. Man sah es ihm nicht an, daß er fast sein ganzes Leben dem Kriegsgott Mars geweiht und schon als Jüngling an der Schlacht bei den Aegatischen Inseln teilgenommen hatte. „Welcher Wind weht dich her, Publius?" fragte er. „Wo ist die Kavallerie des Syphax?" Über Publius' Bericht schüttelte er niedergeschlagen den Kopf. „Das ist recht betrüblich", murmelte er. „Selbst tausend Reiter würden uns in der gegenwärtigen Lage einen unersetzlichen Dienst erweisen. Dir ist wohl auch bekannt, daß Hannibals Reiterei die unsrige an Zahl und an Ausbildung weit übertrifft. Die numidischen Reiter sind die besten der Welt." Er seufzte. „Ich bin es müde, mich mit meinem Kollegen Varro herumzustreiten. Er dürstet nach dem Kampf, genau wie seinerzeit Flaminius und Minucius. Hier aber sitzen wir mitten in einer Tiefebene, wo Kavallerieangriffe gefährlicher sind als etwa in den Bergen. Doch das ist Varro vollständig gleichgültig. Schon in Rom, auf dem Forum, als er noch keine Waffen trug, legte er das Datum der nächsten Schlacht fest. Ich habe das Konsulsamt nur auf Bitten des Fabius übernommen. Er hofft, daß es mir gelingen würde, Varro vor dem Abgrund zurückzuhalten, in den ihn die beiden Pferde Ruhmsucht und Dummheit unaufhaltsam ziehen. Aber ich würde wohl eher Hannibal besiegen können als einen Varro, und manchmal habe ich den Eindruck, daß mir hier nur noch meine Liktoren gehorchen!" Er sah Publius von der Seite an. „Warst du schon bei Varro?" „Nein", antwortete der junge Mann. „Genügt es nicht, daß ich mit dir gesprochen habe?" „Aha, du weißt noch nicht, daß wir das Heer abwechselnd kommandieren - einen Tag ich, einen Tag er. Heute ist sein Tag. Deshalb mußt du ihm unbedingt vom Ergebnis deiner Reise berichten." Publius war gezwungen, eine Weile vor dem Feldherrnzelt zu warten. Varro empfing gerade die Kommandeure, und seine scharfe Stimme drang wiederholt bis nach draußen. Als die Besprechung beendet war, kam er selbst aus dem Zelt. Vor Publius stand ein hochgewachsener Mann mit harten, wie aus Stein gehauenen Zügen und zerfurchtem rotem Hals. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein Zenturio, der sein ganzes Leben beim Militär verbracht hatte. Aber Publius wußte, daß Varro noch nicht lange im Heeresdienst war. Die römischen Plebejer hatten ihn nur deshalb in sein hohes Amt gewählt, weil ihnen seine Schmähreden gegen die Patrizier so gut gefielen. Er hielt das Schlachtfeld für eine Art von Forum, auf dem er wie zu Hause war und wo der Sieg dem gehörte, der die Mehrheit hinter sich hatte. Deshalb verließ er sich darauf, daß sein Heer größer war als das von Hannibal. „Wozu brauchen wir die Reiter des Syphax!" rief er. „In unseren beiden Feldlagern gibt es achtzigtausend Krieger. Hannibal dagegen hat nur vierzigtausend. Was hätten wir davon, unsere Kavallerie auf zweiundachtzig- oder dreiundachtzigtausend Mann zu erhöhen? Gar nichts!" Er fuchtelte mit den Fäusten. „Sieh dir an, was für ein ebenes Gelände wir hier haben! Trotzdem will Aemilius Paullus unbedingt ins Gebirge umziehen. Blindlings folgt er dem Beispiel des Zauderers, seines Freundes. Doch wie lange sollen wir noch warten! Wie lange sollen wir einer Schlacht ausweichen?" Während Publius zuhörte, kamen ihm die verwüsteten Dörfer Samniens und die verstörten Blicke seiner Bewohner wieder ins Gedächtnis. Ja, Italien wollte wirklich nicht länger warten, viele tausend Menschen waren Varros Meinung. Alle sagten: Schluß mit dem Abwarten! Es wird Zeit, die Klingen zu kreuzen! Aber aus welchem Grunde wirkten Varros grobe Stimme und seine Art, mit den Fäusten herumzufuchteln, so abstoßend? Weshalb stellte er Fragen und beantwortete sie selber, ohne seinem Partner Gelegenheit zu geben, auch nur den Mund aufzumachen? Und stand es einem Feldherrn nicht schlecht zu Gesicht, mit bloßen Zahlen zu argumentieren -achtzig, vierzig, dreiundachtzig? Er befand sich doch nicht mehr in der Kneipe seines Vaters, die am Forum lag! „Morgen ist der Tag des Aemilius Paullus", schloß Varro. „Doch dann bin ich wieder an der Reihe. Merke auf, Jüngling! Bald werden die Hörner Alarm blasen!"  Cannae Die Ebene, die Hannibal am Vortag von einer Anhöhe aus beobachtet hatte, war vollständig verändert: Das gesamte Gelände zwischen dem großen römischen Lager am diesseitigen Flußufer und dem kleinen Lager am jenseitigen Ufer war angefüllt mit Truppen, deren Waffen in den Strahlen der Morgensonne funkelten. Im Mittelpunkt des großen römischen Lagers wehte über dem Feldherrnzelt eine flammendrote Fahne. Demnach hatten sich die Römer entschlossen, eine Schlacht zu schlagen, und sie forderten ihn, Hannibal, offen dazu heraus. Immer neue Truppeneinheiten marschierten über die Brücke, die beide Flußufer und auch beide Lager verband. Noch nie hatte Hannibal ein so großes Heer zu Gesicht bekommen. Am Fluß nahm die römische Kavallerie Aufstellung, rechts davon die Infanterie, mehr tief als breit gestaffelt. Der linke Flügel wurde von der Reiterei der römischen Verbündeten gebildet. Aus dem kleinen Lager marschierten leichtbewaffnete Einheiten und stellten sich vor der schweren Infanterie auf. „Das ist ein Heer!" rief Magarbal entsetzt und verwundert. „Noch kein Sterblicher hat gegen eine so gewaltige Armee gekämpft." „Aber es gibt etwas noch Erstaunlicheres, das du übersehen hast", bemerkte Hannibal gelassen. „Was ist das?" Magarbal richtete sich in den Steigbügeln auf und folgte Hannibals Blicken. „Daß es in diesen vielen Legionen keinen einzigen Menschen gibt, den man Magarbal nennen könnte", erwiderte Hannibal so ruhig wie zuvor. Eine Lachsalve war die Antwort. Die Karthager freuten sich, daß ihr Feldherr der Gefahr gleichmütig ins Auge blickte. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als die karthagische Armee den Fluß überschritt und die von Hannibal sorgfältig durchdachte Schlachtordnung einnahm. Links am Ufer, gegenüber der römischen Kavallerie, stellten sich die gallischen und iberischen Reiter auf. Rechts davon schlossen sich die Kolonnen der Afrikaner an. Ihre Speerspitzen und Brustpanzer funkelten in der Sonne. Sie trugen die römischen Waffen, die Hannibal am Trasimenischen See erbeutet hatte, und ohne ihre bunten Kleider, die unter den Rüstungen hervorkamen, hätten sie wie Römer ausgesehen. Im Zentrum standen mit entblößtem Oberkörper die Gallier, in der Hand lange, oben abgerundete Schwerter, daneben die Iberer mit kurzen spitzen Schwertern und runden, aus Sehnen geflochtenen Schilden. Ihre weißen Gewänder leuchteten wie die schnee- und eisbedeckten Berggipfel ihrer heimatlichen Pyrenäen. An der rechten Flanke schlossen sich wieder afrikanische Kolonnen an, ganz am Rande standen die numidischen Reiter, von Magarbal kommandiert. Zwischen den Afrikanern und Galliern war ein freier Raum für die Balearer gelassen worden. Die Steine und Bleistücke aus ihren Schleudern pfiffen durch die Luft und krachten gegen die Schilde, mit denen sich die Römer schützten. Tirnes übereilte sich wie gewöhnlich nicht. Er zog sich die längste Schnur vom Hals und nahm einen Reiter aufs Korn, der mitten in der römischen Infanterie hielt und einen schimmernden Helm mit Federbusch trug - den gleichen Silberhelm, wie ihn Flaminius am Trasimenischen See auf dem Kopf gehabt hatte. Tirnes holte aus und ließ die Schnur zurückschnellen. Fast im selben Augenblick wankte der Mann mit dem Silberhelm im Sattel und sank zu Boden. Gemächlich hängte sich Tirnes die Schnur wieder um den Hals und kehrte zu seinen Leuten zurück. „Tirnes, du hast einen Konsul getötet!" schrien die Afrikaner. Der Baleare zeigte seine Freude nicht, obgleich er innerlich frohlockte; denn für einen getöteten Konsul zahlte Hannibal drei Barren Silber. Die berittenen Einheiten auf dem linken Flügel des karthagischen und dem rechten Flügel des römischen Heeres prallten aufeinander. Aber ein echter Reiterkampf entwickelte sich nicht. Keine Partei konnte den Gegner rechts oder links überwinden und einkreisen, weil sie an der einen Seite vom Fluß und an der anderen von der eigenen Infanterie behindert wurden. Unter lautem Gebrüll versuchten die Gegner, sich gegenseitig vom Pferd zu zerren. Es kam zu einem erbitterten Handgemenge, in dem nur wenige römische Kavalleristen am Leben blieben. Sie wurden abgedrängt und wandten sich zur Flucht. Einen anderen Verlauf nahmen die Ereignisse im Zentrum. Zuerst hielten die Iberer und Gallier dem Ansturm der Römer eisern stand. Dukarion kämpfte in der ersten Reihe. Sein entblößter Oberkörper ragte über einen Wall hinweg, der aus den Leibern der von ihm niedergemachten Feinde bestand. Sein langes Schwert sauste pausenlos nieder. Doch plötzlich merkte er, daß er allein stand. Neben und hinter ihm war niemand mehr. Alle anderen Gallier waren zurückgewichen. Gleichzeitig wurde er von einer frisch eingesetzten römischen Einheit angegriffen, die ein Mann mit blutigem Kopf befehligte. Nein, Tirnes hatte den Konsul nicht getötet, sondern nur verwundet. Es war Aemilius Paullus, der den Feind mit letzter Kraft zurückzudrängen suchte. Tatsächlich wandten sich die Gallier und Iberer zur Flucht. Da sie sich mitten im Kampfgetümmel befanden, wußten sie nicht, was rechts und links von ihnen geschah, und glaubten, daß die ganze Armee den Rückzug angetreten hätte. Verfolgt wurden sie von Schwertspitzen, die sich unerbittlich auf sie richteten, und von Männern, die buchstäblich über Leichen gingen. Alles ist verloren! dachte Dukarion entsetzt. Unsere Todesstunde hat geschlagen! Doch plötzlich stockte der römische Vormarsch. Die schnurgeraden Schwertreihen wurden unregelmäßig, lösten sich auf, wogten zurück. Es geschah das, was nur Hannibal vorausgesehen hatte. Die fliehenden Gallier und Iberer hatten die Römer nach sich gezogen - mitten hinein in das karthagische Heer. Die Afrikaner, Hannibals Stolz und Zuversicht, hatten Schulter an Schulter eine halbe Wendung vollführt, so daß ihre Schwerter sich nun gegen die Flanken der angreifenden und von ihrem Sieg schon überzeugten Römer richteten. Die karthagische Schlachtordnung glich jetzt einem Halbmond, der mit den Spitzen zusammenstieß und die Römer in einer bedrohlichen eisernen Umklammerung einschloß. Aber die Römer besaßen an der linken Flanke noch ihre Kavallerie. Sie hätte die Umklammerung an einer Stelle sprengen und sie mit kurzen, kraftvollen Schlägen in einzelne Teile zerhacken können. Doch statt dessen sprangen die Römer aus dem Sattel. Aus Pflichtgefühl und Kameradschaftsgeist wollten sie ihre Infanteristen nicht im Stich lassen und vergaßen dabei, daß sie in dieser Lage viel wirksamer zu Pferde hätten kämpfen können. Als Hannibal sah, daß die Römer absaßen, hob er die Hände zur Sonne, die sich schon gen Westen neigte. „O Melkart!" rief er. „Ich danke dir, daß du die Feinde ihres Verstandes beraubtest und sie mir mit gebundenen Händen und Füßen überlieferst!" Kurz darauf war das römische Heer endgültig umzingelt. Es verwandelte sich in eine wehrlose Menge um ihr Leben bangender Menschen, die keinen Befehl mehr befolgten und nur dorthin strebten, wo sie dem Tode zu entrinnen hofften. Doch überall stießen sie auf die Lanzenspitzen und Schwerter der Feinde. Das römische Lager auf der rechten Seite des Flusses, wo der Troß und mehrere tausend Legionäre zurückgeblieben waren, hielten sie für die letzte Hoffnung. Aber das Lager lag jenseits des Flusses. Deshalb flohen sie zum Fluß. Publius wurde von ihnen mitgerissen. Mit dem Schwert setzte er sich gegen die Kavalleristen seines eigenen Heeres zur Wehr, die sich rücksichtslos durch die Menschenmassen drängten und nicht darauf achteten, daß ihre Pferde auf die Verwundeten traten. Am Fluß sah Publius den Konsul Aemilius Paullus auf einem Stein kauern, die Hände an den Kopf gepreßt. Das Blut sickerte ihm durch die Finger und tropfte auf seine Toga. Publius stürzte zu ihm hin und versuchte, ihn aufzurichten. Aber Aemilius schob ihn zurück. „Laß das!" ächzte er. „Vergeude nicht deine Zeit mit mir! Melde den Senatoren, daß sie Rom befestigen sollen! Und richte Fabius aus, daß ich seine Ermahnungen getreulich befolgte!" „Die Götter brauchen deinen Tod nicht, Aemilius", redete Publius ihm zu. „Du trägst als einziger an diesem Unglück keine Schuld. Gib mir die Hand, ich will dir aufs Pferd helfen!" Aemilius schüttelte den Kopf. „Laß mich als Konsul inmitten meiner Soldaten sterben. Das ist besser, als in der Rolle eines Angeklagten vor dem Senat zu stehen." Die letzten Worte hörte Publius nicht mehr. Ein neuer Flüchtlingsstrom trieb ihn von dem Sterbenden weg. In der Erkenntnis, daß die Rettung nicht am jenseitigen Ufer zu finden war, wo die feindliche Kavallerie schon auf die Flüchtlinge wartete, sondern im Fluß selber, sprang er in das eiskalte Wasser und schwamm so lange, wie seine Kräfte reichten. Über das Schlachtfeld senkte sich die Nacht. Der Mond verschwand hinter den Wolken, als könnte er den entsetzlichen Anblick nicht länger ertragen. Seit er über die Erde wanderte, waren noch niemals so viele Menschen in einer Schlacht ums Leben gekommen. Im Morgengrauen trat Hannibal aus seinem Zelt und blickte zum Schlachtfeld hinüber. Dort lagen die Römer zu Tausenden, Infanteristen neben Kavalleristen, durch den Tod vereint. Einige Verwundete erwachten durch die Morgenkälte aus ihrer Ohnmacht, richteten sich zwischen den Leichenhaufen auf und flehten mit entblößter Brust um den Tod. Die Balearer und Gallier gingen einzeln oder in kleinen Gruppen über das Schlachtfeld. Sie gaben den Verwundeten den Gnadenstoß, nahmen den Toten den Goldschmuck und den Pferden das silberbeschlagene Zaumzeug ab. In der Nähe schachteten mehrere Gefangene, von Berittenen bewacht, eine lange tiefe Grube aus. In ihr sollten die achttausend gefallenen Krieger des karthagischen Heeres gemeinsam begraben werden. Zu Hannibal gesellten sich mehrere Kommandeure, unter ihnen auch sein Bruder Magon. „Freunde", sagte Hannibal, „von dieser Schlacht werden noch unsere Enkel und Urenkel berichten. Doch nun müssen wir ausruhen und neue Kräfte sammeln." „Wie kannst du jetzt von Ruhe reden!" brauste Magarbal auf. „Wir dürfen keinen Augenblick verlieren! Ich will mich mit der Reiterei sofort in Marsch setzen. Du folgst mir mit dem übrigen Heer nach. In vier Tagen werden wir in Roms Mauern unseren Sieg feiern!" Nachdenklich schüttelte Hannibal den Kopf. „Das ist noch zu früh." „Warum?" rief Magarbal. „Willst du etwa, daß auch dieser große Sieg den Krieg nicht beendet? Hast du die Absicht, Karthago aufzugeben und endgültig in Italien zu bleiben, ähnlich wie dein Vater, der seinen karthagischen Besitz verkaufte und sich in Iberien ansiedelte?" „Nein, es ist noch zu früh", wiederholte Hannibal nachdrücklich. „Aber ich danke dir für deine Bereitwilligkeit, Rom zu erstürmen." „Ich sehe, daß die Götter keinem Sterblichen restlos alle Begabungen schenken!" murmelte Magarbal bekümmert. „Du hast es gelernt zu siegen, Hannibal, aber du verstehst es nicht, deine Siege zu nützen." Hannibal antwortete nicht. Er wandte sich ab und schlenderte ans Ufer des Aufidus, wo die Numidier die Gefangenen zusammentrieben. Magon holte ihn ein, und wortlos gingen die Brüder nebeneinanderher. Am Fluß blieben sie stehen, um die Gefangenen zu betrachten. Viele waren verwundet, und alle hatten erschöpfte, teilnahmslose Gesichter. Plötzlich löste sich ein etwa vierzigjähriger Mann mit hagerem, unrasiertem Gesicht aus ihrer Mitte. Er starrte Hannibal so selbstvergessen an, als hätte er einen Gott vor sich. „Willst du etwas von mir?" fragte Hannibal in gebrochenem Lateinisch. „Du kannst griechisch mit mir sprechen", antwortete der Gefangene. „Bist du Grieche?" erkundigte sich Hannibal in dieser Sprache. Der Gefangene antwortete nicht, ließ aber noch immer kein Auge von Hannibal. „Warum schweigst du? Wenn du kein Römer bist, schenke ich dir die Freiheit." „Ich heiße Gnaeus Naevius", erwiderte der Gefangene, „und habe drei Naturen. Wenn ich an die Römer denke, die mir mein kampanisches Landgut nahmen, verfluche ich sie in kampanischer Sprache. Wenn ich mich darüber freue, daß ich am Leben geblieben bin, bete ich in griechischer Sprache zu den Musen. Aber meine Gedichte schreibe ich auf lateinisch." „Du bist also Dichter?" „Ja, ich wurde als Dichter bezeichnet, solange ich nach den Sagen Homers Theaterstücke schrieb. Seitdem ich aber Spottgedichte über das Patriziergeschlecht der Meteller verfasse, nennt man mich nur noch Naevius und ergänzt zuweilen: der Naevius, der im Gefängnis gesessen hat." „Was veranlaßte dich, Soldat zu werden, obgleich die Römer dich so schlecht behandelten?" „Ich wollte dich zu Gesicht bekommen. Der Dichter muß die Helden seiner Werke kennen. Ich will ein Poem über diesen Krieg schreiben." „Demnach habe ich schon einen eigenen Dichter!" lachte Hannibal. „Erinnerst du dich an unseren Unterricht bei dem griechischen Lehrer Sosylos?" sagte er zu Magon. „Wer wüßte noch etwas von Alexander von Makedonien, hätte niemand seine Heldentaten schriftlich festgehalten. Vielleicht wird die Nachwelt auch über mich nur aus den Büchern dieses Römers, Griechen oder Kampaniers etwas Näheres erfahren. Führe ihn zum Troß und laß ihm dort drei Fladen Brot und drei Becher guten Wein geben." „Ein Glück, daß er nur drei Sprachen spricht", lachte Magon. „Spräche er so viele Sprachen wie du, dann müßte er einen ganzen Weinschlauch austrinken." „Und wenn du ihn abgeliefert hast, dann komm zu mir zurück", schloß Hannibal. „Ich muß mit dir sprechen." Magon war klar, daß er wieder eine Reise nach Karthago machen sollte. Diesmal hatte er keine Lust, Italien zu verlassen; denn er war überzeugt, daß Hannibal nun bald in Rom einziehen würde, und wollte gern die Niederlage der Römer mit ansehen.  Tumult im Großen Rat Am ersten Tage nach der Ankunft in Karthago begab sich Magon in den Großen Rat. Sein Bruder hatte ihn beauftragt, den letzten Sieg zu melden und um Verstärkung zu bitten. Sein Bericht wurde von Beifall und freudigen Ausrufen der Stadträte unterbrochen. Alle schienen die Gefühle zu teilen, die er als Teilnehmer und Augenzeuge der großen Schlacht empfand. Aber das war nicht der Fall. Hanno erstieg die Rednertribüne. Seine tiefliegenden Augen blickten hart und verächtlich, ein höhnisches Lächeln umspielte seinen Mund. „Wiederholt hat man uns hier von den Siegen berichtet, die Hannibal errang", begann er. „Erst vor kurzem meldete man uns einen großen Sieg an einem See, dessen Namen ich vergessen habe. Dagegen erinnere ich mich noch genau, daß Hannibal uns damals um fünftausend Reiter bat und ich persönlich zu meinem Freund Syphax reisen mußte, um sie zu beschaffen. Nun erfahren wir wiederum von einem großen Sieg. Und diesmal werden doppelt so viele Reiter und doppelt so viele Silberbarren von uns gefordert. Noch ein Cannae, und unsere Stadt hat kein Geld und auch keine Soldaten mehr." Die Zuhörer lachten. „Richtig, Hanno!" rief eine Stimme. Von dem Beifall beflügelt, fuhr Hanno fort: „Ich verstehe dich, Magon, ein Sieg macht blind. Schon dein Vater warf mir vor, daß ich die Zahl der Meuterer, die ich getötet oder gefangengenommen hatte, aufbausche. Gut möglich, daß das wahr ist. Aber habt ihr schon jemals gehört, daß an einem einzigen Tage fünfundvierzigtausend Soldaten vernichtet wurden? Und schließlich - willst du uns nicht erklären, wie dein Bruder es fertigbrachte, in einer so ungeheuren Menge von Toten die gefallenen Senatoren und Ritter zu zählen?" Da warf Magon den Ratsherren wortlos einen kleinen Leinensack auf den Tisch. Im Saal wurde es still. Jeder glaubte, daß der Sack erbeutete Listen oder andere Beweisstücke enthielte. Aber als Magon die Verschnürung aufriß, fielen goldene Ringe heraus, Hunderte, Tausende von Ringen. Sie bedeckten den Tisch, einige rollten zu Boden, und hastig sprangen die Ratsherren hinzu, um sie aufzulesen. „Was soll das bedeuten?" riefen erstaunte Stimmen. „Die Römer tragen Ringe an den Fingern, genau wie wir", erwiderte Magon sachlich. „Doch im Gegensatz zu uns sind bei ihnen die Ringe keine Belohnungen für siegreiche Feldzüge, sondern Zeichen der Senatoren- oder Ritterwürde. Kein Römer trägt mehr als einen Ring. Diese Ringe wurden auf dem Schlachtfeld von Cannae gesammelt. Zähle nach, Hanno, wie viele römische Senatoren und Ritter in dieser Schlacht fielen." Die Ratsherren klatschten Beifall. Hanno antwortete nicht. Das Blut war ihm ins Gesicht geschossen. Wieder war es den Söhnen Hamilkars gelungen, die Zustimmung des Großen Rates zu erlangen. Wieder hatten sie ihr Ziel erreicht. „Zähle, Hanno!" rief Magon. „Was zögerst du? Du kannst doch so gut rechnen! Bist du so ungeduldig, deinen Anteil an der italischen Beute zu erhalten? Du kommst mir vor wie ein Wucherer, der Prozente haben will, ohne etwas verliehen zu haben." Die Worte trafen Hanno wie Hammerschläge. Er konnte ihnen nicht ausweichen. Unter den spöttischen Blicken der Ratsherren verließ er den Saal. Es war ein Sieg Hannibals und seiner Brüder, der scherzhaft als zweites Cannae bezeichnet wurde. Mit großer Mehrheit beschloß der karthagische Rat, Hannibal viertausend numidische Reiter, vierzig Elefanten und tausend Barren Silber zu schicken. Magon erhielt den Auftrag, nach Iberien zu fahren und dort zwanzigtausend Infanteristen und viertausend Kavalleristen zu sammeln. Dieses Heer sollte ebenfalls nach Italien geschickt werden. Freudig erregt verließ Magon den Großen Rat. Vor dem Ausgang wartete ein Reiter. Sein Schimmel scharrte ungeduldig mit den Hufen. Bewundernd betrachtete Magon das herrliche Pferd. In den Jahren, die er in Hannibals Heer verbracht hatte, waren ihm viele schnellfüßige Renner vor Augen gekommen. Aber er konnte bei Melkart schwören, daß sich darunter kein so edles Pferd befunden hatte. Es war weiß wie Kreide; und kein anderes Pferd hatte wohl so starke, schlanke Beine. Magon war dermaßen in die Betrachtung des Schimmels vertieft, daß er nicht auf den Reiter achtete, der einen Umhang aus Leopardenfell auf dem wohlgebauten, hageren Leib trug. Er mochte höchstens dreißig Jahre alt sein. „Sei gegrüßt, Magon!" sagte er und sprang aus dem Sattel. „Ich habe dich sofort erkannt." Magon warf ihm einen forschenden Blick zu. Nein, er sah dieses Gesicht zum erstenmal. „Woher kennst du mich?" fragte er. „Magon gleicht seinem Bruder", antwortete der Unbekannte ausweichend. „Hast du unter Hannibal gedient? Aber weshalb erinnere ich mich nicht an dein Gesicht?" „Weil ich deinen Bruder kennenlernte, als dein Vater noch lebte und Hannibal noch kein Heer besaß. Ich heiße Masinissa." Magon schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Mein Bruder spricht häufig von dir. Er hat mir aufgetragen, nach dir zu suchen. Aber in ganz Karthago konnte mir niemand sagen, wo du dich aufhältst. Es hieß, du seist verschwunden." „Wo ich war, weiß nur Merges." Bei seinem Namen wandte das Pferd den schönen Kopf mit den klugen Augen nach seinem Herrn, und als Masinissa ihm die Hand auf den Hals legte, trat es in freudiger Ungeduld von einem Fuß auf den anderen. „Aber Merges kann nicht reden", fuhr Masinissa fort. „Wenn er auch die Menschen besser versteht als ich. Afrika ist groß. Noch kein Sterblicher hat seine Grenzen ausgemessen. Ich und Merges lebten dort, wohin bisher noch kein numidisches Pferd die Hufe setzte. Wir waren im Lande der Berge, wo die Felsen bedeckt sind mit den Bildern von jenen Menschen, die dort in grauer Vorzeit mit Jagdwagen, mit Speeren und Pfeilen auf Gazellen und Nashörner Jagd machten. Wir streiften durch unwegsame Wälder. Über unseren Köpfen funkelten fremde Sterne, die bisher noch kein Mensch des Mittelmeeres erblickte." „Du hast unrecht, Masinissa. In jenem Lande, wo die fremden Sterne funkeln, weilte schon vor dreihundert Jahren Hanno, der Seefahrer." Bei dem Namen Hanno fuhr Masinissa zusammen. „Von diesem Hanno hörte ich noch nicht", erwiderte er dumpf. „Aber ich kenne einen anderen Hanno. Seinetwegen blieb ich fünf Jahre lang der Heimat fern. Jetzt bin ich nach Karthago zurückgekehrt, weil ich seine Tochter nicht vergessen kann." „Weiß Hanno, daß du in Karthago bist?" „Diesmal hat er mich nicht hinausgeworfen wie vor fünf Jahren. Er gestattete mir sogar, sie wiederzusehen." „Meinen Glückwunsch, Masinissa! Ich freue mich, daß du dein Glück errungen hast. Falls ich noch länger in Karthago bleibe, will ich bei deiner Hochzeit zu Gast sein." „Bei meiner Hochzeit", wiederholte Masinissa traurig. „Es ist noch zu früh, von Hochzeit zu sprechen. Hanno hat mir eine Bedingung gestellt. Ach, hätte er das doch vor fünf Jahren getan! Dann würde ich Hannibals ganzen Feldzug mitgemacht haben." „Und wie lautet die Bedingung?" „Hanno sagt, daß seine Tochter ihm zu schade zur Heirat mit einem Unbekannten sei. Er will mich nur dann mit ihr vermählen, wenn ich König oder ein berühmter Kriegsheld geworden bin. Bringe mich deshalb zu Hannibal. Das war seit jeher der Wunsch meines Vaters. Er wird sich freuen, wenn er erfährt, daß ich ein Krieger geworden bin. Möge er noch hundert Jahre leben! Ich will mein Glück nicht seinem Tode verdanken, sondern nur mir selbst!" „Dein Entschluß ist richtig. Aber es wird noch eine Weile dauern, bis ich zu Hannibal zurückkehre. Ich habe den Befehl, mich nach Iberien zu begeben, wo mein Bruder Hasdrubal gegen die Römer kämpft, ihm beizustehen und dort ein Heer aufzustellen. Wenn du willst, mache ich dich zum Kommandeur der Reiterei. Mit diesem Heer wollen wir über die Pyrenäen und die Alpen nach Italien ziehen." Masinissa nickte zustimmend.  Abschied Offenbar hatte Masinissa einen langen Ritt hinter sich. Sein Umhang war staubbedeckt, sein Pferd glänzte vor Schweiß. Aber seine Augen strahlten Sophonisbe an. Sie streichelte Merges den Hals. „Vorsicht, daß er dich nicht beißt, er ist wild", sagte Masinissa hastig. Aber das Pferd stand unbeweglich, schielte Sophonisbe nur von der Seite an und schnaubte. Sie lachte. Der verblüffte und etwas erschrockene Ausdruck in Merges' Augen erinnerte sie an ihre erste Begegnung mit Masinissa vor dem Tempel der Tanit. Er hatte damals ein ähnliches Gesicht gemacht, so als wäre nicht sie, Sophonisbe, sondern die Göttin selbst aus dem Tempel getreten. Und wie komisch er sich bei dem Streit mit dem Vater benommen hatte, dieser Jüngling mit dem langen Namen, der wie der Schrei eines Steppenvogels klang. „Merges hat keine Angst vor dir", Masinissa strich dem Tier über die Mähne. „Er merkt, daß ich dein Freund bin. Dort aber" - er wies auf Hannos Palast - „weiß man das nicht. Dort glaubt man, ich würde dir etwas zuleide tun, und will, daß ich auf dich warten und erst einmal meine Tapferkeit im Kampf gegen eure Feinde, die Römer, beweisen soll. Das will ich tun. Doch danach werden wir immer beisammen sein." „Immer?" wiederholte Sophonisbe. „Ja. Ich werde mich niemals von dir trennen. Wir werden zusammen auf die Jagd reiten, nebeneinander im Gras liegen und in die Sterne schauen. Du weißt, jeder Mensch besitzt seinen Stern, den die Götter zur selben Zeit schufen wie ihn. Wenn der Stern fällt, stirbt der Mensch. Dein Stern ist wahrscheinlich schöner und leuchtender als jeder andere. Nachts betrachte ich häufig den Himmel und suche ihn. Ich habe das Gefühl, wenn ich ihn fände, würde ich dich niemals verlieren. Aber am Himmel stehen so viele Sterne! Sie funkeln auf, erlöschen, wechseln die Plätze, als wollten sie mich verspotten, und hüllen sich in einen blauen Vorhang, so daß ich sie nicht mehr sehen kann." „Ich will dir meinen Stern zeigen", sagte Sophonisbe traurig. „Es ist ein ganz gewöhnlicher kleiner Stern. Am Tage, als ich zur Welt kam, stieg er am Himmel auf und brachte Sommerhitze mit. Die Priester sagen, es sei ein Unglücksstern. Komm heute nacht, dann wollen wir ihn zusammen betrachten." „Heute nacht bin ich schon auf See", erwiderte Masinissa. „In wenigen Stunden fährt die Flotte nach Iberien. Magon, Hannibals Bruder, will mich mitnehmen. Dein Vater wird von mir hören. Im Kampfgetümmel Iberiens werde ich deinen Stern finden."  Die Verschwörung Die Reste des von Hannibal besiegten römischen Heeres sammelten sich in Canusium, einer Stadt in der Nähe von Cannae, neun Meilen stromabwärts des Aufidus. Es war ein kleiner Ort, der aber dicke Mauern besaß und zu den stärksten Festungen Italiens gehörte. Hannibal war schon oft an Canusium vorübergezogen, hatte aber nie versucht, es einzunehmen. Trotzdem fürchteten sich die Canusier vor den Karthagern, von deren Sieg schon ganz Italien erfahren hatte, und verschlossen vor den Römern ihre Häuser, um den Zorn der Karthager nicht herauszufordern. Auf diese Weise erhielten die erschöpften römischen Legionäre nichts zu essen; sie wagten aber auch nicht, sich die Lebensmittel mit Gewalt zu nehmen, denn sie hatten Angst, daß die Canusier sich dann mit den Karthagern verbinden würden. In der ganzen Stadt gab es nur eine einzige mitleidige Seele, eine alte Witwe, deren Mann im römischen Heer gedient hatte. Sie öffnete großzügig ihre Vorratshäuser in der Stadt und ließ durch ihre Sklaven außerdem Schafe und Schweine von ihrem Landgut holen und den Soldaten übergeben. Doch diese Lebensmittel würden höchstens für zwei bis drei Tage reichen. Was sollte dann geschehen? Auf dem Stadtplatz sammelten sich die Flüchtlinge. Darunter befanden sich ganz alte Legionäre, deren Gesichter mit Narben bedeckt und deren Rücken durch die Last der Waffen gekrümmt waren. Daneben standen oder saßen halbe Kinder, deren Wangen das bronzene Rasiermesser noch nie berührt hatte. Sie hatten verstörte Augen und schmutzige, verweinte Gesichter. Cannae war ihre erste Schlacht gewesen; sie hatten das Grauen dieses Gemetzels erlebt, viele hatten sich totgestellt und waren so lange zwischen den Leichen liegengeblieben, bis sie unter dem Schutz der Dunkelheit entfliehen konnten. Andere, wie der junge Kommandeur Publius Scipio, waren durch die schnelle Strömung des Aufidus davongetrieben und gerettet worden. Sie hatten geschworen, der Gottheit dieses Flusses ein Dankopfer zu bringen. Publius hatte den langen Aufenthalt im kalten Wasser nicht unbeschadet überstanden. Ihn schüttelte das Fieber. Seine Zähne klapperten. Aber er nahm sich zusammen und verteilte mit den anderen Kommandeuren Korn und Fleisch unter den Legionären. Plötzlich legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. „Du bist es, Philus?" sagte er zu einem jungen Mann. „Was ist?" „Eine Verschwörung!" stieß Philus mit zitternder Stimme hervor. „In einem Hause der Meteller haben sich viele Kommandeure versammelt. Sie wollen mit dem Schiff aus Italien fliehen!" Wieder die Meteller! dachte Publius. Ihm fiel die Begegnung mit Gnaeus Naevius ein, der die Ränke dieser Patrizierfamilie entlarvt hatte. Jetzt wollte ein Meteller die Krieger zum Verrat anstiften. Nein, das durfte nicht geschehen. „Freunde!" rief er über den weiten Platz. „Wir haben den entsetzlichen Tag von Cannae überlebt, aber jetzt droht uns neues Unheil! Wem die Rettung des Vaterlandes am Herzen liegt, der folge mir!" Die Verschwörer schickten sich gerade an, das Haus zu verlassen, als ihnen Publius mit mehreren Legionären in den Weg trat. Unentschlossen prallten sie zurück. Was wollte dieser junge Kommandeur von ihnen? „Besinnt euch!" rief Publius ihnen zu. „Ihr vergeßt eure Pflicht gegenüber dem Vaterland!" „Unsere Pflicht?" wiederholte der nicht viel ältere Meteller spöttisch. „Erfüllt etwa das Vaterland seine Pflicht uns gegenüber? Wir wollen keine Sklaven der Karthager werden und auch nicht das Gnadenbrot einer alten Witwe essen. Ein Cannae genügt uns. Wir wollen frei sein!" „Aber um welchen Preis willst du deine Freiheit bewahren, du Verräter!" versetzte Publius. „Um den Preis der Versklavung deiner Mutter und deiner Schwester? Um den Preis ihrer Demütigung und Schande? Nein, ein Römer kann nicht frei sein, solange Hannibal auf der italischen Erde weilt." „Schluß mit dem Gefasel!" schrie der Meteller. „Wir haben keinen anderen Ausweg. In Rom wird man uns als Feiglinge zum Tode verurteilen, wenn dort bekannt wird, daß wir vor Hannibal geflohen sind. Und wenn Hannibal uns erwischt, wird er uns zu Sklaven machen, weil wir Römer sind. Und wenn wir in Canusium bleiben, verrecken wir vor Hunger!" „Nein, wir haben noch einen anderen Ausweg!" widersprach Publius. „Wir dürfen die Waffen nicht wegwerfen! Zwar sind wir nur noch wenige und haben nicht die Kraft, Hannibal eine entscheidende Niederlage zuzufügen, aber wir sind imstande, seine Truppen des Nachts zu überfallen, ihm den Troß zu rauben, seine Vorratslager zu vernichten. -Möge der allmächtige Gott Jupiter mich und mein ganzes Geschlecht vernichten, wenn ich diese Waffe nicht im Blut des Feindes bade!" Er schwang sein Schwert über dem Kopf des Metellers. „Hört, ihr Verschwörer. Sprecht diesen Schwur nach, sonst seid ihr des Todes!" „Möge der allmächtige Gott Jupiter mich und mein ganzes Geschlecht vernichten, wenn ich diese Waffe nicht im Blut des Feindes bade!" wiederholten viele Stimmen in dumpfem Chor.  Kampf der Gladiatoren Hannibal hielt seinen Einzug in Capua. Tausende Einwohner standen auf Straßen und Plätzen, um den berühmten Feldherrn zu sehen. Die reichen Kaufleute hatten den Weg vom Stadttor bis zum Hause des Pacuvius, wo Hannibal wohnen würde, mit bunten Teppichläufern belegen und mit den berühmten kampanischen Rosen bestreuen lassen, deren köstlicher Duft von den Dichtern besungen wird. Die Willkommensrufe verschmolzen zu einem Brausen, das dem der Meeresbrandung glich. Zwei Jahre lang war Hannibal nun schon in Italien, und während der ganzen Zeit hatte Capua den Römern die Treue gehalten. Zwei Jahre lang hatten die Senatoren Capuas, die mit den römischen Senatoren verschwägert waren, das Verlangen des Volkes nach einem Bündnis mit Hannibal gezügelt! Erst nach der Schlacht bei Cannae, als auch die Angst vor der Rache Roms geschwunden war, hatten sie sich zu einem solchen Bündnis bereit gefunden, zumal sie damit nun ehrgeizige Pläne verfolgten. Sie hofften, daß Capua mit Hannibals Hilfe in der Lage sein würde, sich die von Rom geraubten Ländereien zurückzuholen und zur ersten Stadt Italiens aufzusteigen. Sie versperrten sich jeden Rückweg, indem sie sämtliche römischen Bürger, die sich in geschäftlichen Angelegenheiten in Capua und Kampanien befanden, verhafteten und umbrachten. Anschließend schlössen sie mit Hannibal ein Bündnis unter der Bedingung, daß Capua seine Unabhängigkeit, Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit behielte. Es war Hannibals Absicht, unmittelbar nach der Ankunft den Senat von Capua zusammenzurufen, um einen Plan des gemeinsamen Vorgehens gegen Rom auszuarbeiten, aber seine Gastgeber protestierten. „Zunächst wollen wir dir ein Gastmahl geben, und dann zeigen wir dir die Stadt!" erklärte Pacuvius, einer der capuanischen Gastgeber. Nach dem Essen befahl Hannibal Gnaeus Naevius zu sich. „Du wirst mich bei meinem Rundgang durch die Stadt begleiten!" erklärte er. „Die Capuaner sollen sagen: ,Das ist Hannibal in Begleitung seines Dichters.'" „Hast du keine Angst, daß sie denken werden: Das ist Gnaeus Naevius in Begleitung Hannibals?" lächelte der Dichter. Pacuvius erschrak. Welche Frechheit, in diesem Ton mit dem allmächtigen Feldherrn zu reden! Aber Hannibal lachte nur. „Wirst du in deinem Poem auch den Jubel beschreiben, mit dem ich hier empfangen wurde?" erkundigte er sich. „Mein Poem soll eine wahrheitsgetreue Chronik sein", antwortete Gnaeus Naevius. „In ihr wird sich das Leben Capuas, Roms und Karthagos widerspiegeln. Ja, ich werde nicht versäumen, von den kampanischen Rosen zu berichten, die dir beim Einzug gestreut wurden, aber ich werde auch den Mann erwähnen, den deine Krieger in den Kerker warfen, während du beim Gastmahl saßest!" „Das war ein Verrückter!" rief Pacuvius entsetzt. „Er hatte seine Mitbürger offen aufgefordert, Capuas Tore Vor Hannibal zu verschließen." „Siehst du!" sagte Hannibal gelassen. „In ganz Capua gab es nur einen einzigen Menschen, der mich und mein Heer nicht begrüßte. Und das war ein Verrückter. Ihn willst du in deinem Poem erwähnen? Ist das gerecht?" „Wir haben ein Sprichwort", murmelte Gnaeus Naevius. „Es lautet: Die Wahrheit muß oft leiden, aber sie stirbt nie." Hannibal schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Ach, ich verstehe! Auch du hast im Kerker gesessen, und deshalb hast du Mitleid mit diesem Manne! Gut, dann verspreche ich dir, ihm die Freiheit zu schenken, vorausgesetzt, daß er seine Schuld öffentlich bereut." Er blickte zu Pacuvius hinüber. „Und jetzt zeige mir eure Stadt. Was ist am sehenswertesten?" „Das Amphitheater!" erwiderten Pacuvius und Gnaeus Naevius wie aus einem Munde. Das Amphitheater war ein gewaltiger Bau von der Form einer runden Schale, deren Seitenwände aus den Zuschauerreihen bestanden. In der Mitte befand sich die mit weißem Sand bestreute Arena. Hannibal wurde in die erste Reihe geführt, auf den Ehrenplatz, wo die ausländischen Gesandten und capuanischen Senatoren zu sitzen pflegten. Die Zuschauer erhoben sich und begrüßten den Verbündeten Capuas mit lautem Beifall. Dann wurde es still. In die Arena kamen zwei Kampfgruppen, die aus je dreißig Gladiatoren bestanden. Die eine Gruppe trug silberbeschlagene Schilde und weiße Kleidung, die andere goldbeschlagene Schilde und rote Kleidung. Die Federbüsche auf ihren Helmen wippten wie Zaubervögel. Sie marschierten einmal rund um die Arena, stellten sich dann vor Hannibal auf und riefen einige Worte. „Die Gladiatoren sagen: ,Die Todgeweihten grüßen dich!' Das ist bei ihnen üblich!" erklärte Pacuvius dem karthagischen Feldherrn. Den Gladiatoren wurden die Waffen ausgehändigt, ein Trompetensignal erklang, und sie stürzten sich aufeinander. Ihre Schwerter sausten wie Blitze durch die Luft. In ihr Kampfgeschrei mischten sich die anfeuernden Rufe der Zuschauer. Rings um die Arena standen Bedienstete mit Peitschen und Eisenstäben, bereit, jeden Gladiator zu verprügeln, der sich vor dem Kampf drücken wollte. Nach erbittertem Handgemenge siegten die Gladiatoren mit den Goldschilden. Aber nur sechs von ihnen waren am Leben geblieben. Die Zuschauer applaudierten. Nachdem die Sieger die Arena verlassen hatten, wurden die Toten hinausgebracht. Mehrere Sklaven harkten die Spuren des blutigen Kampfes weg. „Halten sich auch die Römer Gladiatoren?" erkundigte sich Hannibal bei Pacuvius. „Selbstverständlich! Nur haben sie zur Zeit andere Sorgen." In die Arena kamen jetzt zwei Kämpfer, die Helme mit heruntergelassenem Visier trugen. Der eine hatte einen ebenholzschwarzen Körper, der andere eine weiße Haut. „Der Äthiopier und der Gallier!" riefen die Zuschauer. Nach ihrem Freudengeschrei zu urteilen, waren ihnen beide Gladiatoren genau bekannt. Aber sie kämpften nur lässig. „Peitscht sie!" schrien die Zuschauer erbost. Die Bediensteten gehorchten. Ihre Peitschen hinterließen auf den Rücken der Gladiatoren lange blutige Spuren. Hannibal mußte an den Zweikampf denken, den er nach dem Alpenübergang vor seinem Heer veranstaltet hatte. Damals hatten die Kämpfer sich mit mehr Leidenschaft geschlagen, obgleich sie nicht mit Peitschenhieben angetrieben wurden. „Und was erhält der Sieger?" fragte er Pacuvius. Der Capuaner begriff nicht. „Du willst wissen, was der Besitzer der Gladiatorenschule erhält?" fragte er zurück. „Nein, mich interessiert, welche Belohnung der Gladiator erhält, der als Sieger aus diesem Zweikampf hervorgeht." Der Capuaner lachte. „Vielleicht werden ihm bei seinem nächsten Vergehen die Rutenstreiche erlassen, oder man setzt ihm ein üppiges Festmahl vor." „Jetzt begreife ich, weshalb sie so lustlos kämpfen", meinte Hannibal. „Wenn der Sieger die Freiheit erhielte, wären die Leute mit den Peitschen überflüssig." „Aber ein guter Gladiator ist ein Vermögen wert", wandte Pacuvius ein. „Der Besitzer der Gladiatorenschule riskiert bei jedem Kampf, daß er seine Gladiatoren verliert, und ist heilfroh, wenn wenigstens einer am Leben bleibt. Was hätte er davon, wenn er den Sieger freilassen müßte?" Er besann sich. „Andererseits bist du unser Gast, und es ist mir ein Vergnügen, deine Wünsche zu erfüllen." Er winkte einem Bediensteten und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Kurz darauf wurde der Zweikampf unterbrochen, und der Ausrufer verkündete: „Der unter uns weilende große Feldherr Hannibal äußerte den Wunsch, dem Sieger dieses Zweikampfes die Freiheit zu schenken. Pacuvius wird alle Verluste bezahlen, die dem Besitzer der Gladiatorenschule daraus entstehen." Der Kampf ging weiter. Der Gallier drang auf den Äthiopier ein. Dieser wehrte sich erbittert, wich aber langsam an die Barriere zurück. Ebenso wie bei dem Gefecht zwischen den Goldschilden und den Silberschilden teilte sich das Amphitheater in zwei Parteien. „Jag den Äthiopier!" schrien die einen. „Laß den Gallier nicht so dicht ran!" brüllten die anderen. Ja, das war ein Kampf, wie ihn weder die Capuaner noch Hannibal jemals gesehen hatten. Damals, am Fuß der Alpen, hatten zwei halbe Kinder miteinander gefochten, von Hunger und Ketten erschöpft. Hier dagegen schlugen sich Männer, die gleich viel Kampferfahrung und Siegeswillen besaßen. Jeder von beiden trug die Freiheit auf der Spitze seines Schwertes. Allmählich war zu erkennen, daß der Gallier erlahmte. Sein Gesicht und seine Schultern bedeckten sich mit Schweiß, seine Bewegungen wurden unsicher. Er versuchte, dem Äthiopier so schnell wie möglich den entscheidenden Streich zu versetzen. Sein Gegner kämpfte viel ruhiger und kaltblütiger. Doch was war das?  Das Schwert krachte gegen den Schild des Äthiopiers. Der rutschte aus. Nein, das war nur eine Finte. Von unten führte er einen kurzen, kraftvollen Schlag. Der Gallier brach zusammen. Das Amphitheater tobte. Die Zuschauer sprangen von den Plätzen und jubelten dem Sieger zu. Viele warfen ihm Geldstücke und Blumen in die Arena. Die Vorstellung war beendet.  Der Raub des Feldzeichens Erst nach seiner Ankunft in Iberien erkannte Magon, daß die karthagischen Ratsherren ihn hereingelegt hatten, als sie ihn beauftragten, in Iberien ein Heer aufzustellen. Denn sie wußten, daß in Iberien keine Krieger aufzutreiben sein würden. Kurz vor der denkwürdigen Sitzung im Großen Rat, in der Magon die goldenen Ringe auf den Tisch geschüttet hatte, war eine Botschaft von Hasdrubal eingetroffen, in der er einen Aufstand in Nordiberien meldete. Führer dieses Aufstandes war Alorkes, der Mann, den Hannibal seinerzeit als Sendboten in das belagerte Sagunt gesandt hatte. Alorkes hatte die iberischen Stammesfürsten und die Kapitäne der Schiffe, die in der Ebromündung lagen, gegen Karthago aufgewiegelt. Iberien konnte Hannibal demnach keinesfalls Krieger schicken, es brauchte selber Hilfe. Auch Karthago mußte ihm die Verstärkung versagen, denn kurz nach Magons Abreise zog Syphax gegen die Stadt zu Felde, entweder, weil er sein Bündnis mit Rom erneuert hatte, oder auch, um Hanno zu zwingen, ihm seine Tochter Sophonisbe zur Frau zu geben. Auf jeden Fall hatte er sich wieder in einen Feind Karthagos verwandelt. Die Römer nutzten Karthagos schwierige Lage aus, um ihre Angriffe in Iberien zu verstärken. Zu den Truppen des Gnaeus Scipio, der sich seit Beginn des Krieges in Iberien aufhielt, stießen die Legionen seines Bruders Publius Scipio, des ehemaligen Konsuls. Offenbar hielten die Römer Iberien für kriegsentscheidend, denn sonst hätten sie sich wohl nicht entschlossen, ihren besten Feldherrn nach Iberien zu schicken, obgleich sie in Italien eine Niederlage nach der anderen erlitten. Die Römer hatten ihr Lager am Ebro aufgeschlagen, die Karthager fünf Meilen davon entfernt. In den ersten Tagen lieferten sich die Feinde nur kleine, vorbereitende Gefechte. Dann aber entschloß sich Hannibals Bruder Hasdrubal, der das karthagische Heer führte, zur Entscheidungsschlacht. Mittags verließ sein Heer das Lager und marschierte auf den Ebro zu. Es war die erste Schlacht, an der Masinissa teilnahm. Seine numidischen Krieger besaßen je zwei Pferde. Auf dem einen ritten sie, das andere führten sie am Zügel, und während der Schlacht wechselten sie von dem erschöpften Pferd auf das frische über. Nur Masinissa hatte kein Reservepferd bei sich. Er ritt wie immer seinen Merges. Fürchterlich war der Angriff der römischen Legionäre. Sie wußten, daß ihre Rückkehr ins Vaterland vom Ausgang dieser Schlacht abhing, und waren entschlossen, zu siegen oder zu sterben. Anders verhielt es sich bei den Iberern in Hasdrubals Heer. Falls sie siegten, würden sie nach Italien geschickt werden, um Hannibals Heer zu verstärken. Das wollten sie vermeiden und waren bereit, sogar eine Niederlage dafür in Kauf zu nehmen. Aus diesem Grunde wich das aus Iberern bestehende Zentrum des karthagischen Heeres schon gleich nach Eröffnung der Schlacht zurück. An den beiden Flanken, wo Hasdrubal die Afrikaner aufgestellt hatte, wurde mehr Widerstand geleistet. Trotz aller Anstrengung gelang es den Römern nicht, die Flanken aufzureißen, aber auch Hasdrubal brachte es nicht fertig, sie zu einer Umzingelung zu schließen und in Iberien ein Cannae zu wiederholen. Daraufhin führten die Römer ihre große, hauptsächlich aus Iberern bestehende Reiterei ins Feld. Aber Masinissas Reiter deckten das karthagische Heer zuverlässig ab, obgleich sie den Römern an Zahl unterlegen waren. Jeder Numidier kämpfte für zwei. Ihre Pferde kannten keine Erschöpfung. Gegen Abend zogen sich die Karthager allmählich zu ihrem Lager zurück. Die numidischen Reiter bildeten die Nachhut. Plötzlich löste sich aus ihren Reihen ein Reiter auf einem Schimmel -Masinissa. Er sprengte mitten hinein in die verfolgenden Römer, erreichte den Fahnenträger - ehe die Römer recht wußten, was geschah -, entriß ihm das Feldzeichen, in das ein Specht, das Wappentier der Truppe, eingestickt war, und jagte davon. Die Legionäre waren verwirrt. Der Verlust der Fahne war eine große Schande, für die alle bestraft würden. Mehrere römische Kavalleristen setzten dem Verwegenen nach. Masinissa duckte sich auf Merges' Hals. Der Wind pfiff ihm um die Ohren und riß am Tuch des römischen Feldzeichens, das er in der Eile nicht zusammenrollen konnte. Er bedauerte jetzt, daß ihm in der Schlacht nicht zwei Pferde zur Verfügung gestanden hatten. Nun war Merges erschöpft und keuchte, während die Römer über ausgeruhte Pferde verfügten. Sie kamen immer näher, das Tuch, das er in der Hand hielt, zog sie unwiderstehlich an. Schon hätten sie ihn oder Merges mit dem Wurfspieß erreichen können. Warum taten sie das nicht? Masinissa spähte voraus. In einiger Entfernung versperrte ihm der Ebro mit seinen Steilufern den Weg. Sie wollen mich lebendig fangen! dachte er und trieb Merges zu schnellerem Lauf an. Leichtfüßig schwang sich der Schimmel in die Luft und setzte über den Fluß. Die Römer zügelten ihre Pferde mühsam am Rande des Uferhangs. Masinissa blickte zurück. Die Feinde sandten ihm nur kraftlose Flüche nach. Er ritt noch eine Strecke, sprang dann aus dem Sattel, warf das Feldzeichen mit dem Spechtbild zu Boden und streichelte Merges dankbar den schweißnassen Hals. „Sophonisbe weiß nicht, welcher Gefahr wir entgangen sind", sagte Masinissa leise. „Diesen römischen Vogel werde ich Hanno schicken. Soll ihn der Alte sich übers Bett hängen, und wenn ihm ein Vogel nicht genügt, werden wir beide ihm einen zweiten beschaffen. Nicht wahr, Merges?" Merges wieherte ungeduldig, als wollte er Masinissa zum Aufbruch drängen. „Ja, du hast recht", sagte Masinissa, „es wird Zeit für uns. Hasdrubal und Magon fürchten sicherlich schon, daß uns die Götter des Todes geholt haben. Doch wir werden ihnen dies hier vorweisen." Er hob das römische Feldzeichen von der Erde auf und sprang in den Sattel.  Die beiden Brüder Das Schiff erhielt einen Stoß und legte sich auf die Seite. Magon, der am Heck saß, mußte sich festhalten, um nicht über Bord zu fallen. Bevor er an Land ging, warf er einen bewundernden Blick auf das mit Bauten, Gärten und Hainen geschmückte Ufer; hier wetteiferte die Kunst der Menschen mit der Natur. Schade, daß sein Bruder nur einen kleinen Abschnitt dieses Uferstreifens besetzen konnte! Nola, Neapel und die anderen malerisch gelegenen Städte waren Rom treu geblieben. Magon hatte gehört, daß Hannibal bei der Belagerung von Nola zweieinhalbtausend Krieger und - was noch schlimmer war - einen ganzen Sommer verloren hatte. Und das kleine Nest, in dem das Schiff vor Anker ging, war von seinen Bewohnern verlassen und schon halbzerstört von Hannibal übernommen worden. Die Straße nach Capua führte an Weinbergen vorbei. Es war die Zeit der Lese. Die mit bernsteingelben oder purpurroten Trauben gefüllten Körbe wurden von den Sklaven zur Straße hinuntergetragen und kleinen Eseln auf die Rücken gebunden. Hannibal hatte sein Lager nicht in Capua aufgeschlagen, sondern fünf Meilen davon entfernt, am Ufer des Volturno. Auf dem Weg dahin traf Magon wiederholt Söldner, die zu zweit oder zu dritt gingen und in ihrer Muttersprache Lieder grölten. Einige wurden von halbnackten, stark geschminkten Frauen begleitet. Im Gras lagen einige Soldaten, an ihrer Kleidung als Iberer erkennbar. Im Vorübergehen hörte Magon ein paar Fetzen ihres betrunkenen Geschwätzes. „Als ich aus dem Amphitheater komme, steht sie an der Ecke. Solche Augen! Na, und auch das übrige..." „Und hast du sie da stehengelassen?" Dröhnendes Gelächter. Nein, die betrunkenen Soldaten rühmten sich nicht ihrer kriegerischen Heldentaten. Wenn man sie so ansah, konnte man kaum glauben, daß sie sich in Feindesland befanden. Magon wurde vieles klar. Sein Bruder Hannibal hatte neue gefährliche Feinde erhalten - Ausschweifung und Luxus. Sie drangen ins Heer ein und zerstörten es von innen, wie der Wurm den Apfel. Nach den entsetzlichen Strapazen in den Alpen, nach blutigen Schlachten, Dreck und Entbehrung waren Hannibals Krieger in dieses gesegnete Land gekommen, das die Belohnung für alles war, was sie ertragen hatten. Eine durchaus verdiente Belohnung! Sie den Soldaten zu rauben, ihnen das zu nehmen, was ihnen greifbar war und was sie verdient hatten - dazu hatte auch Hannibal nicht die Macht. Hannibal schloß seinen Bruder in die Arme und führte ihn und seine Begleiter an die reich gedeckte Tafel. Und während Magon aus einem Silberbecher Falernerwein trank und an einem Hühnerbein knabberte, überlegte er: Ja, die Männer, die am Trasimenischen See und bei Cannae kämpften und siegten, haben ein Recht auf ein weiches Lager, auf einen guten Wein und auf schmackhaftes Essen. Dennoch ist all das Luxus und wird das Heer zugrunde richten. „Nun erzähle, was du erreicht hast, Bruder", sagte Hannibal, nachdem Magon seinen Hunger gestillt hatte. Und Magon gab einen Bericht von den Nackenschlägen, die die Karthager in Iberien erlebt hatten, von der Meuterei der Schiffsführer, dem Abfall der iberischen Bundesgenossen und der Schlacht am Ebro, wo sich nur Masinissa hervorgetan hatte. „Ja, Masinissa verdient die Belohnung, nach der er sich sehnt", sagte Hannibal nachdenklich. „Sprichst du von der Heirat mit Sophonisbe?" Hannibal nickte. „Ich fürchte, daß Hanno ein doppeltes Spiel treibt", seufzte Magon bekümmert. „Es geht das Gerücht, daß Hanno Verhandlungen mit Syphax aufnahm, nachdem dieser seine Reiterei gegen Karthago gesandt hatte. Er soll ihm Sophonisbe angeboten und zum Lohn dafür einen Friedensvertrag und ein Bündnis gegen Rom verlangt haben." „Ja, Hanno ist ein Krämer", bestätigte Hannibal verächtlich. „Der reiche König Syphax kann ihm mehr bieten als Masinissa, der bisher nur Thronfolger ist und nichts besitzt als sein Pferd." „Aber was ist das für ein herrliches Tier! Ich würde alle Reichtümer der Welt dafür hergeben ..." „... wenn du sie hättest", fiel Hannibal ihm trocken ins Wort. „Denn soviel ich weiß, hat dich der Krieg nicht reicher gemacht als mich. Alles, was man uns aus Karthago schickt und was wir hier durch Gewalt oder gutes Zureden erhalten, geht an die Söldner. Und der Krieg wird noch lange dauern." „Nein, bald wird er zu Ende gehen", widersprach Magon überzeugt. „Hasdrubal rüstet sein Heer für einen Übergang über die Alpen nach deinem Vorbild aus. Und Masinissa wird ihn begleiten. Wenn wir drei Brüder zusammen in Italien kämpfen, wird sich Rom nicht halten können."  Casilinum Diesen kleinen Ort am Volturno kannte vor dem Krieg mit den Karthagern kaum jemand. Seine Mauern waren weniger hoch und fest als die vieler anderer italischer Städte. Kurz vor der Schlacht bei Cannae lag hier eine kleine Einheit von römischen Legionären, die den Anschluß an das Hauptheer verpaßt hatten. Als sie von der Niederlage bei Cannae erfuhren, blieben sie weiterhin in der Stadt und warteten auf Befehle aus Rom. Solche Befehle trafen aber nicht ein, die Legionäre hörten nur, daß das unweit gelegene Capua zu Hannibal überging. Zweifellos würden die Einwohner von Casilinum diesem Beispiel folgen. Deshalb drangen die Römer in ihre Häuser ein, metzelten sie nieder und verrammelten die Stadttore. Es mißfiel Hannibal, eine feindliche Festung in seiner Nähe zu wissen, deshalb sandte er eine kleine afrikanische Einheit nach Casilinum mit dem Befehl, die Römer durch Verhandlungen zur Übergabe zu bewegen. Als sich die Afrikaner der Stadt näherten, wunderten sie sich über die völlige Stille, die darin herrschte, nahmen an, die Römer hätten Casilinum bereits geräumt, und versuchten, das Stadttor zu öffnen. Doch da sprang es auf, zwei römische Zenturien stürzten sich auf die verdutzten Afrikaner und machten sie nieder. Daraufhin sandte Hannibal eine größere Einheit unter Magarbais Befehl gegen die Festung, aber auch sie mußte ergebnislos abziehen. So blieb Hannibal nichts anderes übrig, als sein ganzes Heer gegen Casilinum einzusetzen und die Stadt zu belagern. Und weil sie so klein war, baute er keine Wandeltürme, sondern beschränkte sich auf Sturmleitern und Laufgräben. Außerdem gruben die Karthager unterirdische Gänge in die Stadt. Tag und Nacht arbeiteten sie daran. Die ausgeschachtete Erde wurde nachts heimlich auf Tragbahren weggeschafft. Aber die Römer ließen sich nicht täuschen. Sie fanden jeden Ausgang, versperrten ihn und schütteten Fässer mit brennenden Hühnerfedern hinein, deren Rauch den karthagischen Kriegern den Atem nahm. Der gleiche Mißerfolg erwartete die Belagerer, als sie versuchten, mit Sturmböcken und Sturmleitern vorzugehen. Die Römer überschütteten sie mit Pfeilen und Wurflanzen. Bei dieser Gelegenheit wurde der Inder Richad tödlich verwundet. Sur, sein Elefant, trauerte so tief um ihn, daß er jede Nahrung verweigerte und keinen anderen Treiber an sich heranließ. Die Regenzeit setzte ein. Das Wasser überschwemmte die unterirdischen Gänge. Viele Krieger bekamen Fieber. Hannibal blieb nichts anderes übrig, als mit dem größten Teil seines Heeres abzuziehen. Er ließ nur die afrikanischen Truppen zurück in der Hoffnung, daß sie die römischen Legionäre aushungern würden. Als er im Vorfrühling nach Casilinum zurückkam, versicherten ihm die Afrikaner, daß nur noch etwa zweihundert Legionäre am Leben wären; die übrigen hätten sich inzwischen vor Hunger von der Stadtmauer gestürzt oder sich waffenlos auf die Mauer gestellt und die Brust den Pfeilen und Speeren dargeboten. Ein Überläufer berichtete, daß die Belagerten schon längst sämtliche Mäuse und Ratten verzehrt hätten und jetzt nur noch mit den Lederriemen und Lederbezügen ihrer Schilde, die sie in Wasser einweichten und dann kochten, ihr Leben fristeten. Einmal verfing sich ein Holzfaß mit Mehl in den überhängenden Zweigen der Weiden, die am Ufer des Volturno standen. Offenbar hatte die Stadt geheime Helfer, die sie auf dem Wasserwege mit Lebensmitteln zu versorgen suchten. Hannibal stellte Wachen auf, die den Fluß beobachteten und feststellten, daß keine größeren Gegenstände den Fluß heruntertrieben, nur unzählige Nüsse, die von den Belagerten sicherlich mit Sieben und Netzen aufgefischt wurden. Verblüfft erfuhr er, daß die Römer von der Stadtmauer aus Rübensamen auf die Erde warfen, die seine Krieger ausgeschachtet hatten. Soll ich etwa noch so lange hier liegen, bis diese Samen aufgegangen sind? fragte er sich besorgt und willigte ein, mit den Belagerten zu verhandeln.  Die Belagerung von Casilinum hatte ihn fast ein Jahr gekostet. Und wie viele solcher Städte gab es noch in Italien! Ihn bekümmerte auch, daß Gnaeus Naevius geflohen war. Er hatte im karthagischen Lager völlige Freiheit genossen. Hannibal unterhielt sich oft mit ihm und glaubte, das Interesse des Dichters für ihn bände ihn fester an die Karthager als jede Fessel. Aber noch kränkender als seine Flucht war der Brief, den er hinterlassen hatte. Er enthielt nur wenige Worte: „Wer Hannibal bei Cannae sah, findet Hannibal bei Casilinum unerheblich." Er ist ausgezogen, um sich einen anderen Helden zu suchen! dachte Hannibal niedergeschlagen.  Hannibal vor den Toren „Hannibal vor den Toren! Hannibal vor den Toren!" Überall in Rom erklang dieser Schreckensruf. Jammernd reckten die Greisinnen die Arme gen Himmel und wischten mit dem eigenen Haar die Tempelstufen und Opferaltäre, um die Götter anzuflehen, sich Roms zu erbarmen. „Hannibal vor den Toren!" Schon seit acht Jahren klang dieser Name durch Italien. Wie oft hatten die Römer ihn nach den entsetzlichen Niederlagen ihrer Legionen genannt und ohnmächtig die Fäuste geschüttelt! Wieviel Angst und Tränen hatte er Rom gebracht! Selbst wenn Hannibal Hunderte von Meilen entfernt war, flößte er den Römern Entsetzen ein. Und jetzt stand er vor den Toren! Hannibal betrachtete die große Stadt. Rom war sein Ziel gewesen, als er den Oberbefehl über das Heer übernahm. In den eisigen, schneeverwehten Schluchten der Alpen hatte er an Rom gedacht. Mit jedem Sieg rückte ihm Rom näher. Als er am Trasimenischen See die Legionen des Konsuls Flaminius vernichtet hatte, glaubten die Römer in ihrer Angst, nun würde er in ihre Stadt einziehen. Aber das konnte er nicht, weil seine Krieger zu jener Zeit allzu erschöpft gewesen waren. Dann warteten die Römer nach ihrer Niederlage bei Cannae jeden Augenblick auf sein Erscheinen. Zu diesem Zeitpunkt wäre er auch stark genug gewesen, um Rom zu überwältigen. Aber es genügte Hannibal nicht, Rom zu erobern und zu zerstören. Er träumte von mehr. Er glaubte, daß es ihm gelingen würde, alle italischen Stämme unter seiner Herrschaft zu vereinen, daß die Römer dann von selber die Waffen niederlegen würden und er Rom zur Hauptstadt seines Reiches machen könnte. Doch die Standhaftigkeit der Römer und die Angst, die sie auch in ihrer schwierigen Lage den Italikern einflößten, machten seine Pläne zunichte. Außer Capua ging keine einzige Stadt freiwillig zu ihm über. So blieb Hannibal nichts anderes übrig, als die Widerspenstigen durch viele Feldzüge und Belagerungen nacheinander zu zwingen, sich ihm zu unterwerfen. Bei einem dieser Feldzüge, der ihn quer durch Italien führte, machten sich römische Truppen seine Abwesenheit zunutze und begannen mit einer Belagerung von Capua. Hannibal kam der Stadt sogleich zu Hilfe. Er zwang die Römer, die Belagerung abzubrechen, war jedoch nicht imstande, sich lange in Capua aufzuhalten, weil ihm der Proviant für seine Truppen ausging. Nach seinem Abzug schlossen die Römer erneut einen eisernen Belagerungsring um Capua. Wieder kehrte Hannibal zurück. Diesmal versuchte er, die Römer in einer offenen Feldschlacht zu stellen. Die aber verschanzten sich in ihrem uneinnehmbaren Lager. Die Römer darin zu belagern, war Hannibal nicht imstande, weil sie vorher sämtliche Lebensmittelvorräte und alles Futter für die Pferde in der Umgebung von Capua vernichtet hatten. Deshalb beschloß er, gegen Rom zu ziehen in der Hoffnung, die römische Armee würde die Belagerung Capuas abbrechen, um ihre Vaterstadt zu retten. In Eilmärschen war er nach Rom gezogen. Nun stand er vor den Toren und betrachtete die Stadt. Sie sah ganz anders aus, als er sie sich vorgestellt hatte. Da er die Ordnungsliebe der Römer und ihre strenge Disziplin kannte, hatte er geglaubt, ein großes Feldlager zu erblicken - schnurgerade Straßen, quadratische Stadtviertel. Doch statt dessen nahm er schmale krumme Gassen wahr, ein- und zweigeschossige Häuser, die inmitten grüner Gärten lagen und mit Brettern oder Ziegeln gedeckt waren. Kein römischer Tempel konnte sich mit den karthagischen Tempeln der Tanit und des Baal-Ammon messen, was Größe und Pracht betraf. Auch mit dem reichen, schönen Capua ließ sich Rom nicht vergleichen. Und diese Stadt hatte er zur Hauptstadt seines Reiches machen wollen? Ein Melder sprengte herbei. „Herr!" rief er. „Die Römer geben die Belagerung Capuas nicht auf!" Hannibal war ungeduldig. Hatte Cannae den Römern nicht bewiesen, daß sie außerstande waren, zu siegen? Jede andere Stadt hätte schon längst die Waffen gestreckt und um Gnade gebeten, doch Rom setzte den Kampf fort, verschanzte sich hinter Mauern, Gräben und Pfahlzäunen und führte von dort aus seine Schläge. Hannibal stand der Form der Kriegführung, die ihm von Rom aufgezwungen wurde, ohnmächtig gegenüber. Er war an offene Feldschlachten gewohnt, doch Rom zwang ihn zum Warten. Die Zeit war nun sein schlimmster Feind. Sie nahm ihm die Verbündeten, leerte seine Kassen, verdarb seine Krieger. Zwei Tage später zog Hannibals Heer nach Süden, nachdem es Roms Umgebung geplündert und verheert hatte. Den Römern erschien sein Abzug wie ein Wunder - wie ein Alptraum, den das Morgenlicht verscheucht. Sie verließen die Stadt und wanderten zum zweiten Meilenstein der Appischen Straße, dorthin, wo Hannibal gestanden hatte. Dieser Ort wurde für heilig erklärt, und inmitten der dort befindlichen weißen Marmorgrabsteine wurden Altäre für die Götter errichtet, die Rom beschützt hatten. Hannibals mißlungener Angriff auf Rom öffnete den römischen Truppen die Tore der wehrlosen Stadt Capua. Roms Rache war fürchterlich. Alle Einwohner der Stadt wurden auf den Stadtplatz geführt, wo sie mit ansehen mußten, wie ihre Senatoren, die man für die Hauptschuldigen am Abfall Capuas von Rom hielt, nacheinander ausgepeitscht und geköpft wurden. Nachdem diese Prozedur zu Ende war und die Liktoren ihre Äxte in die Rutenbündel zurückgeschoben hatten, erhielten die Legionäre den Befehl, sämtliche Capuaner aus ihrer Vaterstadt hinauszuführen und sie in die Sklaverei zu verkaufen. Da löste sich ein Capuaner mit hartem zerfurchtem Gesicht aus der Menge und ging auf den Konsul zu, der die Legionäre befehligte. „Ich will dir Gelegenheit geben, dich späterhin rühmen zu können, du habest einen Mann getötet, der tapferer war als du. Die Menschen, die du bisher umgebracht hast, waren waffenlos. Ich aber bin ein Krieger. Töte mich." „Du bist von Sinnen!" rief der Konsul. „Ich könnte dich wegen deiner Dreistigkeit hinrichten lassen, aber ich schenke dir ebenso wie deinen Landsleuten das Leben." „Was soll mir noch das Leben", versetzte der Capuaner, „wenn sich meine Vaterstadt in Feindeshand befindet, wenn meine Brüder und Freunde nicht mehr am Leben sind, wenn ich mit eigener Hand Weib und Kinder töten mußte, um sie vor der Sklaverei zu bewahren! Du versagst mir den Tod? Gut, dann gebe ich ihn mir selbst!" Er riß einen Dolch aus der Toga, stieß ihn sich in die Brust und sank zu Boden. Sophonisbes Stern  Abenteuer in Neu-Karthago Ja, das ist nun Iberien! dachte der junge Publius Scipio, während er als frischgebackener Konsul und Feldherr das Schiff verließ, das ihn über das Meer gefahren hatte. Von hier aus brach Hannibal zu seinem Marsch über die Pyrenäen und die Alpen auf. In dieses Land kam ich als Sechzehnjähriger mit meinem Vater, der hier den Krieg an der Wurzel ausmerzen wollte. Aber die Götter fügten es anders. Der Vater wurde nach Italien zurückgerufen und mußte dort eine schmerzliche Niederlage erleben. Dennoch holte Iberien ihn wieder zurück. Und während Rom auf italischem Gebiet Niederlagen erlitt, die mit der Schlacht am Ticino überhaupt nicht mehr zu vergleichen waren, kamen aus Iberien - nur aus Iberien - gute Nachrichten. Als erster römischer Feldherr überschritt der Vater den Ebro, der die Grenze zum karthagischen Gebiet bildete. In den Entscheidungsschlachten, die im zweiten Kriegsjahr stattfanden, vernichtete er die karthagische Flotte und eroberte die gesamte iberische Ostküste bis nach Neu-Karthago. Angesichts seiner Siege erhoben sich die Iberer gegen die Karthager, und Hannibals Bruder Hasdrubal mußte mit den Resten seines Heeres an die Westküste des Landes fliehen. In diesen Jahren konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Kämpfe in Italien, und kaum jemand merkte, daß mein Vater inzwischen durch seine Siege in Iberien Italien rettete. Erst vor kurzem wurde bekannt, daß Hasdrubal schon gleich nach der Schlacht bei Cannae mit seinem Heer zu Hannibal stoßen sollte und Hannibal nur deshalb Rom nicht angriff, weil er auf seinen Bruder wartete, der ihm Elefanten und Belagerungsgeschütze bringen wollte. Rom wäre rettungslos verloren gewesen, wenn sich ein zweites karthagisches Heer wie eine Schneelawine von den Alpen herabgewälzt hätte. Das hat mein Vater verhindert. Der römische Senat aber würdigte seine Verdienste erst dann, als bekannt wurde, daß die Karthager ein neu aufgestelltes Heer, das für Italien bestimmt gewesen war, statt dessen nach Iberien senden mußten. Nun meldeten sich auch in der Volksversammlung Männer, die aus eigenen Mitteln Lebensmittel kaufen und sie nach Iberien schik-ken wollten, um meinen Vater zu unterstützen. Und als dieser die zweiundvierzig Feldzeichen nach Rom sandte, die er in den Schlachten gegen die Karthager erbeutet hatte, als alle iberischen Völkerstämme zu uns übergingen, da verstummten in Rom auch die letzten Neider. Und jedermann begriff, daß der Schlüssel zum Sieg über Hannibal in den iberischen Bergen zu suchen war. Aber es sollte Publius Scipio dem Älteren nicht gelingen, diesen Schlüssel zu finden. Er starb auf der Höhe seines Ruhms. Zu seinem Nachfolger wurde sein Sohn ernannt. Publius verdankte eine solche Ehre nicht etwa seinen bisherigen Verdiensten, sondern ausschließlich der Tatsache, daß er den gleichen Namen trug wie sein Vater. Der Name Publius Scipio gehörte nach Meinung der Römer ebenso untrennbar zu Iberien wie die Namen der iberischen Berge und Flüsse. Sie hatten sich daran gewöhnt, daß ein Scipio in Iberien siegte, daß ein Scipio Städte eroberte und feindliche Feldzeichen nach Rom schickte. Und wenn es in Iberien keinen Scipio mehr gab, so glaubte Rom, dann würde man von dort auch keine guten Nachrichten mehr erhalten. So hatte der junge Publius nun die Aufgabe, gegen Hasdrubal zu kämpfen, der Iberien besser kannte, weil er fast sein ganzes Leben hier verbracht hatte, und gleichzeitig mit dem Ruhm des Vaters zu wetteifern, ja ihn zu übertreffen. Als erstes ließ er Kylon zu sich kommen in einer Hoffnung, die aber leicht wie eine Seifenblase platzen konnte. Der Grieche hatte sich in den vergangenen Jahren nicht verändert. Er war noch immer so redselig und habgierig wie zuvor. „Nanu, Publius Scipio, wozu brauchst du meinen elenden Kahn, obgleich doch dreißig große seetüchtige Schiffe in deinem Hafen liegen, wie ich mit eigenen Augen gesehen habe? Hast du etwa Sehnsucht nach einem neuen Stelldichein mit Syphax?" „Nein, Kylon, für eine Reise nach Afrika ist es noch zu früh. Und mit Syphax habe ich auch nichts zu besprechen, zumal er einen neuen Vertrag mit den Karthagern geschlossen hat und sich anschickt, Hannos Tochter zu heiraten. Ich habe ein wichtiges Anliegen an dich. Würdest du für mich nach Neu-Karthago fahren?" „Daß mir die Augen platzen! Du willst mich in die Höhle des Zyklopen schicken? Dieses Abenteuer des Odysseus gefällt mir aber gar nicht. Du erinnerst dich sicher, daß Odysseus und seine Gefährten von dem Zyklopen, diesem einäugigen Riesen und Menschenfresser, mitsamt den Schafen in der Höhle eingesperrt wurden und nacheinander bei lebendigem Leibe aufgefressen werden sollten. Sie konnten diesem Schicksal nur entrinnen, indem sie ihm sein einziges Auge blendeten und sich dann den ins Freie trottenden Schafen unter den Bauch banden. Der Zyklop hockte nämlich am Ausgang und betastete den Rücken jedes hinausgehenden Tieres, um zu verhindern, daß Odysseus und seine Männer die Flucht ergriffen. - Nein, Feldherr, wenn ich überhaupt ein Abenteuer des Odysseus erleben muß, dann lieber das mit der wunderschönen Zauberin Circe, obgleich auch dabei die Gefahr besteht, daß sie mich in ein Schwein verwandelt, genau wie seinerzeit die Gefährten des Odysseus." „Du bist wahrhaftig nicht auf den Mund gefallen, Kylon. Aber zur Circe kannst du wohl nach deiner Rückkehr aus Neu-Karthago auf eigene Rechnung reisen." „Und was sucht Rom in der Höhle des Zyklopen?" „Du sollst feststellen, ob der Zyklop zu Hause ist, und wenn nicht, wie viele Schafe er in seiner Höhle zurückgelassen hat." „Aha, ich verstehe!" Kylon lachte. „Du willst wissen, ob Hasdrubal in Neu-Karthago ist, und wenn nicht, wie viele Truppen er dort stationiert hat. Und was geschieht, wenn die Karthager mich festnehmen und ums Leben bringen?" „Odysseus hatte größere Gefahren zu bestehen, trotzdem ist er zu seiner heimatlichen Insel Ithaka zurückgekehrt." „Ja, aber bettelarm!" wandte Kylon ein. „In dieser Beziehung kannst du unbesorgt sein. Dich erwartet eine Belohnung, zehnmal größer als jene, die du beim vorigen Mal erhieltest." „Gut, einverstanden. Aber du mußt mir außer dem Geld noch hundert Krüge mit Öl geben." „Was willst du mit soviel Öl? Das kannst du doch in deinem ganzen Leben weder aufessen noch als Brennöl verbrauchen! Oder hast du die Absicht, ein Schnelläufer zu werden, und willst dich mit dem Öl salben?" „Nein, ich will dein Öl weder essen noch verbrennen. Und was den Schnelläufer betrifft, so kann ich dir versichern, daß mich Silbermünzen mehr reizen als der Siegeslorbeer eines Sportlers. Ich will das Öl verkaufen. Paß mal auf!" Er schob sich das dünne Haar in die Stirn und machte das einschmeichelnde Gesicht eines geschäftstüchtigen Markthändlers. „Frisches Öl! Das beste Öl am Platze! Brennt, ohne zu qualmen! Kauf mein Öl, du Schöne! Geh nicht vorüber!" „Ein waschechter Markthändler!" Publius lachte. „Salbst du dich mit meinem Öl, dann wirst du jünger!" krähte Kylon. Dann wurde er sachlich: „Erwarte mich in einer Woche zurück. Falls ich aber ausbleiben sollte, dann vergiß nicht, meinen Landsleuten für den mir versprochenen Lohn Wein zu kaufen. Die eine Hälfte sollen sie austrinken und die andere den Göttern weihen." Mit Windeseile verbreitete sich in Neu-Karthago die Nachricht, daß ein Händler auf dem Marktplatz eingetroffen wäre, der sein Öl zum halben Preis verkaufte. Die Hausfrauen strömten mit ihren Ölgefäßen zu Kylons Stand. Zwischen ihnen drängten sich viele Neugierige, die ihren Spaß an Kylons witzigen Reden hatten. Denn während das Öl in schier endlosem Strom durch den Trichter floß, ergoß sich ebenso endlos sein Redeschwall. „Tritt näher, Verehrter, tritt näher!" lockte er einen betagten karthagischen Krieger an. „Salbe dich mit meinem Öl, das wird dich verjüngen! O Bezwinger von Rom, geh nicht an meinem Stand vorüber. - Benutze das Öl zur Förderung der Verdauung, schöne Frau!" riet er einer älteren Person, die sich gerade ihr Ölgefäß von ihm füllen ließ. „Das klärt die Haut und wird deinen Mann zu neuer Liebesglut anregen." Die Zuschauer lachten. „Fehlgeschossen!" rief einer. „Ihr Mann ist im Heer, sie hat andere Sorgen als ihre Schönheit!" Schon verkaufte Kylon den Inhalt des siebenundneunzigsten Kruges und hatte bereits durch geschickte Fragen aus seinen Zuhörern alle Informationen herausgeholt, die Publius brauchte: daß sich Hasdrubal mit seinem Heer nicht in Neu-Karthago aufhielt, sondern in der Nähe von Cädiz, daß auch die beiden anderen karthagischen Heere nicht in der Stadt waren und Hasdrubal nur etwa eintausend Krieger zurückgelassen hatte. Plötzlich drängte sich ein rundlicher Mann, an seiner Kleidung als Schiffskapitän zu erkennen, durch die Menge und blickte Kylon prüfend an. „He, Freund, wo habe ich dich schon gesehen?" fragte er. Kylon blickte auf. Ja, er kannte den Dicken, aber er ließ sich nichts anmerken. „Vielleicht in Marseille, edler Seefahrer?" fragte er gelassen zurück. „Dort ist mein Marktstand weltberühmt." „Rede mir nichts ein, ich war niemals in Marseille." „Ein kluger Mann kann sich nun einmal irren", erwiderte Kylon hintergründig. „Aber ich schwöre bei Herakles, daß du dich nicht irrst, wenn du mein Öl kaufst, denn nirgendwo auf der Welt gibt es ein billigeres und besseres." „Ich brauche dein Öl nicht." Der Kapitän trat dicht vor Kylon hin. „War es nicht dein Handelsschiff, das ich vor den Aegatischen Inseln kontrollierte? Damals gabst du dich als Neapolitaner und Weinhändler aus und schenktest mir einen Krug, der statt Falernerwein fauliges Wasser enthielt." Kylon begriff, daß der Dicke ihn erkannt hatte. Er mußte fliehen, und zwar sofort. Aber wohin? Vor ihm befand sich die unübersteigbare Stadtmauer, rechter Hand war der Hafen, wo sein Schiff vor Anker lag. Doch jede Flucht dorthin würde sinnlos sein, denn selbst dann, wenn er das Schiff wohlbehalten erreichte und es fertigbrächte, den Hafen zu verlassen, würden ihn die schnellen karthagischen Wachboote im Handumdrehen einholen. Es blieb also nur der Sprung in das Meer, das er im Rücken hatte, und die Hoffnung, das gegenüberliegende Ufer, das ungefähr zwei Meilen weit entfernt war, schwimmend zu erreichen. Er holte mit dem Ölkrug aus, den er noch immer in der Hand hielt, und schüttete dem dicken Kapitän den ganzen Inhalt ins Gesicht. Der taumelte zurück, rutschte auf dem Öl aus und fiel hin. „Haltet ihn!" schrie er. „Es ist ein römischer Spion!" Kylon war schon am Wasser, machte einen Kopfsprung und tauchte erst zehn Schritte vom Ufer entfernt wieder auf. Als er sich umblickte, sah er, daß sechs Männer ans Ufer rannten, unter ihnen der dicke Kapitän. Kylon schwamm, so schnell er konnte. Das Blut klopfte ihm in den Schläfen, keuchend rang er nach Luft, die Sandalen störten ihn, er riß sie sich ab. Die Verfolger hatten inzwischen ein Boot losgemacht und ruderten ihm nach. Der Abstand zu ihnen verringerte sich zusehends. Schon hörte er die Ruder plätschern und den Kapitän brüllen: „Uns entgehst du nicht!" Er reckte den Kopf aus dem Wasser, um noch einmal den klaren Himmel zu betrachten. Mögen mich die Fische fressen! dachte er. Das ist noch besser als Folterung und Kreuzigung! Da merkte er, daß er in eine Brandung geriet, obgleich er sich noch mitten im Meerbusen befand. Er tastete mit den Füßen und stieß auf Grund. Das Wasser wurde immer seichter, reichte ihm nur noch bis zu den Knien, er sprang auf die Füße und rannte quer über die Sandbank hinweg. Das Boot blieb hinter ihm zurück. Es hatte sich mit der Nase tief in den Sand gebohrt, die sechs Verfolger bemühten sich fluchend, es über die Sandbank hinwegzuzerren, aber ihre Anstrengungen waren vergebens. Kylon war inzwischen auf der anderen Seite schon längst wieder im Wasser, und bis seine Verfolger erkannt hatten, daß sie ihn nur schwimmend einholen konnten, und anfingen, sich die Sandalen abzustreifen, hatte er das gegenüberliegende Ufer erreicht und war im Schilf verschwunden. „Entwischt!" schrie der dicke Kapitän wütend.  „Was ist dir zugestoßen, Kylon?" erkundigte sich Publius und musterte erstaunt die zerfetzten Kleider und blutigen Füße des Griechen, als sich dieser bei ihm meldete. „Wo ist dein Schiff?" Kylon seufzte. „Mein Schiff ist futsch. Und bloß deshalb, weil ich das Öl verkauft habe, anstatt mich damit einzusalben, denn dann wäre ich unbemerkt aus Neu-Karthago entwischt." Und er berichtete Publius, wie es ihm ergangen war, einschließlich der rettenden Tatsache, daß er mitten im Meerbusen auf eine Sandbank gestoßen war. „Das war die Ebbe", sagte Publius. „Sie hat dich gerettet. Um wieviel Uhr war das?" „Um zwei Uhr mittags."  Publius machte ein nachdenkliches Gesicht.  Der Traum des Publius Von der Anhöhe aus konnte man Neu-Karthago übersehen. Es lag auf einer schmalen Halbinsel, die in den Meerbusen vorstieß. Die Morgensonne vergoldete die stattlichen Gebäude und quadratischen Wachtürme. Die flachen Ziegeldächer wurden überragt von einem kostbaren Palast. Hier war Hamilkars Neffe einst bei seiner Hochzeit mit der iberischen Prinzessin ermordet worden. „Schaut auf diese Stadt!" sagte Publius Scipio zu den angetretenen Legionären. „Hierher bringen die Karthager alles Silber aus den iberischen Bergwerken. Hier verwahren sie unermeßliche Reichtümer, die euch, den Siegern, und dem römischen Volk gehören werden. In der Stadt befindet sich zur Zeit kein Heer. Hasdrubal, Hannibals Bruder, hat nur tausend Krieger zurückgelassen. Die allmächtigen Götter werden uns überdies beistehen. Denn in der vergangenen Nacht träumte ich, daß der Meeresgott Neptun mir eine goldene Zackenkrone reichte und mich aufforderte, sie weiterzugeben an jene Tapferen, die die Mauern Neu-Karthagos erstürmen würden." Mit angehaltenem Atem hörten die Legionäre zu. Sie glaubten fest an prophetische Träume. Hornsignale riefen die römischen Legionäre zum Kampf. Sie legten Sturmleitern an die Mauern Neu-Karthagos und versuchten, daran emporzuklettern. Aber die Mauern waren hoch. Die Verteidiger waren auf der Hut und wehrten die Angriffe mit Steinen und Speeren, mit kochendem Wasser und siedendem Teer ab. Viele Legionäre verloren auf den Sturmleitern den Halt und stürzten in die Tiefe. Ihren Platz nahmen andere ein, aber auch sie erreichten nichts, und manch ein Römer ließ sein Leben. Ein Grabstein in fremder Erde, nicht aber eine goldene Zackenkrone wurde ihm zuteil. Und schließlich wurde zum Rückzug geblasen. Nein, der prophetische Traum ihres Feldherrn schien nicht einzutreffen. „Was gehen den Meeresgott Neptun auch die Kämpfe auf dem Festland an!" murrten die Legionäre. „Er ist doch nur für Seeschlachten zuständig!" Die belagerten Karthager wußten weder etwas von Publius' Traum noch von seinem Plan. Als sie das Rückzugssignal der Römer hörten, freuten sie sich, weil sie glaubten, die Gefahr wäre vorüber. Für sie war es wichtig, Zeit zu gewinnen und auszuhalten, bis die Verstärkung heran war. Sie hatten inzwischen Boten zu Hasdrubal und den beiden anderen in Iberien befindlichen Armeen gesandt, die ihnen sicherlich auf dem schnellsten Wege zu Hilfe kommen würden. Publius hatte die Erstürmung der Stadt von der Landseite aus nur zur Täuschung versucht. Jetzt ließ er seine besten Truppen zum Meerbusen marschieren. Sie begriffen nicht, was sie dort sollten. Aber da merkten sie plötzlich zu ihrem Erstaunen, daß die Fluten vor ihnen zurückwichen und an einigen Stellen sogar der Meeresgrund aus dem Wasser tauchte. Der Gott Neptun trocknete das Meer anscheinend eigens zu dem Zweck aus, daß sie die rückwärtige Stadtmauer trockenen Fußes erreichen konnten. Demnach würde der Traum ihres Feldherrn doch noch in Erfüllung gehen? Zuversichtlich wateten die Truppen in den Meerbusen hinein. Ihre Füße versanken in Sand und Schlamm. Sie mußten die Waffen und Sturmleitern hochhalten, damit sie nicht naß wurden, und das war eine übermenschliche Anstrengung, zumal ihnen das Wasser manchmal bis zur Kehle reichte. Dennoch wateten sie unbeirrt weiter, und bald hatten sie die Stadtmauer erreicht, die bei höherem Wasserstand von den Wellen umspült wurde. Sie war niedriger als an der Landseite. Ungehindert konnten die Legionäre die Sturmleitern anlegen und hinaufklettern. Oben angelangt, rannten sie nach rechts und links, um die Stadttore zu besetzen. Die Karthager entdeckten sie erst jetzt, aber ihre Zahl war zu gering, um sie aufzuhalten. Wieder wurden an der Landseite die Sturmleitern angelegt. Auch hier erklommen die Römer die Mauern der Stadt, ohne auf Widerstand zu stoßen. Sie machten die karthagischen Krieger in den Wachtürmen nieder und öffneten die Stadttore. Nun drangen die Legionäre kolonnenweise mit fliegenden Fahnen in die Stadt ein. Wieder setzte der römische Hornist sein Instrument an den Mund. Er blies das Signal, von dem die Legionäre beim Exerzieren und in den mörderischen Schlachten geträumt hatten. Es bedeutete, daß ihnen alles gestattet war - jede Plünderung, jede Grausamkeit. Am Abend wurde Neptun ein reiches Dankopfer dargebracht. Die Legionäre waren überzeugt, daß er es gewesen war, der ihnen den Sieg geschenkt hatte. Und während Publius ihnen die Auszeichnungen überreichte - silberbeschlagene Speere für jene, die einen Feind verwundet hatten, kostbare Metallschalen für die Fußsoldaten und silbernes Zaumzeug für die Kavalleristen sprachen sie unaufhörlich über den prophetischen Traum ihres Feldherrn, der wirklich haargenau eingetroffen war, wie er es gesagt hatte. Und nur ein Mann auf der Welt wußte, daß die Römer ihren Sieg nicht der Gnade des Gottes Neptun zu danken hatten, sondern einer Naturerscheinung, die man Ebbe nennt, und außerdem der Klugheit ihres jungen Feldherrn. Aber der Mann, der das wußte, befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Iberien.  Tränen der Tochter In Hannos Palast wurde zu einem rauschenden Fest gerüstet. Die Augen der Sklaven, die in dem Riesenhaus treppauf, treppab rannten, waren vor Schlaflosigkeit gerötet. Im Keller, wo die Küche untergebracht war, hörte man Metallteller klappern und den Oberkoch schreien, der die Köche, Küchenfrauen und Kuchenbäcker zur Eile antrieb. Im Stall kläfften und winselten junge Hunde. Damit ihr Fleisch zart und saftig wurde, fütterte man sie schon seit Wochen nur noch mit Milch. Die großen Festsäle wurden mit grünen Girlanden und Wachsblumen geschmückt, die echten Blumen täuschend ähnlich sahen. An den Marmorsäulen des Innenraums, den Stämmen der Palmen und den Pfeilern der Gartenmauern wurden Fackeln und Öllampen befestigt. Beim Erscheinen des Brautpaares sollten zu süßem Flötenklang alle Lichter angezündet und alle Springbrunnen in Gang gesetzt werden. Hinter eisernen Türen kramten Sklavinnen unter Hannos Aufsicht in den Truhen, um Sophonisbes Mitgift auszuwählen. Die Truhen enthielten weder Rüstungen noch Waffen, sondern Schätze, die Hanno von seinen unternehmungslustigen Vorfahren - Schiffern und Seeräubern - geerbt hatte: schwere Stoffe, merkwürdig gemusterte Teppiche, Bernsteinketten, Gold- und Silbergeschmeide, phönizische und ägyptische Glasgefäße. All das sollte Hannos Tochter, die künftige Königin der Numidier, erhalten. Wer würde beim Anblick dieser Schätze wagen, Hanno als Geizhals zu bezeichnen? Wenn Sophonisbe das Königsschloß des Syphax in Cirta mit solchen Kostbarkeiten schmückte, würden nach Hannos Meinung die Stimmen der Gegner verstummen. In den letzten Jahren hatte Hanno im Schatten gestanden. Man erwähnte ihn nur in Verbindung mit seiner hartnäckigen Feindschaft gegen Hannibal und hörte ihn im Großen Rat nur aus Höflichkeit an. Alle seine Anhänger waren von ihm abgefallen, weil Hannibal sie mit Silber bestochen oder durch seine glänzenden Siege beeindruckt hatte. Doch nun wurde Hannos Name wieder mit Achtung genannt. Man erinnerte sich, daß er zu einer Zeit, da fast ganz Karthago Hannibals ehrgeizige Pläne unterstützte, als einziger einen kühlen Kopf bewahrt und seine Landsleute zur Freundschaft mit Rom aufgefordert hatte. Er war auch der einzige gewesen, der verlangt hatte, den unmündigen Hannibal in Karthago zu behalten und zu verhindern, daß er zu einem Krieger erzogen wurde, und ihn später, nach der Einnahme Sagunts, den Römern auszuliefern. Hätten die Karthager damals auf seinen Rat gehört, dann würde sich in den vergangenen Jahren ihr Besitz vermehrt haben, dann hätten sie ihren Staatsschatz nicht für Elefanten und Söldner ausgeben müssen, dann besäßen sie noch ihre überseeischen Besitzungen und brauchten nun nicht von Stunde zu Stunde auf einen Angriff der Römer gefaßt zu sein. Denn wozu waren Karthago eigentlich die Elefanten und gewaltigen Landheere vonnöten? Hatte das Meer ihm nicht immer Reichtum und Ruhm gegeben? Nein, das Meer hatte nicht die Karthager verraten, wie Dummköpfe behaupteten, es war vielmehr von ihnen verraten worden und hatte sich nun an ihnen gerächt, indem es vor den römischen Truppen zurückwich, so daß diese in der Lage gewesen waren, Neu-Karthago von der Seeseite aus zu Fuß zu erreichen. Zumal die beiden karthagischen Städte keine Kriegsflotte besaßen, die den feindlichen Überfall hätte vereiteln können. „Baut Schiffe!" hatte Hanno seit jeher verlangt, und diese Forderung wurde nun von allen Karthagern unterstützt. Am Schiffbau würden nicht nur die reichen Holzhändler verdienen, sondern auch die karthagischen Handwerker. „Doch wenn es Publius Scipio nun gelingt, die karthagischen Wachposten zu täuschen und unbemerkt in Afrika zu landen?" fragte das Volk. Auch darauf wußte Hanno eine Antwort: „Dann werden unsere Reitereinheiten ihn ins Meer werfen!" Und er besorgte den Karthagern noch einmal eine numidische Reitereinheit. Viele Leute, die seine Weitsicht jetzt richtig zu erkennen glaubten, vertraten die Meinung, daß er Karthagos jetzige Zwangslage und die Notwendigkeit eines Bündnisses mit Syphax vorausgesehen und deshalb seine schöne Tochter, die inzwischen dreißig Jahre alt geworden war, noch nicht verheiratet hatte. Allerdings gingen auch andere Gerüchte um, wonach sich Sophonisbe bisher gegen eine Heirat gewehrt hätte. Aber wer mochte glauben, daß ein Mann, der nun das ganze karthagische Volk hinter sich hatte, mit seiner einzigen Tochter nicht fertigwerden konnte! Außerdem gab es wohl kein Mädchen, das freiwillig auf die Ehe verzichtet und es vorgezogen hätte, eine alte Jungfer zu werden! Der Hochzeitstag rückte näher. Alle Karthager warteten in freudiger Ungeduld auf Syphax und sein aus fünfhundert Reitern bestehendes Gefolge sowie auf die kostenlose Bewirtung, die Hanno ihnen versprochen hatte. Und nur die Braut sah dem Hochzeitstag wie einem unabwendbaren Unglück entgegen. Hanno hatte ihr vorgelogen, daß Masinissa in Iberien den Tod gefunden hätte, um ihre Einwilligung zur Heirat mit Syphax zu erhalten. Aber diese Lüge war eine zu starke Arznei gewesen, schlimmer als die Krankheit selbst. Sophonisbe weinte von früh bis spät. „Schluß mit den Tränen!" herrschte Hanno sie wütend an. „Ich will nicht, daß die Stadt dich als weinende Braut sieht! Ja, ich hatte dir versprochen, daß du keinen Barbaren heiraten brauchst. Aber die Götter fügten es anders. Überdies ist Syphax König und unser Freund. Deinetwegen hat er auf das Bündnis mit Rom verzichtet. Dein Masinissa war doch auch ein Barbar, und wenn er noch lebte..." „Nenne diesen Namen nicht!" Sophonisbes Augen funkelten vor Zorn. „Genügt es dir nicht, daß ich mich deinem Willen füge? Was willst du mehr? Mir das einzige nehmen, was mir geblieben ist - meine Trauer, meine Erinnerungen? Ich habe Masinissa geliebt. Und wäre er nur ein armer Hirt gewesen, ich hätte ihn nicht gegen alle Könige der Welt mitsamt ihren Schätzen eingetauscht." Sie schlug die Hände vors Gesicht. Weit hinter den Stadtmauern Karthagos lag eine sonnenüberflutete wundersame Welt. Von dort war Ma-sinissa gekommen, um sie mit sich zu nehmen. Doch ihr Vater hatte sie ihm verweigert und sie wie eine Gefangene in seinem Palast eingeschlossen. Warum? Um sie in seinem Spiel als Köder zu benutzen? „Sophonisbe, du weißt etwas Wichtiges noch nicht!" Hanno setzte sich neben sie. „Die Römer haben Neu-Karthago erobert! Hier in Karthago gibt es kein Heer. Ohne Syphax' Hilfe könnte sich Karthago keine Stunde halten. Und wenn es den römischen Legionären in die Hände fiele, würden sie uns Männer in die Sklaverei verschleppen, unsere Frauen und Töchter mißbrauchen und unsere Tempel schänden. Du mußt Masinissa vergessen. Niemand darf wissen, daß dir diese Hochzeit zuwider ist." Sophonisbe senkte den Kopf. Sie hatte keine Kraft mehr, sich dem beharrlichen Drängen des Vaters zu widersetzen. Sollte er seinen Willen haben. Aber ihr Herz würde ihm und ihrem künftigen Gemahl für immer verschlossen bleiben! Von den fernen schneebedeckten Gipfeln der Pyrenäen blies der Nordwind. Unter seinem eisigen Hauch duckten sich die Eichen. Ihre vergilbten Blätter wirbelten durch die Luft, und die Eicheln prasselten zu Boden. Hufschlag näherte sich. Ein Reiter galoppierte auf seinem Schimmel so eilig vorüber, als hinge von der Schnelligkeit des Galopps sein Leben ab.  Es war Masinissa, und er war auf dem Weg nach Karthago, denn erst heute hatte er die Wahrheit erfahren, obgleich Magon und Hasdrubal sie schon lange kannten: Hanno hatte seine Tochter mit Syphax verheiratet.  Der Kurier Als Publius Scipio Neu-Karthago eroberte, befand sich Kylon auf der Reise nach Rom. Publius hatte ihn großzügig entlohnt und ihm eine Anweisung auf fünftausend Sesterzen an den neapolitanischen Geldwechsler Skintius übergeben. Kylon kannte Skintius' Kneipe genau; sie lag am Marktplatz. Kylon malte sich schon aus, wie Skintius ihn ins Hinterzimmer der Kneipe führen und die Geldanweisung mit dem Abdruck des Siegelringes von Publius Scipio von allen Seiten prüfen würde. Schließlich erhielt er nicht alle Tage eine Anweisung auf eine so hohe Summe. Und während Skintius das Geld hervorholte und abzählte, würde er, Kylon, wortlos und mit würdevollem Gesicht danebensitzen. Ja, er würde schweigen wie ein Toter oder höchstens über Nebensächlichkeiten reden, über das Wetter zum Beispiel. „Was ist mit dir los, Kylon?" würde Skintius verwundert fragen. „Beim letztenmal, als ich dir die zweihundert Sesterzen auszahlte, hast du mir deine Abenteuer so haarklein berichtet, daß ich glaubte, selber nach Afrika gesegelt zu sein. Jetzt dagegen bist du dermaßen wortkarg, als hättest du eine Erbschaft gemacht oder wärest in den Senat gewählt worden!" Doch auch darauf würde Kylon nicht antworten, trotz seines Bedürfnisses, dem Geldwechsler von seinem Ölhandel in Neu-Karthago, von seiner wunderbaren Rettung und von der Großzügigkeit des jungen Feldherrn zu erzählen, der ihm das Geld für das verlorengegangene Schiff aus seiner Privatkasse ersetzt hatte. Publius hatte ihn nämlich schwören lassen, keiner Menschenseele zu verraten, daß er in Neu-Karthago gewesen wäre. „Da hast du noch hundert Sesterzen für dein Schweigen!" hatte er gesagt. Dieses Geld klirrte jetzt in Kylons Geldbeutel und erinnerte ihn an seinen Eid. Und wenn er für sein Schweigen jedesmal soviel Geld erhielte, würde er stumm werden wie ein Fisch und sich nur noch durch Zeichen verständigen. Und überhaupt - mit wem sollte ich mich auf See unterhalten? Etwa mit den Rudersklaven, die nur die pfeifende Sprache der Peitsche verstehen? Die Zeit verging. Schon drei Tage lang segelte das Schiff übers Meer. Kylon hielt den Mund und verschloß seine Freude in sich. Er kam sich vor wie jener Barbier, der das Geheimnis des Königs Midas kannte und von diesem unter Todesdrohungen gezwungen worden war, es keinem Menschen zu verraten. König Midas hatte nämlich bei einem Sangeswettstreit der Götter den Schiedsrichter spielen müssen und den Gott Apollo zum Verlierer erklärt. Aus Ärger darüber hatte Apollo ihm Eselsohren verliehen, die der Barbier zu Gesicht bekam, als er dem König das Haar stutzte. Immerhin fand der Barbier in seiner Not einen Ausweg. Er grub ein tiefes Loch in die Erde, steckte den Kopf hinein, vertraute der Mutter Erde sein Geheimnis an und erleichterte sich auf diese Weise. Später wurde das Geheimnis trotz aller Vorsichtsmaßregeln dadurch in der ganzen Welt bekannt, daß über jenem Loche Röhricht wuchs und mit menschlicher Stimme in seinem Rauschen rief: „König Midas hat Eselsohren! König Midas hat Eselsohren!" Aber hier kann ich sowieso kein Loch in die Erde graben, weil es keine Erde gibt, dachte Kylon seufzend. Und diesem verdächtigen iberischen Schiffer, der mich für einen sündhaft hohen Preis an Bord genommen hat, werde ich mich auf keinen Fall anvertrauen. Natürlich hätte ich mit der Heimfahrt warten können, bis mich ein römisches Kriegsschiff mitgenommen hätte, das wäre sicherer gewesen, aber ich will doch so schnell wie möglich zu meinem Geld kommen. Dafür kaufe ich mir dann Bauholz und Sklaven und baue mir ein neues Schiff. Und wie soll ich es nennen? Einen glücksbringenden Namen zu finden ist gar nicht so leicht. Vielleicht „Delphin"? oder „Möwe"? Nein, diese Namen waren abgenutzt. Ob er sich vielleicht mit dem Passagier beriet, den er flüchtig beim Einsteigen gesehen hatte? Es war schon so spät gewesen, daß er sein Gesicht nicht erkennen konnte, und in den folgenden Tagen hatte sich der Mann auch nicht an Deck sehen lassen. Ob er seekrank geworden war? Dann könnte ich ihm drei Mittel gegen diese Krankheit verraten! überlegte Kylon. Erstens muß er einen Schluck Wein in den Mund nehmen und ihn so lange darin behalten, bis er Erleichterung verspürt. Und wenn das nicht hilft ... Er kletterte in den Laderaum hinunter. Es roch nach Nässe und Schimmel. Von der niedrigen Decke tropfte Wasser. Die Tür zur Kajüte des Unbekannten war nur angelehnt. Kylon horchte. „Morgen sind wir in Neapel!" sagte der Schiffer. „Vergiß nicht, daß du mich nachts absetzen mußt!" antwortete eine andere Stimme. „Ja, ich laufe bei Tag in den Hafen ein und lasse den Griechen aussteigen. Anschließend setze ich dich nachts in der Nähe ab, vielleicht bei Cumae." „Weshalb hast du den Griechen überhaupt mitgenommen?" brummte der andere. „Der stört dich doch nicht! Er hockt den ganzen Tag an Deck und zählt sich etwas an den Fingern ab. Vielleicht rechnet er aus, wieviel er gespart hätte, wenn er nicht mit meinem, sondern mit einem anderen Schiff gefahren wäre. Also leb wohl! Bis auf heute abend." Kylon flitzte unter die Treppe. Er wollte nicht gesehen werden, trotzdem hätte er gar zu gern gewußt, wer der geheimnisvolle Passagier war, der sich versteckt hielt und nachts an Land gesetzt werden wollte. Vorsichtig spähte er durch den Türspalt, prallte aber sofort wieder entsetzt zurück. In der Kajüte saß der ihm nur allzugut bekannte dicke karthagische Kapitän. Mit angehaltenem Atem schlich Kylon von der Tür weg und stürzte an Deck. Wenn er mich zu Gesicht kriegt, geht's mir schlecht. Hier weicht das Meer nicht zurück wie neulich bei Neu-Karthago. Aber was will der Kerl in Cumae? Das ist bestimmt ein karthagischer Kurier! Und der Schiffer steckt mit ihm unter einer Decke. Brief für Hannibal Nachdem Kylon ohne weitere Zwischenfälle Neapel erreicht hatte, benachrichtigte er schleunigst die Römer, welchen Passagier der iberische Schiffer nachts an Land setzen wollte, und beschrieb das Aussehen des dicken Kapitäns so genau wie möglich. In Cumae wurde der dicke Kapitän nicht entdeckt. Vermutlich hatte der Schiffer ihn nicht im Hafen abgesetzt, sondern unweit davon, in einer der vielen verschwiegenen Buchten. Der Konsul Claudius Nero, der mit seinem Heer in Canusium lag, ganz in der Nähe von Hannibal, gab Befehl, einen so dichten Bewachungsring um das karthagische Lager zu ziehen, daß keine Maus hinein- und herausschlüpfen konnte. Diese Maßnahme hatte Erfolg! Die Posten nahmen den karthagischen Kurier fest. Er war als Händler verkleidet und spielte seine Rolle so geschickt, daß man ihn schon laufen lassen wollte. Doch dann entdeckten die Römer in einer Geheimtasche seines Gewandes einen an Hannibal gerichteten Brief. Hannibals Bruder Hasdrubal meldete in dem Schreiben, daß er sich mit Truppen und Elefanten auf dem Wege nach Italien befände, und nannte als Ort des Zusammentreffens die Stelle, wo die Flaminische Straße dicht am Metarofluß vorbeiführte. Konsul Claudius Nero war klug genug, um die Bedeutung dieser Nachricht zu erkennen. Falls Hasdrubal mit frischen Truppen in Italien einträfe und sich mit Hannibal vereinigte, war der Krieg verloren. Nun begriff der Konsul, weshalb Hannibal sein Lager bisher nicht verlassen hatte. Er hatte auf diesen Brief gewartet! Und Konsul Claudius Nero faßte einen kühnen Entschluß. In der folgenden Nacht verstärkte er die Wachen und verließ dann mit dem größten Teil des Heeres heimlich sein Lager. Den zurückbleibenden Legionären befahl er, zu lärmen und viele Lagerfeuer anzuzünden, um den Karthagern vorzutäuschen, daß sich noch das gesamte Heer im Lager befände. Inzwischen vereinigte er seine Truppen mit denen des zweiten Konsuls Marcus Livius, und gemeinsam zogen sie zum Metarofluß. Es war ein strahlender Sommertag. Die Sonne brannte von einem weißglühenden Himmel. An den Uferhängen wuchsen Trauerpinien, darüber kreisten beutehungrige Geier. Die vielen Augen, die ihren Flug verfolgten, würden vielleicht bald ihre Beute sein.  Seit Jahren sehnte sich Hasdrubal nach Hannibal. Wie hatte er Magon beneidet, der Gefahr und Ruhm des italischen Feldzugs mit dem Bruder teilen durfte! Schon im zweiten Kriegsjahr hätte Hasdrubal zu Hannibal stoßen sollen. Sie wollten gemeinsam zum Sturm auf Rom ansetzen. Aber da tauchten die Scipionen in Iberien auf, zunächst die Brüder Publius und Gnaeus, und dann der Sohn des Publius, der den gleichen Namen wie sein Vater trug. Scipio! Dieser Name zischt wie eine Schlange! dachte Hasdrubal wütend. Wenn man dieser Schlange den Kopf abschlägt, wächst ihr ein neuer nach! Und es ist durchaus möglich, daß in Rom, dieser Schlangenhöhle, schon wieder eine neue Schlangenbrut heranwächst! Verfluchtes Schlangengezücht! Um ganz Iberien hat es sich schon geringelt, bis hin nach Neu-Karthago ist es gekrochen! Aber meinen Marsch konnte es doch nicht verhindern! Bisher war alles gut gegangen. Zwei Monate hatte Hasdrubals Heer für den Marsch von Iberien nach Italien gebraucht, ohne wesentliche Verluste zu erleiden. Aber wo blieb jetzt Hannibal? Der zuverlässigste Kurier, den es in der karthagischen Armee gab, hatte ihm den Ort des Treffens gemeldet. Der Schiffer, der den Kurier nach Italien gebracht hatte, war schon wieder zurückgekehrt und hatte die Erfüllung des Auftrages gemeldet. Besorgt blickte Hasdrubal auf die andere Seite der Straße. Warum standen dort an Stelle karthagischer Truppen die Römer? Im römischen Heerlager bliesen zwei Hörner. Ein Zeichen dafür, daß es die Heere zweier Konsuln waren. Und Hannibal? Welcher Konsul kämpfte gegen Hannibal? Wählten die Römer neuerdings etwa drei Konsuln? Oder war Hannibal gefallen? In diesem Falle hätte eine Schlacht überhaupt keinen Sinn mehr. Trotzdem konnte Hasdrubal ihr nicht ausweichen. Er kannte die Gegend nicht, seine Wegführer hatten sich tags zuvor heimlich aus dem Staube gemacht. Bei einem Rückzug konnte er leicht in eine Falle geraten. Ja, erkannte Hasdrubal, ich muß mich zum Kampf stellen. Vielleicht zieht der Schlachtenlärm meinen Bruder Hannibal herbei! Gut möglich, daß er schon unterwegs ist und seine Truppen in höchster Eile antreibt! Er ließ Alarm blasen. Sonst pflegten seine Söldner beim ersten Ton der Trompete auf die Beine zu springen. Doch diesmal erhoben sie sich nur widerstrebend von der Erde, die ihnen nach den Anstrengungen des Alpenüberganges ein hartes Ruhelager gewesen war, trotteten langsam zu ihren Einheiten und reihten sich ein, das Gesicht zur Straße gewendet. Die Flaminische Straße! ging es Hasdrubal durch den Kopf. Sie trägt den Namen des Mannes, den mein Bruder im zweiten Kriegssommer besiegte. Häufig sprach er von Flaminius, der ganz Norditalien bis hin zu den Alpen für Rom eroberte, und meinte, daß Rom fallen würde, sobald er Flaminius besiegt hätte. Flaminius wurde besiegt, doch Rom wurde dadurch nicht erschüttert. Zehntausende von Römern fielen in den Schlachten am Trasimenischen See und bei Cannae, doch neue Römer nahmen ihre Plätze ein. Ob wir etwa nicht gegen sterbliche Menschen kämpfen, sondern gegen unsterbliche Geister, die immer wieder auferstehen? Und jetzt liegt diese schnurgerade Straße vor uns wie eine unüberschreitbare Trennlinie, die der Geist des Flaminius vor uns aufgerichtet hat, um sich zu rächen. Die rechte Flanke des Heeres stieß an einen Hügel, der früher ein Weinberg gewesen sein mußte, denn die Stützen für die Weinreben waren noch vorhanden. Jetzt müßte ich die Reiterei hier haben! dachte Hasdrubal. Ich hätte sie hinter diesem Hügel postieren und im erforderlichen Augenblick in die Schlacht werfen können! Aber die Reiterei war in Karthago, Masinissa hatte sich geweigert, Hasdrubal nach Italien zu begleiten, als er von Hannos Betrug erfuhr, und so war Hasdrubal nichts anderes übriggeblieben, als ihn mit seinen Reitern nach Afrika zurückkehren zu lassen. Vielleicht konnte er auch dort von Nutzen sein. Die Treiber lenkten die Elefanten heran. „Wann wirst du mir Elefanten schicken?" „Was ist mit meinen Elefanten?" hatte Hannibal in jedem Brief gefragt. Mit fünfzig Elefanten war Hasdrubal in Iberien aufgebrochen, und vierzig waren nach dem Übergang über die Alpen noch am Leben. Langsam stampften die Elefanten durch den Gang, den die gallischen und iberischen Kolonnen für sie gebildet hatten. Ihre schweren Schritte dröhnten wie Grabesgeläut. Ihre bunten Satteldecken waren verblichen, den Kopf hielten sie trübselig gesenkt. Sie schienen zu spüren, wie diese Schlacht auslaufen würde.  Der Ledersack Schon seit zwei Monaten hielt sich Hannibal in einem befestigten Lager bei Canusium auf. Längst waren die umliegenden Dörfer kahlgegessen, bald würden seine Krieger hungern müssen. Es war an der Zeit, andere, noch nicht verödete Provinzen Italiens aufzusuchen, aber Hannibal zögerte. Worauf wartete er? Daß die Römer sich ihm zur Schlacht stellten? Seit einigen Wochen verließen sie kaum mehr ihr Lager. Er hörte sie nur lärmen und sah nachts den Widerschein von ihren zahlreichen Lagerfeuern am Himmel stehen. Wovon ernähren sich die zehntausend Legionäre, die sich im Lager befinden müssen? grübelte Hannibal. Was führen sie im Schilde? Er ließ Dukarion rufen. Dukarion war als Gallier und ehemaliger römischer Sklave besonders gut geeignet, um sich zum römischen Lager zu schleichen und herauszufinden, was dort vor sich ging. In der folgenden Nacht kroch Dukarion unbemerkt dicht ans römische Lager heran. Mit ausgestreckter Hand hätte er den grasbedeckten Lagerwall berühren können. Alles war still. So qualvoll langsam verstrich ihm die Zeit, als würde sie von den Göttern in ihrem Lauf gehemmt, um seine Geduld auf die Probe zu stellen. Schließlich hörte er Schritte und Stimmen über sich. Die Posten! dachte er und preßte sich fester an die Erde. Trockene Gräser kitzelten ihm das Gesicht. Sie dufteten nach Wermut. Er hielt den Atem an, um die Unterhaltung der Römer zu verstehen. Vielleicht konnte er daraus entnehmen, wann Postenwechsel war. „Zeit zur Weinlese!" sagte der erste Posten. „Siehst du den Stern dort oben? Den nennen wir den Weinbecher. Wenn er am Himmel steht, ist es Zeit, Körbe und Fässer bereitzustellen. In unserer Gegend pflanzt man die Reben neben Bäumen, damit sich die Schößlinge daran hochranken können!" „Bei uns wächst kein Wein", antwortete eine hellere Stimme, die anscheinend einem jungen Mann gehörte. „Dazu ist der Boden zu fett. Wir züchten Kohl. Unsere Kohlköpfe sind größer als Männerschädel. Zu dieser Jahreszeit bringen wir sie immer nach Rom auf den Markt!" Das war kein Wortwechsel zwischen grimmigen römischen Legionären, sondern die friedliche Unterhaltung zweier Männer, die man von ihrer Familie und ihrer gewohnten Arbeit in Weinbergen und Gemüsefeldern weggeholt hatte. Zum erstenmal seit vielen Jahren spürte Dukarion die ganze Sinnlosigkeit seines Söldnerdaseins. War er denn als Krieger geboren? Ohne den Überfall der Römer würde er noch immer am Ufer der Adda die Pferde hüten. Wie hatten ihre Rücken und ihre Flanken im Mondlicht geglänzt! Wie vertraut waren die Geräusche jener Nächte gewesen - das leise Wellengeplätscher, das knisternde Lagerfeuer! Damals wäre ihm nie der Gedanke gekommen, daß er eines Nachts auf den Befehl eines fremden Mannes über einen verunkrauteten Acker kriechen würde, um Bauern und Winzer gefangenzunehmen und zu töten oder um von ihnen getötet zu werden! Dennoch habe ich keine andere Möglichkeit! grübelte Dukarion. Ich bin an Hannibal geschmiedet wie ein Rudersklave an die Ruderbank. Und selbst wenn ich die Ketten zerreiße, bin ich noch immer vom feindlichen Meer, von mörderischen Wasserfluten umgeben. Ich kann nicht nach Gallien fliehen, denn alle nach Norden führenden Straßen werden von den Römern bewacht. Und wenn ich mich ihnen ergeben würde, hätte ich nur die Sklaverei zu erwarten, und das wäre schlimmer als der Tod. Plötzlich hörte er fernen Marschtritt und Stimmenlärm. Offenbar rückte ein römischer Truppenteil durch das jenseitige Tor ins Lager ein. Die Römer bereiten sich auf eine Schlacht vor! Das ist vermutlich eine frische Einheit! sagte sich Dukarion. „Endlich sind sie wieder da!" rief über ihm der ältere Posten. „Schau, sie haben Elefanten mitgebracht!" ergänzte der jüngere. „Wo mag der Konsul die erobert haben?" Langsam, dicht an den Boden geduckt, kroch Dukarion davon. Erst als er ein kleines Waldstück erreicht hatte, richtete er sich auf und rannte zum karthagischen Lager zurück, so schnell ihn seine Füße tragen wollten. Auf diese Weise erfuhr Hannibal, daß die Konsuln vor einiger Zeit mit dem größten Teil ihrer Heere das Lager verlassen hatten und nun wieder zurückgekehrt waren. Doch wo hatten sie sich inzwischen aufgehalten? Und woher stammten die Elefanten? Hannibal ahnte Schlimmes. Am nächsten Morgen brachte man ihm einen Ledersack, den die Posten am Lagerwall gefunden hatten. „Aufmachen!" befahl Hannibal kurz. Der Posten gehorchte. Ein blutiger Kopf fiel ins Gras. „Wollen mich die Römer verhöhnen?" fragte Hannibal verächtlich. Doch dann sah er genauer hin und sank auf die Knie. „Bruder", flüsterte er, „so sehen wir uns wieder." Mit unwirklicher Deutlichkeit stieg in seiner Erinnerung das Kinderspiel auf, und seine eigene triumphierende Stimme klang ihm in den Ohren: Die Römer haben gesiegt. Nachdem Hannibal den Kopf des Bruders begraben hatte, führte er sein Heer zur Südspitze Italiens.  Ein zweites Wiedersehen Auf einem Felsen, dicht am Meer, leuchtete der weiße Marmortempel der Göttin Hera. Schlanke Zypressen wiesen den Schiffern den Weg zum Heiligtum. Hier herrschte auch im Hochsommer Kühle, denn die heiße Julisonne war nicht imstande, die gewaltigen Steinquadern zu durchdringen, die den Tempel in eine Festung verwandelt hatten. Am Fuße des Felsens weideten Tarentiner Schafe, deren Wolle so kostbar war, daß man ihnen die Felle gewöhnlicher Schafe über den Rücken deckte. Sie hatten früher den Priestern gehört und waren jetzt Eigentum der Armee geworden, wie alles ringsumher. Zwischen zwei Olivenhainen lag das karthagische Lager. Bei Sturm spritzten die Wogen bis zu den Zelten hin und füllten sie und den Tempel mit ihrem Brausen. Von seinen Stufen hatte man einen weiten Blick auf das Meer. Aber all das vermochte den Feldherrn nicht von seinen qualvollen Grübeleien abzulenken. Er, für den nur der Kampf Leben bedeutete, war zur Untätigkeit verurteilt. Er konnte nur noch auf Nachrichten warten von dort, wohin sich der Krieg verlagert hatte. Freund und Feind schienen ihn vergessen zu haben. Die Proviantschiffe, die man ihm aus Karthago geschickt hatte, waren an der sardinischen Küste im Sturm untergegangen. Italien, das ihn geduldet hatte, solange er siegte, behandelte ihn jetzt mit wortloser Feindseligkeit. Bei seinem Herannahen schlossen die Städte ihre Tore, verödeten die Dörfer. Ihre Einwohner verbrannten die Saaten, nahmen ihr Vieh und flohen. Und sein Heer? Es bestand zur Hälfte aus Italikern, denen er versprochen hatte, sie gegen Rom zu führen. Würden sie ihm folgen, wenn er sie statt dessen nach Afrika brächte? Nein, sie würden Italien nicht verlassen. Sie wollten nur hier kämpfen, weil sie nur hier ihre Befreiung vom römischen Joch erlangen konnten. Immer häufiger beschäftigte sich Hannibal in Gedanken mit Publius Scipio. Es schien ihm, daß sich in den Worten und Taten dieses Römers die Lösung für die Rätsel des Krieges verbarg. Allein die Tatsache, daß der junge Scipio während Hannibals Aufenthalt in Italien vom Knaben zum Manne herangewachsen und Konsul geworden war, bedrückte Hannibal tief. In blutigen Schlachten vernichtete ich eine ganze Generation von römischen Kriegern, aber ihre Söhne sind nachgerückt, und schon wachsen ihre Enkel heran! Und wo bleibt unser Nachwuchs? Ich und meine Veteranen, wir sind wie Dornen, die der afrikanische Wüstenwind auf die italische Erde herüberwehte. Wir haben keine Wurzeln, keine Zukunft. Iberien, das Land, das mein Vater und mein Vetter Hasdrubal eroberten, ging uns nahezu vollständig verloren. Ich hatte erwartet, daß Publius Scipio nach seinen iberischen Siegen in Italien landen würde, um mir hier die Entscheidungsschlacht zu liefern. Aber er hat sich nach Sizilien begeben. Das ist eine Demütigung für mich als Mensch und Feldherr. Bin ich der Aufmerksamkeit eines Scipio nicht mehr würdig? Hannibal schoß das Blut ins Gesicht. Er rief sich seine Siege am Trasimenischen See, an der Trebia und bei Cannae ins Gedächtnis, doch auch sie trösteten ihn über die schmachvolle Kränkung nicht hinweg. Ja, Scipio hat recht! Ich bin nicht mehr gefährlich, deshalb kehrt er mir den Rücken. Hinter dem Kap tauchte ein Schiff mit steilem Segel und zwei Reihen von Rudern auf. Es war, wie Hannibal erkannte, eines jener Wachschiffe, die zum Schutz der afrikanischen und iberischen Küste eingesetzt, aber wegen ihrer Schnelligkeit auch für längere Fahrten benutzt wurden. Welche Nachricht würde es ihm bringen? Als das Schiff am Ufer angelangt war, ankerte es und ließ ein Boot zu Wasser. Es wurde von zwei Männern gerudert. Ein dritter breitschultriger Krieger stand aufrecht am Bug. Hannibal hastete zum Ufer hinunter. Der Mann am Bug war Magon. Besorgniserregende Ereignisse mußten ihn veranlaßt haben, Karthago zu verlassen, wo er Elefanten und Truppen besorgen sollte. Wortlos schloß er Hannibal in die Arme. „Ein Unglück ist geschehen!" sagte er dann leise. „Gula ist tot, und Masinissa ist von uns abgefallen. Er hat Syphax den Krieg erklärt und den karthagischen Ratsherrn ermordet, der als Friedensunterhändler zu ihm kam. In seinem Lager wurden Abgesandte des Publius Scipio gesehen." Hannibal senkte den Kopf. Schon lange wußte er, daß sich Karthago durch sein Schwanken zwischen Syphax und Gula in eine große Gefahr begeben hatte. Hanno hatte versucht, beide Numidier-Könige zu Karthagos Bundesgenossen zu machen und geglaubt, daß Gula die Verheiratung Sophonisbes mit Syphax nicht übelnehmen würde. Er war doch stets dagegen gewesen, daß sein Sohn dieses Mädchen zur Frau nahm. Aber nun war Gula tot. Schon vor zwanzig Jahren hatte mein Vater mit diesem Tod gerechnet und deshalb versucht, Masinissa an uns zu binden, dachte Hannibal. Doch Hanno machte all unsere Bemühungen zunichte. Er versprach Masinissa die Tochter unter der Bedingung, daß dieser Kriegsruhm erwürbe, in Wirklichkeit aber nur, um den jungen Numidier aus Karthago zu entfernen. Vermutlich nahm er an, daß Masinissa bei den Kämpfen in Iberien ums Leben kommen würde. Doch Hanno hat sich getäuscht, Masinissa ist nach Afrika zurückgekehrt, hat den väterlichen Thron mit Waffengewalt erobert und uns den Krieg erklärt. Publius Scipio erhielt einen mächtigen Verbündeten. Hannibal blickte seinem Bruder eindringlich in die Augen. „Jetzt sind wir nur noch zwei", sagte er dumpf. „Wie sehr wünschte ich, daß du für immer bei mir bleiben könntest. Aber es ist unmöglich, diesen Auftrag einem anderen zu geben." „Ich höre, Hannibal", sagte Magon kurz. Das war die übliche Antwort des Kriegers auf einen Befehl seines Vorgesetzten. Aber aus der bewußten Knappheit, aus der Festigkeit der Stimme klang Magons Wunsch, den Bruder zu beruhigen und ihm zu beweisen, daß sein Glaube an den Sieg auch in diesen schweren Tagen unerschütterlich war. „Du mußt nach Norditalien", sagte Hannibal. „Ich gebe dir Dukarion und alle Gallier mit. Jetzt kann uns nur noch ein Aufstand gegen Rom im Norden des Landes retten. Du erhältst auch alle Schiffe." „Und du?" Fragend sah Magon den Bruder an. „Was willst du ohne Schiffe anfangen, wenn die Römer kommen? Außerdem kann ich dir doch nicht alle Gallier nehmen! Aus Afrika erhältst du keinen einzigen Krieger!" „Die Römer kommen nicht. Sie haben noch immer Angst vor dem Schatten jenes Hannibal, der am Trasimenischen See und bei Cannae siegte. Nur Publius Scipio würde sich mir zur Schlacht stellen. Doch jetzt, da uns Masinissa verraten hat, wird er sich unverzüglich nach Afrika einschiffen. Ich könnte bei Melkart schwören, daß er schon unterwegs ist!"  Die Taube der Aphrodite Publius Scipio ging zwischen den marmornen Zuschauerbänken hindurch. In wenigen Augenblicken würde eine Aufführung der „Antigone" beginnen, und viele Einwohner der sizilianischen Stadt Lilybaeum waren herbeigeströmt, um dieses berühmte Theaterstück des griechischen Tragödiendichters Sophokles zu sehen. Antigone war der Sage nach eine der beiden Töchter des unglücklichen Königs Ödipus, der durch die tragischen Verstrickungen des Schicksals unwissentlich seinen Vater tötete und später ebenso unwissentlich seine eigene Mutter heiratete. Als er dann von seinen eigenen Freveltaten Kenntnis erlangte, stach er sich selber die Augen aus und verließ sein Land. Von Mitleid erfüllt, begleitete Antigone ihren unglücklichen Vater in die Fremde, teilte mit ihm alle Mühsal und Not der Verbannung und kehrte erst nach seinem Tode in die Heimat zurück. Aber auch hier fand die gütige Jungfrau keinen Frieden. Sie mußte mit ansehen, daß sich ihre beiden Brüder im Kampf um die Herrschaft gegenseitig ermordeten und daß ihr Oheim den Leichnam des einen, der Polyneikes hieß, unbestattet auf dem Felde liegenließ, den Raubvögeln und Hunden zum Fraße, zur Strafe dafür, daß er fremdes Kriegsvolk ins Land geführt und seine Vaterstadt bedroht hatte. Kreon, der Oheim von Antigone, verbot bei Todesstrafe, Polyneikes zu begraben, aber Antigone mißachtete das Verbot, ging hin, bedeckte seine Leiche mit trockener Erde und goß aus einem Kruge die Totenspende über ihn aus, wie es die alte Sitte forderte. Das erfuhr Kreon, und der Grausame ließ sie zur Strafe lebendig in ein unterirdisches Gewölbe einmauern, wo sie den Tod fand. „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da!" Dieses Wort, das Sophokles der Antigone in den Mund legte, sollte die Jahrhunderte überdauern. Und auch Publius Scipio hörte es in tiefer Erschütterung. In der Pause ließ er nachdenklich seinen Blick über die Zuschauerreihen gleiten. Ja, zwischen den Bürgern der Stadt saßen viele römische Legionäre. Sie waren seinem Beispiel gefolgt und nutzten die Atempause zwischen den Schlachten, um sich an der Kunst zu erfreuen. Ihm fiel ein Satz aus einem Schreiben ein, das die Entsendung einer speziellen Kommission des Senats nach Sizilien verursacht hatte. Darin hieß es: „Publius Scipio vergißt seine Aufgabe, geht ständig ins Theater und verbringt seine freie Zeit mit der Lektüre griechischer Philosophen." Für den Dummkopf, der das schrieb, und für die anderen Dummköpfe, die sein Geschreibsel so ernst nahmen, daß sie mir eine Kommission auf den Hals schickten, scheinen Theaterbesuche unvereinbar mit Angriffsvorbereitungen zu sein, dachte Publius spöttisch. Sie meinen, daß ein Feldherr von früh bis spät in seinem Zelt sitzen muß oder bestenfalls Paraden abnehmen darf und daß nur Sophokles mich in Sizilien zurückhält. Wenn sie meine Legionäre hier in den Zuschauerbänken sitzen sähen, würden sie glauben, die Armee zerfiele. „Darf ich mich neben dich setzen?" fragte eine Stimme. Publius Scipio fuhr aus seinen Gedanken auf. „Gnaeus Naevius in eigener Person!" rief er verwundert. „Bist du eigens aus Rom gekommen, um die Aufführung der ,Antigone' zu sehen?" „Nein, ich bin hier, um mit dir zu sprechen", erwiderte der Dichter. „In Rom erzählt man sich, daß man dich häufiger im Theater als im Feldlager trifft, deshalb bin ich direkt hierhergeeilt, zumal wir uns ja nicht zum erstenmal in einem Theater begegnen." „Es ist mir eine große Ehre, daß Gnaeus Naevius mich besucht", sagte Publius. Gnaeus Naevius überhörte die Schmeichelei. „Manchmal verschleißt ein Schriftsteller auf der Jagd nach seinem Helden ein Dutzend Sandalen und wird alt und grau und merkt nicht, daß dieser Held in unmittelbarer Nähe lebt!" sagte er erregt. „Er war zu jener Zeit noch ein Knabe, ein Grünschnabel, der selbst nicht wußte, was in ihm steckte. Doch er wurde ein berühmter Mann, der schon Neider hat, schon gehaßt wird. Erst jetzt begreife ich, daß ich mich beeilen muß, wenn ich nicht zu spät kommen will, daß ich keine Ruhe finde, bevor ich ihn kennengelernt und erfahren habe, welchen Spitznamen er als Kind trug, mit wem er befreundet ist, wen er liebt. Ich war im Lager des Fabius und weiß, daß er als Kind Schäfchen genannt wurde. Ich verbrachte ein Jahr mit Hannibal bei Capua und kann schwören, daß seine einzige Leidenschaft der Haß auf Rom ist. Doch was weiß ich von Publius Scipio? Daß er in der Schlacht an der Trebbia seinen Vater rettete und daß er Neu-Karthago eroberte. Mehr nicht. Wie verlief seine Entwicklung? Wer war sein Lehrer?" „Meinen Lehrer kennst du seit langem", antwortete Publius. Verständnislos sah der Dichter ihn an. „Die Kriegskunst erlernte ich von Hannibal", fuhr Publius fort. „Er war mir ein besserer Lehrer als mein Vater. Ich studierte seine Kriegführung wie der Jäger das Verhalten des Wildes. Ich kenne seine starken und schwachen Seiten. Manchmal habe ich das Gefühl, als könne ich seine Gedanken lesen." Er blickte sich um, weil ein Liktor plötzlich hinter ihm stand und ihm eine winzige Schriftrolle überreichte. Hastig entrollte Publius das Papier. Er wußte, daß es von einer Taube gebracht worden war. Vor vielen Jahren, als die Karthager anfingen, die Liebesgöttin Aphrodite in ihrem sizilianischen Heiligtum zu verehren, ließen sie häufig Tauben, die heiligen Vögel dieser zärtlichen Göttin, nach Karthago fliegen. Die Tauben überquerten das Meer, das Sizilien von Karthago trennte, fanden zielsicher den Weg zum Tempel der Aphrodite in Karthago. Nach genau neun Tagen kehrten sie dann nach Sizilien zurück. Die Karthager glaubten, daß sich mit ihren weißgefiederten Lieblingen auch die Göttin während der neun Tage in Karthago aufhielte. Dieser Brauch hatte den findigen Kylon auf den Gedanken gebracht, die Tempeltauben als Boten zu benutzen, zumal sich das römische Lager nicht weit vom Tempel der Aphrodite befand. Nur drei Worte standen auf dem Zettel: „Die Taube hat gepickt." Auf diesen Satz hatte Publius fast ein Jahr gewartet und Spott und Verleumdung ertragen. Nein, er hatte seine Aufgabe nicht vergessen, wie die Verleumder es ihm vorwarfen. Er hatte nur gewartet. Dummköpfe glauben, ein Krieg bestehe nur aus den Zweikämpfen, die die Helden vor den Augen ihrer angetretenen Truppen miteinander ausfechten, und aus einer Folge von Schlachten. Sie sehen nur das, was in der Öffentlichkeit vor sich geht. Was wissen sie von den Spionen, die in die feindlichen Städte und Feldlager eindringen, von einem Sieg, der jahrelang vorbereitet wird, von den Tauben der Aphrodite? „Verzeih", sagte Publius zu Gnaeus Naevius. „Unser Gespräch bleibt auch diesmal unbeendet. Heute nacht schiffe ich mich nach Afrika ein."  Die letzte List Publius Scipio drückte Kylon die Zügel seines Pferdes in die Hand und trat in das Zelt des Königs. Neben Syphax saß eine junge Frau. Beim Eintritt des römischen Feldherrn schlug sie die Augen nieder, und die Schatten ihrer langen Wimpern legten sich über ihre blassen Wangen. Viele Male war Publius im römischen oder numidischen Lager mit König Syphax zusammengetroffen, aber immer unter vier Augen. Selbst seinen Sohn Wermino, den Publius bei seinem ersten Besuch in Syphax' Hauptstadt kennengelernt hatte, ließ der Numidierkönig nicht an den Unterredungen teilnehmen, die das Schicksal des Krieges entscheiden sollten. Jetzt aber saß Sophonisbe, Hannos Tochter, neben ihm. Ihr Eintreffen in Cirta war damals, wie Publius heute wußte, der Grund dafür gewesen, daß Rom die gewünschten numidischen Reiter nicht erhielt. Und was verhieß die Anwesenheit der schönen Frau jetzt? Hatten die Karthager die Hoffnung aufgegeben, daß der Kriegsgott ihnen helfen würde, und sich die Liebesgöttin Aphrodite zu Hilfe geholt? Oder wollte Syphax ausdrücken, daß er nicht die Absicht hatte, die Landsleute seiner Gemahlin im Stich zu lassen, und nur die Rolle eines Friedensvermittlers spielen wollte? Das wäre mir recht! dachte Publius. Hauptsache, ich gewinne Zeit. „Stört dich meine Frau?" fragte Syphax, während er dem römischen Feldherrn zur Begrüßung entgegenging. „Ich habe keinerlei Geheimnisse", erwiderte er höflich. „Und schon gar nicht vor der Tochter Hannos. Mir ist wohl bekannt, daß Hanno in Karthago als einziger nach Frieden und Freundschaft mit dem römischen Volk strebt." Sophonisbe saß mit gesenktem Kopf da, als ginge das Gespräch sie gar nicht an. Nur an ihren Händen, die krampfhaft die Lehnen des Thronsessels umklammerten, konnte Publius erkennen, daß ihr keines seiner Worte entging. „König Syphax, du bist ein leidenschaftsloser, kluger Mann", fuhr er fort. „Deshalb wird es für dich ein leichtes sein, die Karthager davon zu überzeugen, daß ich annehmbare Friedensbedingungen stelle. Du weißt selbst, daß Hannibal nun schon seit vierzehn Jahren Italien verheert und daß die viertausend Talente, die Karthago dafür bezahlen soll, nur eine geringe Entschädigung für unsere Einbußen und Verluste sind." „Aber du verlangst obendrein noch Schiffe", wandte Syphax ein. „Alle Kriegsschiffe, bis auf zwanzig." „Ich werde kein einziges Schiff nach Italien bringen", sagte Publius. „Aber Rom muß sicher sein, daß ihm kein Überfall mehr droht." „Du redest, als hättest du den Sieg schon in der Tasche. Immerhin sind Hannibal und Magon noch in Italien. Hanno strebt zwar nach Frieden, aber viele Karthager sind für die Weiterführung des Krieges." Und während Publius mit Syphax verhandelte, war der listige Kylon nicht müßig. Unauffällig stach er das Pferd mit dem Dolch. Es bäumte sich auf, zerriß den Zügel und sprengte zum Lagertor. Händefuchtelnd trabte Kylon hinterdrein. „Bleib stehen, du mein Augentrost!" schrie er, so laut er konnte. „Wo rennst du hin?" Vor Schreck über das Gebrüll galoppierte das Pferd noch schneller. „Halt! Du Schakalfraß, halt!" kreischte Kylon mit verzweifelter Stimme. Am Lager blieb das Pferd stehen. Kylon lief hin und hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um es am Zaum zu fassen. Aber er stolperte über seine eigenen Beine und klatschte bäuchlings zu Boden. Als er aufstand und sich das verletzte Knie rieb, war das Pferd wieder weg und lief innen am Lagerwall entlang. „O ihr Götter!" brüllte der Grieche wie ein Verrückter. „Weshalb habt ihr mich nicht als Schildkröte erschaffen? Dann würde mein Rücken die Prügel nicht fühlen, die ich nun erhalte! Mein Herr wird es mir nie verzeihen, daß ich sein Pferd durchgehen ließ!" Er setzte sich auf die Erde und rieb sich schluchzend die Augen. Sein Geschrei und Gejammer lockte die Numidier aus ihren Zelten. Anfangs lachten sie den Mann nur aus, dem sein Pferd davongelaufen war, denn ihre Pferde gehorchten auf den Pfiff wie Hunde. Dann aber wurde ihnen klar, daß das Pferd nicht ihm gehörte, sondern dem römischen Feldherrn, dessen Sklave er war. Ihr Spott wich dem Mitgefühl, hilfreiche Hände fingen das Pferd ein, und sie drückten dem Sklaven die Zügel in die Hand. Aber er war wahrlich ein dummer Tropf! Anstatt das Pferd schleunigst zum Königszelt zurückzuführen, aus dem der römische Feldherr jeden Augenblick heraustreten würde, bedankte er sich so weitschweifig und überschwenglich bei den Männern, die es eingefangen hatten, als hätten sie ihm das Leben gerettet. Und als sie ihm den nächsten Weg zum Königszelt zeigten, drückte er sich beiseite und machte einen großen Umweg, als wollte er seiner Strafe entrinnen oder sie mindestens so lange wie möglich hinauszögern. Publius Scipio hatte seine Verhandlung mit König Syphax inzwischen wirklich beendet und wartete schon auf seinen angeblichen Sklaven. Er hatte Kylon in der Hoffnung mitgenommen, daß es diesem gelingen würde, beim Besuch im Lager des Feindes herauszufinden, wie viele Zelte darin standen und wie viele Krieger sie enthielten. Aber nie hätte er angenommen, daß Kylon es während der kurzen Unterredung fertigbringen würde, durch das ganze Lager zu laufen und sich überall umzusehen. Als Publius Kylon herankommen sah, von mehreren Numidiern gefolgt, bemühte er sich, ein möglichst finsteres Gesicht aufzusetzen, nahm die Peitsche, die Kylon vorsorglich mitgebracht hatte, und ging drohend auf den Sklaven zu. Dabei wurde er Zeuge von Kylons großartiger Schauspielkunst. Worte waren zu schwach, um Kylons ausdrucksvolle Mimik wiederzugeben! Seine unsicheren, ängstlichen Schritte, die vorhängenden Schultern, der einschmeichelnd auf die Schulter gelegte Kopf, die unstet umherirrenden Augen - alles verriet den typischen Sklaven, nicht aber den geschmeidigen Intriganten, wie er in griechischen Komödien vorkommt, sondern den echten römischen Sklaven, der Peitsche und Folter kennt, der vor der Kreuzigung zittert. Publius war von Kylons Spiel derart mitgerissen, daß er unwillkürlich ausholte und ihm eins mit der Peitsche überzog. Als das numidische Lager weit hinter ihnen lag, besann er sich. „Kylon", sagte er leise, „heute hast du dich selber übertroffen. Jeder griechische Schauspieler würde dich um diese darstellerische Leistung beneiden. Verzeih, daß ich die Hand gegen dich erhob." „Kein Herr ohne Peitsche, kein Sklave ohne Narben!" erwiderte Kylon und rieb sich die schmerzende Schulter. „Dein Peitschenhieb gehörte dazu, sonst hätten die Numidier unter Umständen Verdacht geschöpft. Und du sagtest doch selbst: Der beste Plan ist der, von dem der Feind nichts ahnt. Nur schade, daß ich Sophonisbe nicht zu Gesicht bekam. Sie soll so schön sein wie die Göttin Aphrodite, deren Taube dir den Brief brachte." „Ohne deine Geschwätzigkeit wärest du nicht mit Gold aufzuwiegen, Kylon", meinte Publius. „Erzähl mir lieber, was du im Lager gesehen hast." „Mit Gold? Nun, Silber würde mir genügen. Man erzählt sich, daß du in Neu-Karthago mehr Silber erbeutet hast, als der Laderaum von drei Schiffen faßt. Und hättest du Neu-Karthago ohne meine Hilfe erobert?" „Schweig, Kylon! Vergiß, daß du in Neu-Karthago warst! Für dein Schweigen habe ich dich doch extra bezahlt." „Ich schweige schon, ich schweige schon!" brummte der Grieche hastig. „Hör also zu. Syphax hat in seinem Lager zweitausend Zelte, jedes Zelt faßt ungefähr dreißig Krieger. Demnach hat Syphax sechzigtausend Krieger, zu denen du noch die Truppen des nahegelegenen karthagischen Lagers rechnen mußt. Und daß dein eigenes Heer nur aus zwanzigtausend Leuten besteht..." „Ja, das weiß ich!" fiel Publius ihm ungeduldig ins Wort. „Hast du im numidischen Lager sonst noch etwas feststellen können?" „Nur, daß die Zelte mit Schilf gedeckt sind und daß höchstens drei Pferde gleichzeitig durch die Lagertore gehen." „Warum hast du das nicht gleich gesagt", rief Publius erfreut. „Das ist doch das wichtigste. Du erhältst für jedes Zelt eine Sesterze. Zufrieden?" „Und wieviel erhalte ich für die Tore und die Schilfdächer?" „Wenn ich dich auch noch für die Dächer, die Tore und vielleicht gar für jeden einzelnen Krieger bezahlen würde, müßte ich in Kürze betteln gehen." „Aber du hast mir doch mein Schweigen bezahlt!" widersprach Kylon unbeirrt. „Dann kannst du auch für die Dächer was springen lassen!" Publius lachte. „Du kriegst die Dächer und die Tore bezahlt, wenn du dich ins karthagische Lager schleichst und feststellst, wie viele Krieger es enthält. Das ist das letzte, was ich von dir verlange." „Das letzte?" wiederholte Kylon gedehnt. „Hast du das damals in Iberien nicht auch gesagt?"  Feuer Es war eine dunkle Nacht. Nur selten trat der Mond aus den Wolken und beschien das rechteckige Heerlager mit dem weißen Königszelt in der Mitte. Die Krieger schliefen fest. Am Abend zuvor waren Händler ans Lagertor gekommen und hatten ihnen nahezu umsonst Wein verkauft. Auch die Posten waren eingenickt, auf ihre Speere gestützt. Syphax lag ebenfalls in tiefem Schlafe, erschöpft von den endlosen Verhandlungen mit den Karthagern und den Römern. Es war nicht leicht, zwischen den beiden Todfeinden Frieden zu stiften. Die Karthager glaubten, daß er die Pflicht hätte, sich ganz für ihre Interessen einzusetzen, weil er mit Sophonisbe verheiratet war. Dagegen hatten sie damals, als sie den Krieg gegen Rom begannen, nicht zu ihm gehalten, sondern zu König Gula. Doch nun war Gula gestorben, und sein Sohn Masinissa haßte die Karthager. Auch über den römischen Feldherrn Scipio mußte sich Syphax den Kopf zerbrechen. Er feilschte bei den Friedensverhandlungen um jeden Barren Silber, entschloß sich aber zu keinerlei Zusagen, weil er angeblich schon einen Monat auf einen Sendboten des römischen Senats wartete. Der einzige Mensch, der im numidischen Lager nicht schlief, war Sophonisbe. Bei den Verhandlungen zwischen Syphax und dem römischen Feldherrn hatte sie zufällig erfahren, daß Masinissa noch lebte, daß er aus Iberien zurückgekehrt war und im Dienste der Römer stand. Der Vater hatte sie also gewissenlos belogen, nur um sie mit dem Manne zu vermählen, der jetzt an ihrer Seite lag und ihr doch unendlich fremd war. Was verband sie mit ihm? Das Wort, das sie ihrem Vater gegeben hatte, der sein Wort aber gebrochen und sie mit einem Barbaren verheiratet hatte? Oder wurde sie durch ihre schweren goldenen Ringe an Syphax gefesselt? Verzweifelt riß sie sich diese Ringe von den Fingern, aber das war nutzlos. Sie war gefangen. Hilflos weinte sie vor sich hin. Von allen Seiten krochen die Römer auf das numidische Lager zu, lautlos wie die Schlangen. Sie glitten in den Graben, erklommen den Lagerwall. Ein leiser Pfiff, und schwelende Feuerbrände flogen auf die Schilfdächer. Nach wenigen Minuten standen die Zelte in hellen Flammen. Die Krieger stürzten heraus, halbnackt, verschlafen. Sie ahnten nichts von der Nähe des Feindes und glaubten, das Feuer wäre aus Unvorsichtigkeit entstanden. Es sprang von Zelt zu Zelt über, bald brannte das ganze Lager. Die Flammen wuchsen bis zum Himmel, sie verdeckten die Sterne. Die Numidier rannten zu den beiden Toren, viele mit Eimern in der Hand. An den Toren entstand ein großes Gedränge, weil sie viel zu eng waren. Die Flüche der Krieger wurden übertönt vom Geheul der Flammen. Von draußen klang das Signal zum Sturm. Die römischen Legionäre sprangen vom Boden auf. Unter schrillen Schreien jagten Masinissas Reiter heran. Die Krieger des Königs Syphax rasten verstört hin und her, ähnlich wie die Ratten auf einem untergehenden Schiff. Überall sahen sie sich dem Tod gegenüber - im Lager würden sie verbrennen und an den Toren unter den Schwertstreichen der römischen Legionäre und der Reiter Masinissas sterben. Im karthagischen Lager bemerkte man die Flammen, dort schliefen die Wachen nicht. Doch selbst wenn sie geschlafen hätten, wären sie geweckt worden von dem römischen Spion, der am Tage zuvor ertappt und nach karthagischem Brauch ans Kreuz geschlagen worden war. Gewöhnlich schwiegen die ans Kreuz Geschlagenen, oder sie stöhnten leise vor sich hin, flehten um Wasser oder um den Todesstoß. Doch dieser Spion, der sich weigerte, seinen Namen zu nennen, und standhaft alle Folterungen ertragen hatte, schrie pausenlos, nachdem er am Kreuz hing. Anfangs lauschten die Wachen aus reinem Unterhaltungsbedürfnis seinem Geschrei. Er forderte einen gewissen Publius auf, seinen Landsleuten, den Schiffern, Wein zu geben. „Sei nicht so geizig! Kaufe Falernerwein!" brüllte er. Die Wachen lachten. „Er wünscht sich sogar eine bestimmte Weinsorte. Wahrscheinlich ist er Winzer gewesen." Die Sinne des Gekreuzigten schienen verwirrt. Er hielt die Raben, die sein Kreuz umkreisten, für Tauben. „Tauben der schönen Aphrodite, wollt ihr euch rächen?" stöhnte er. „Ich machte euch zu Boten des Kriegsgottes, dadurch wurde euer Gefieder so schwarz wie Ruß." Sein pausenloses Geschwätz ging den Posten allmählich auf die Nerven, und einer warf einen Stein. Der Gekreuzigte wurde still. Doch als die Flammen aus dem numidischen Lager züngelten, kam er noch einmal zur Besinnung. „Feuer!" schrie er gellend. „Feuer! Das ist mein Feuer! Mein Feuer! Publius, hörst du mich?" Auch die Karthager glaubten anfangs, der Brand im numidischen Lager wäre durch Unvorsichtigkeit entstanden. Auch sie kamen nicht auf den Gedanken, daß es Brandstiftung war. Als sie sahen, daß es immer weiter um sich griff, wollten sie ihren Verbündeten mit Eimern und Äxten zu Hilfe kommen. Sofort fielen die Römer über die Waffenlosen her, mähten sie nieder und warfen jenen, denen die Flucht gelang, brennende Fackeln nach, so daß das Feuer auch auf das karthagische Lager übergriff. Brüllend rasten die Elefanten aus den brennenden Zelten, zertrampelten die eigenen Leute und vergrößerten das Entsetzen. Gegen Morgen ritten mehrere Männer in das ausgebrannte karthagische Lager ein. An ihren Rüstungen waren sie als Römer zu erkennen. Vor dem hohen Kreuz mit der unbeweglichen Gestalt hielten sie an. Publius sprang vom Pferd und blickte zu Kylon auf. Es kam ihm seltsam vor, daß dieser Mund kein einziges Wort mehr sprechen würde. Kylon war ins Reich der Schatten eingegangen und hatte alle Geheimnisse mit sich genommen. Er brauchte für sein Schweigen nicht mehr bezahlt zu werden. Niemand würde den Namen des Mannes erfahren, dem Rom seinen großen Sieg verdankte. Vierzigtausend Tote, fünftausend Gefangene - das war der Preis, den die Feinde für ihre Sorglosigkeit hatten bezahlen müssen. Publius wischte sich die Augen. „Der Rauch!" sagte er hastig auf die verwunderten Blicke seines Gefolges und wies auf die schwelende Brandstätte.  Wiedersehen Tagelang umkreiste Sophonisbe das römische Lager im Schlangental aus der Ferne. Sie hielt sich im Schilf und in überwucherten Gräben versteckt. In ihren weitaufgerissenen Augen tanzten die Flammen der Scheiterhaufen. Die Römer verbrannten die Toten. Das Geknister der Flammen wurde von Hufgetrappel und den Lauten einer fremden Sprache übertönt. Sophonisbe wußte nicht, wohin sie ihre Schritte lenken sollte. Ihr Vaterhaus war fern, eine Rückkehr dorthin war ebensowenig möglich wie in die Vergangenheit. Syphax war von den Römern gefangengenommen worden, Masinissa stand auf römischer Seite, seine Reiter kämpften Schulter an Schulter mit den Römern. Wo hielt er sich jetzt auf? Im römischen Lager, das von Posten bewacht wurde? Oder in Cirta, der ehemaligen Hauptstadt von Syphax' Reich, die jetzt Masinissa gehörte? Will er mich nach alldem, was geschehen ist, überhaupt wiedersehen? Wiederholt führte Sophonisbe den Ring mit dem Gift zum Munde. Syphax hatte ihn ihr gegeben, während sie aus dem brennenden Lager flohen. Es war sein letztes Geschenk gewesen. Der Ring würde ihr helfen, der Gefangennahme und der Sklaverei zu entgehen. Sie wußte genau, welches Schicksal eine gefangene Frau erwartete. Nein, für das Gift ist es noch zu früh, sagte sie sich. Zuvor will ich versuchen, Masinissa noch ein letztes Mal zu sehen. Ich muß ihm doch sagen, daß ich keine Schuld trage, daß ich getäuscht worden bin. Es dunkelte. Das Antlitz der Tanit beschien in Gestalt des Mondes mit schwermütigem Licht die nach Cirta führende Straße. Der Feuerschein war erloschen, aber noch immer herrschten Verzweiflung und Grauen in Sophonisbes Herz. Plötzlich hörte sie Hufgetrappel. Sie hob den Kopf und lauschte. Eine innere Stimme sagte ihr: Das ist er! Und dann erkannte sie ein schneeweißes Pferd. Masinissa sprang aus dem Sattel und eilte ihr entgegen. Aber war das wirklich Sophonisbe? Ihre Augen blickten trübe, und ihre Stimme, die einst wie das Geriesel eines klaren Bergbachs geklungen hatte, war jetzt tonlos und heiser. „Liebster!" flüsterte Sophonisbe. „Liebster, du lebst!" „In langen Feldzügen hat mein Merges seine Hufe abgewetzt", antwortete Masinissa. „In Gebirgen und Wüsten suchte ich den Stern, aber der Stern fiel in Syphax' Zelt, ohne daß er einen Schritt zu tun brauchte." „Liebster, man hat mich belogen, ich wußte nicht..." „Lug und Trug!" fiel ihr Masinissa ins Wort. „Ja, das sind die Säulen, auf denen dein Haus und deine Vaterstadt ruhen. Doch alles, was auf Lug und Trug gegründet ist, stürzt eines Tages ein. Nur die Wahrheit bleibt bestehen. Ich weiß, du bist von Hanno geschickt. Da er mit Syphax' Hilfe keinen Friedensvertrag erlangen konnte, will er es jetzt mit der meinen versuchen." „Nein!" rief Sophonisbe mit Tränen in den Augen. „Nein! Der Vater schickt mich nicht. Ich habe in all den Jahren, während du fern warst, auf dich gewartet. Ich habe zu Melkart gebetet und geopfert, damit er dein Leben beschützt." Masinissa wandte sich traurig ab. Er hegte keinen Haß gegen Sophonisbe. Nein, sie war nicht schuld, man hatte sie ebenso belogen wie ihn. Haß und Verachtung verdienen die anderen, die unser Glück wie eine tönerne Schale zerschlagen haben! dachte er. „Gib mir deine Hand!" sagte er sanft. „Möge der Wille der Götter geschehen." Er hob Sophonisbe auf und sprang hinter ihr in den Sattel. Merges wieherte leise, als er die leichte Berührung von Sophonisbes Händen spürte. Der Wind fuhr in ihr aufgelöstes Haar und wehte eine Strähne an Masinissas Mund. Sie roch nach Erde und Rauch - nach dem Duft seiner Kindheit. Und ihm wurde so leicht ums Herz, als hätte es die langen Jahre des Wartens nicht gegeben, als wäre jene Zeit zurückgekehrt, in der sie gemeinsam aus dem Tempel der Tanit traten.  Ein Stern verlischt Laut sirren die Zikaden. In der Dunkelheit ist nur Merges' helle Gestalt erkennbar. Der Schimmel steht wartend vor dem Zelt, in dem Masinissa seit Sonnenuntergang mit dem römischen Feldherrn spricht. Nach seinem Sieg hat Publius Scipio mit den Karthagern einen Waffenstillstand geschlossen. Darauf bestand das vom Krieg erschöpfte römische Volk. Doch die Karthager brachen den Waffenstillstand, indem sie die römische Proviantflotte ausraubten, die auf eine Sandbank gelaufen war. Der Krieg flammte wieder auf. Zwar trifft Karthago erst die Vorbereitungen zur Entscheidungsschlacht, aber Publius kennt bereits ihren Ausgang, und gemeinsam mit seinen Bundesgenossen verteilt er die Früchte des Sieges. Masinissa soll die verschiedenen numidischen Stämme unter seiner Herrschaft vereinigen. Sein Gebiet wird außerdem um die karthagischen Besitzungen vermehrt. Von einem so großen numidischen Reich haben seine Vorfahren, die sich zweihundert Jahre lang in schmachvoller Abhängigkeit von Karthago befanden, nicht zu träumen gewagt. Numidien wird keinerlei Tribute zahlen und keine Reitereinheiten stellen müssen. Kein numidisches Blut soll mehr für fremde Interessen fließen. „Ja!" sagt Masinissa zu Publius Scipio. „Ich bin gewillt, mein Land zu verwandeln, die Nomaden zu Ackerbauern und Gärtnern zu machen. Numidien wird sein eigenes Korn, sein eigenes Öl besitzen." Den schwerwiegendsten Teil der Verhandlung hat Publius bis zum Schluß aufgeschoben. Das ist die Klärung des Privatlebens des künftigen numidischen Königs. Publius weiß: In der Stadt Cirta, die jetzt Masinissa gehört, wohnt Sophonisbe. Wieder stellt sich ihm diese Frau in den Weg! Fünf Jahre lang hat sie Syphax in der Hand gehalten und ihn an Karthago gebunden, und jetzt ist Masinissa in ihrer Macht. Solange Sophonisbe in Cirta weilt, kann ich Masinissa nicht sicher sein! denkt Publius. Hinter Felsbrocken und Baumstämmen verborgen, schleicht eine Frauengestalt auf das Zelt zu. Der römische Wachposten, der so weit vom Zelt postiert ist, daß er von der Unterredung nichts verstehen kann, bemerkt sie nicht. Aber Merges hört sie mit seinen scharfen Ohren kommen. Er streckt ihr den schmalen Kopf entgegen und wiehert. „Still, Merges, still!" flüstert Sophonisbe, läuft auf ihn zu und preßt das Gesicht an sein feuchtes Maul. Es riecht nach Minze und Wermut, dem Duft der Grassteppe. Eine beruhigende Wärme geht von ihm aus. Aus dem Zelt klingt Publius Scipios energische Stimme. Sophonisbe schrickt zusammen und schmiegt sich noch enger an Merges. „Bedenke, Masinissa!" sagt er nachdrücklich. „Es ist uns nicht gleichgültig, wer im Königspalast von Cirta wohnt. Der römische Senat wird es ablehnen, dir die Federkrone zu übergeben, wenn du Sophonisbe heiratest. In diesem Falle würden wir Wermino die Herrschaft überlassen." Er macht eine Pause. Dann fährt er eindringlich fort: „In Rom hat man nicht vergessen, daß du in Iberien gegen uns kämpftest. Du mußt deine Treue zu Rom beweisen." Bei diesen harten Worten fällt es Sophonisbe wie Schuppen von den Augen. In den letzten Tagen ist Masinissa immer verschlossener und kühler geworden. „Was hast du, Liebster?" hat sie ihn wiederholt gefragt. Aber er hat nur wortlos die Augen abgewandt, als fürchtete er, sie würde in ihnen etwas lesen, das sie nicht wissen soll. Doch jetzt weiß sie es: Sie steht Masinissa im Wege. Wenn sie bei ihm bleibt, nehmen ihm die Römer sein Reich. Aus dem Munde des römischen Feldherrn hat das Schicksal zu ihr gesprochen. Mit einer heftigen Bewegung führt sie den Giftring an die Lippen.  Von drinnen hört Masinissa, daß Merges aufgeregt wiehernd mit den Hufen stampft.  „Verzeih!" fällt er Publius hastig ins Wort. „Ich komme sogleich zurück. Mein Pferd ruft mich." Als er aus dem Zelt stürzt, stolpert er beinahe über Sophonisbe. Sie liegt auf dem Rücken, das Gesicht dem Himmel zugekehrt. Er kniet neben ihr nieder und blickt ihr in die starren Augen. „Sophonisbe! Sophonisbe! Hörst du mich!" flüstert er leidenschaftlich. „Ich brauche die Federkrone nicht. Komm, wir reiten in die Steppe. Dort bau ich uns ein Zelt. Warum antwortest du nicht, Sophonisbe?" Plötzlich flammt ein Stern am Himmel auf, fällt und verlischt. Ist es der Stern, den Masinissa in den afrikanischen Steppen und den iberischen Bergen am nächtlichen Himmel suchte?  Hannibals Traum Hannibal träumte, daß er von einem Elefanten verfolgt würde. Um ihm zu entgehen, schlug er Haken wie ein Hase, der von einem Bluthund gehetzt wird. Aber die stampfenden Schritte des Elefanten kamen immer näher. Hannibal blickte sich um und sah, daß der Inder Richad auf seinem Rücken saß. Also war der Elefant nicht tollwütig, er wurde gelenkt von Richad, der doch vor Casilium gefallen war. Er trug seinen alten Turban und hielt den Eisenstachel in der Hand. „Richad, töte den Elefanten!" befahl Hannibal. Aber Richad grinste nur tückisch und drohte Hannibal mit der Faust. „Richad!" schrie Hannibal in Todesängsten. „Töte den Elefanten! Ich halte dich nicht länger in meinem Heer. Du darfst nach Indien zurückkehren!" Da packte der Elefant ihn mit dem Rüssel und riß ihn hoch in die Luft. Hannibal stieß mit dem Hinterkopf gegen die harte Kajütenwand und erwachte, in Schweiß gebadet. Was hatte der Traum zu bedeuten? Elefanten bringen Glück! sagte das Sprichwort. Doch weshalb hatte der Elefant ihn verfolgt? Und weshalb war er von Richad gelenkt worden? Von Toten zu träumen bedeutete Unglück. Und wie tückisch der tote Richad obendrein gegrinst hatte! Hannibal kleidete sich an und ging an Deck. Der Fahrtwind zerzauste ihm das Haar. Das Ufer Italiens verschwand gerade hinter grauen Nebelstreifen. Er blickte zurück, wie erstarrt vor Kummer. Fünfzehn Jahre lang hatte er sich in Italien aufgehalten. Er kannte es besser als seine karthagische Heimat. Er hatte davon geträumt, es zu erobern und als Bezwinger der Römer, als Held eines großen Krieges, nach Karthago zurückzukehren. Doch was brachte er jetzt zurück? Die Erinnerungen an einstmalige Siege! Oder waren all diese Jahre, all diese Schlachten und Gefechte nur ein Traum? Wie schön wäre das! Könnte er doch jetzt in Iberien erwachen, auf den griechischen Lehrer Sosylos mit seinen Schriftrollen warten und den Vater sagen hören: „Lernt, junge Löwen! Die Menschen lernen immer - aus ihren eigenen Fehlern und aus denen ihrer Feinde!" Habe ich das getan? grübelte Hannibal. Habe ich nicht eher den Fehlern des Vaters meine eigenen hinzugefügt? Und jetzt, da ich erkenne, Fehler gemacht zu haben, ist es zu spät. Ich kann nicht in die Vergangenheit zurückkehren. Das Leben gleicht den endlos heranrollenden Meereswogen, deren Lauf selbst die Götter nicht zum Stillstand bringen können, geschweige denn wir schwachen Sterblichen! Der Kai des auf karthagischem Gebiet gelegenen Ortes Hadrumetum war mit bunten Fahnen geschmückt. Musikanten bliesen in silberne Hörner. In der Menge entdeckte Hannibal mehrere karthagische Ratsherren, in Purpurgewänder gekleidet. Zusammen mit dem Rauch von Syphax' ausgebranntem Lager waren auch die Hoffnungen verweht, die Karthago auf die numidische Reiterei gesetzt hatte. Sie würde die Legionen der Römer nicht mehr ins Meer werfen. Hannos Plan, der noch vor kurzem als staatsmännische Meisterleistung gegolten hatte, wurde als verbrecherisch erklärt. Hanno selbst war nur mit Mühe seiner Verhaftung und Kreuzigung entronnen. Ganz Karthago glaubte jetzt, daß nur Hannibal noch fähig wäre, die Stadt zu retten. „Hannibal hat keine einzige Schlacht verloren! Nur er kann Publius Scipio besiegen!" sagten die Karthager auf den Sitzungen des Großen Rates ebenso wie in den Werkstätten und auf dem Hafenmarkt. Selbst die Priester, die Hannibal bisher gezürnt hatten, weil er ihnen niemals Geschenke sandte, bezeichneten ihn als „Sohn des Gottes Melkart" und forderten das Volk auf, für ihn zu beten. Viele erinnerten sich reuevoll daran, wie wenig Hilfe Hannibal während seiner italischen Feldzüge von Karthago erhalten hatte. Trotzdem war er siegreich gewesen. Wenn er jetzt sämtliche Schiffe und neu rekrutierten Truppen erhielt, würde er Karthago bestimmt retten. Aber Hannibal wußte, wie trügerisch jede Hoffnung auf einen Sieg war. Er hatte nur zwölftausend Krieger mit zurückgebracht, weil er die übrigen unter Magons Kommando im Norden von Italien zurücklassen mußte. Und nur die Götter wußten, ob es Magon gelingen würde, sich nach Karthago durchzuschlagen, oder ob auch ihn Hasdrubals Schicksal erwartete. Die Truppenaushebung würde höchstens zehn- bis zwölftausend Rekruten erbringen, größtenteils Handwerker. Und wenn man diese Leute von ihrer Arbeit wegriß, wer würde dann die Waffen schmieden und die Schiffe bauen? Wer würde die Fische fangen, die den Karthagern zur Zeit Öl und Brot ersetzten? Denn jetzt trafen keine Kornschiffe mehr aus Sizilien und Iberien ein. Auch die iberischen Silberbergwerke befanden sich jetzt in römischem Besitz, und keine iberische Stadt zahlte mehr Tribute an Karthago. Der römische Feldherr Publius Scipio verfügte über fünfunddreißigtausend erprobte Kavalleristen. Und dazu würden noch die zahlreichen Reiter Masinissas stoßen!  Freiheit Dukarion beugte den Kopf über die Fluten der heimatlichen Adda und trank in tiefen Zügen. In dem klaren Wasser spiegelte sich sein Gesicht mit der Schwertnarbe an der rechten Wange und dem wüsten Bart. Fünf Tage lang war Dukarion durch Wälder und Sümpfe geflohen und hatte sich vor jedem Menschen versteckt gehalten, obwohl ihn niemand verfolgte. Der Waffenlärm, die Trompetentöne der Elefanten, das Gewieher durchgehender Pferde, die ihre verwundeten oder getöteten Reiter hinter sich herschleiften, dröhnten ihm noch immer in den Ohren. Ständig stand ihm Magon mit dem römischen Speer in der Brust vor Augen. Weder die Amulette, die Magon um den Hals trug, noch die Silberrüstung, die von einem römischen Konsul stammte, hatten ihn gegen den Speer geschützt. Die unsterblichen Götter können bezeugen, daß ich kein Verräter bin, sagte der einsame Mann in Gedanken zu dem fernen Hannibal. Beim Überfall der Römer war ich an Magons Seite, und ich habe ihm an Tapferkeit nicht nachgestanden. Erst als Magon fiel, bin ich geflohen. Viele Krieger aus meiner Einheit sind mir gefolgt. Doch offenbar gelang es keinem einzigen, den römischen Kavalleristen zu entrinnen. Der Speer, der Magon tötete, befreite mich von dem Schwur, den ich dir gab, bevor du dein Schiff bestiegst. Und ich schwöre dir aufs neue, daß ich Magon nie verlassen hätte, wenn er noch unter den Lebenden weilte. Als Dukarion sich aufrichtete, fiel sein Blick auf die halbverfallenen Gräben am rechten Flußufer. Hier hatte Flaminius sein Lager gehabt. Das von den Legionären zertrampelte Gras hatte sich längst wieder aufgerichtet. Die Sonne ging unter. In den kleinen Buchten am Ufer quakten die Frösche. Es raschelte im Schilf - eine aufgescheuchte Schlange kroch vorbei. Im Wasser sprang plätschernd ein Fisch. Diese Geräusche kannte Dukarion aus seiner Jugend. Einstmals war er mit dem Nachen an den Ufern der Adda entlanggerudert und hatte seine Netze in den klaren Fluten ausgeworfen. Die Narben, die er zu jener Zeit auf dem Körper trug, stammten nicht von feindlichen Schwertstreichen, sondern von scharfen Riedgräsern, und sein Sack enthielt keine goldenen Ringe, die er Toten von den Fingern gezogen hatte, sondern Weizenfladen aus der Hand seiner Mutter. Er riß sich den Sack ab, der alles enthielt, was er in den dreizehn Jahren seines Kampfes gegen die Römer erbeutet hatte, und schleuderte ihn in die Fluten - ein reiches Opfer für den Flußgeist der Adda. Nachts langte er in seinem Heimatdorf an. Dort brannten die Lagerfeuer, und alle Dorfbewohner waren noch auf den Beinen. Es war die Zeit der Weinlese, und sie zerstampften die Trauben mit bloßen Füßen in großen Holztrögen. In breitem Strahl floß der Beerensaft in die bereitgestellten Holzeimer und wurde anschließend in Fässer und Tonkrüge umgefüllt. Niemand erkannte Dukarion, keiner stürzte ihm jubelnd entgegen, keiner reichte ihm einen Becher mit Beerensaft. Er war in seinem Heimatdorf ein Fremder geworden. An der Stelle, wo einstmals sein Vaterhaus gestanden hatte, befand sich jetzt ein Obstgarten. Alle alten Leute, die Dukarion noch gekannt hätten, weilten im Reich der Schatten, und seine Altersgenossen hatten auf den Schlachtfeldern ihr Leben gelassen oder schmachteten in römischer Sklaverei. Dukarions Blick fiel auf einen Baumstumpf am Rande des Obstgartens. Das Herz krampfte sich ihm zusammen. Das war der Stumpf einer hohen Eiche, in deren Schatten er als Kind gespielt hatte. Und als die Römer kamen, hatten sie ihn an diese Eiche gefesselt, um ihn auszupeitschen. Die Eiche war Zeuge seiner Schande gewesen. Wie sehr hatte er sich später, in der römischen Sklaverei, nach Freiheit gesehnt! Er hatte gemeint, sie in Hannibals Heer zu erlangen, aber auch dort war er zum Sklaven geworden, wenn auch zu einem ungefesselten Sklaven. Magons Tod hatte ihm die Freiheit gebracht. Doch was sollte er jetzt mit ihr anfangen?  Die Schlacht der Giganten Wie ein Heuschreckenschwarm fielen die Römer vor Karthago in das blühende Flußtal des Bagradas ein. Was sie nicht aufessen oder wegschleppen konnten, zerstörten sie. Schwarz ragten die enthaupteten Stämme der Feigenbäume und Palmen in den Himmel. Über den Ruinen der Landhäuser hing schwarzer Rauch. Der Krieg, der einstmals in weiter Ferne, in Iberien und Italien, gewütet hatte, näherte sich nun Karthagos Mauern. Und noch fürchterlicher als die Zerstörungwut der Römer war der Rachedurst der Sklaven. Sie kamen aus den unterirdischen Kerkern in den nun zerstörten Landhäusern hervor und zerstreuten sich über das ganze Land. Nirgendwo konnte man sich vor ihnen verbergen. Und jeden Augenblick mußte man erwarten, daß sie sich auch in Karthago erhoben! „Warum zögert Hannibal?" riefen die karthagischen Ratsherren empört. „Er prahlt mit seinen Siegen in Italien, aber hier schiebt er die Entscheidungsschlacht von Tag zu Tag hinaus. Er leitete sogar Friedensverhandlungen mit dem römischen Feldherrn Scipio ein, der seine Bedingungen jedoch ablehnte. Warum zaudert Hannibal?" Und sie sandten Boten zu ihm mit der Forderung, unverzüglich die Schlacht zu schlagen, die den Krieg beenden würde. So verließ Hannibal mit seinen Kriegern die Hafenstadt Hadrumetum, wo er sich mehrere Monate lang aufgehalten hatte, um ein Heer zu sammeln. Noch nie hatte er sich seiner Streitkräfte so wenig sicher gefühlt. Er besaß nur dreizehntausend erfahrene Krieger. Zwölftausend hatte er aus Italien mitgebracht, und eintausend waren unter Magarbais Kommando vor kurzem aus Norditalien eingetroffen. Magon war nicht dabeigewesen. Italien wurde zum Grab meiner beiden Brüder! dachte Hannibal trauernd. Und die übrigen Krieger? Es waren frisch ausgebildete Söldner aus Gallien und von den balearischen Inseln. Sie taugten nur dazu, den ersten Angriff der Römer auf sich zu ziehen. Aus Karthago hatte man ihm zehntausend Landsturmleute geschickt, größtenteils Handwerker. Zwar wußten sie, welche Gefahr ihnen und ihren Familien im Falle einer Niederlage drohte, aber sie waren im Gebrauch der Waffen vollständig ungeübt, sie konnten mit Hammer und Sichel umgehen, nicht aber mit Schwert und Speer. Aus dem Elefantenausbildungslager waren fünfundachtzig Tiere eingetroffen. Noch niemals hatte Hannibal über so viele Elefanten verfügt, doch zwischen ihnen und den Kampfelefanten bestand ein ebenso großer Unterschied wie zwischen einem Rekruten und einem Krieger. Sie waren erst vor kurzem eingefangen worden und konnten nichts als rennen und kehrtmachen. Sie besaßen keinen Kampfeswillen, die Vorbedingung für Kampfelefanten. Als Hannibal sie betrachtete, dachte er sehnsüchtig an Richad. Ja, mein Vater hatte recht, dieser Mann war soviel wert wie ein ganzes Heer! Aber die größte Sorge machte ihm die Reiterei, weil er nur noch eintausend Reiter besaß. Wermino, der Sohn des Königs Syphax, hatte ihm zwar versprochen, mit seiner Reiterei zu ihm zu stoßen, aber er war noch nicht eingetroffen, und Hannibal konnte nicht länger auf ihn warten. Die ganze Nacht über klangen die Geräusche marschierender Truppen über die weiten Ebenen. Publius Scipio hatte erfahren, daß die karthagischen Truppen Hadrumetum verlassen hatten, und zog ihnen bis Zama entgegen. Bei Sonnenaufgang hatte sich das römische Heer in Schlachtordnung aufgestellt. Hannibal sah aus der Ferne, daß zwischen den einzelnen Truppeneinheiten breite Zwischenräume gelassen worden waren -eine Vorsichtsmaßnahme von Publius Scipio, die verhindern sollte, daß die Elefanten seine Schlachtordnung durcheinanderbrachten. Vor die erste Reihe seines Heeres stellte Hannibal die Elefanten. Die Treiber erhielten den strengen Befehl, schonungslos ihre Eisenstachel zu gebrauchen und zu verhindern, daß die Elefanten kehrtmachten und sich gegen die eigenen Reihen wandten. Dahinter postierte er die Söldner, nach Völkerschaften geordnet und von einigen seiner Veteranen befehligt. Die karthagischen Landsturmleute schlossen sich an. Ihnen hielt er kurz vor Beginn der Schlacht eine Rede, in der er ihnen mit eindringlichen Worten alle Gräßlichkeiten ausmalte, die ihre Angehörigen und ihr Vaterland erleben würden, wenn sie auch nur um einen Schritt zurückwichen. Den Beschluß bildeten Hannibals Veteranen. Die glitzernden Eisfelder der Alpen hatten ihre Augen fast blind gemacht, ihre Füße, die siebzehn Jahre lang durch Italien marschiert waren, zitterten, ihre Hände hatten die Kraft zum Zuschlagen verloren, die jahrelange Last der Waffen hatte ihnen den Rücken gekrümmt. Dennoch setzte Hannibal seine Hoffnung allein auf sie. Die Elefanten begannen die Schlacht. Es war ihr erster Kampf. Die gewaltigen Menschenmassen, das Schlachtgeschrei, das Geklirr der Waffen und Gewieher der Pferde erschreckten sie. Dennoch gingen sie gehorsam in die Richtung, wohin sie gelenkt wurden, den von einem Bronzeschild geschützten Kopf geduckt. Sie rannten vorwärts, aber nicht in die römischen Truppen hinein, sondern durch die Gänge zwischen ihren Einheiten und also an den Legionären vorüber. Sie hatten es noch nicht gelernt, die Menschen zu töten, sie mit dem Rüssel zu packen und zu zertrampeln. Die Legionäre jagten ihnen Pfeile und Wurfspeere in den Leib, deshalb flohen sie bis dorthin, wo sie sich vor den Menschen in Sicherheit glaubten. Doch die im Körper steckenden Waffen ließen ihnen keine Ruhe, die Gefechtstürme, die man ihnen auf den Rücken geschnallt hatte, und die Treiber, die auf ihrem Hals saßen, quälten sie. Einige warfen sich brüllend hin und wälzten sich auf dem Boden hin und her. Andere schüttelten ihre Treiber mit einer Geschicklichkeit ab, die man den scheinbar schwerfälligen Tieren niemals zugetraut hätte. Es war eine Meuterei der Elefanten, eine Meuterei Afrikas, das von Karthago geknechtet worden war. Die sonst immer gehorsamen Elefanten hatten sich erhoben. Hannibals Traum auf dem Schiff war Wirklichkeit geworden. Und er empfand die gleiche hilflose Angst wie im Traum. Die Stimme seines Vaters klang ihm in den Ohren: „Die Elefanten müssen Rom zertreten, hört ihr, junge Löwen!" Und gleichsam als Antwort folgte der Satz, den der junge Masinissa einst empört gerufen hatte: „Die Elefanten sind besser als ihr, sie leben in Freiheit und tun niemandem etwas zuleide, ihr aber wollt sie in Mörder verwandeln!" Und Hannibal erkannte: In jenem großen, grausamen Spiel, das man Krieg nennt, hatte er seinen letzten Einsatz, die Elefanten, verloren. Die numidische Reiterei griff in den Kampf ein, angeführt von einem Manne auf einem herrlichen Schimmel. Sie stieß mit der karthagischen Kavallerie zusammen. An ihrer Spitze stand Magarbal, der Kampfgefährte von Hannibals Vater, der Mann, der Hannibal einst das Reiten beigebracht hatte. „Hannibal, du verstehst es zu siegen, aber du verstehst es nicht, deinen Sieg zu nutzen!" hatte er nach der Schlacht bei Cannae gesagt. „Ja, Magarbal, du hattest recht!" murmelte Hannibal vor sich hin. „Ich verstand es nicht, meine Siege in Italien zu nutzen, und stürzte dadurch mein Vaterland ins Verderben." Er wurde aufmerksam. Was machte Magarbal? Er wich zurück, ergriff scheinbar die Flucht. Das war eine Finte, mit der er die gefährliche numidische Reiterei auf sich zog und den römischen Feldherrn seiner wichtigsten Hilfstruppe beraubte. Doch gleichzeitig bedeutete das den sicheren Tod, denn Magarbal und seine Reiter würden der dreifachen Übermacht unausweichlich erliegen. Magarbal opfert sich für mich! erkannte Hannibal. Ihm wurde die Kehle eng. Er wußte, daß er seinen alten Reitlehrer nicht wiedersehen würde. Jetzt müßte er die Abwesenheit der numidischen Reiter nutzen, um die römische Infanterie zu erschlagen. Doch seinen schlecht ausgebildeten Landsturmleuten standen disziplinierte, kampfgewohnte Legionäre gegenüber. Ihr Angriff war so heftig, daß sich die Karthager zur Flucht wandten. Das hielten die auf karthagischer Seite kämpfenden Söldner für Verrat und kehrten die Waffen gegen den karthagischen Landsturm. Ein wildes Gemetzel begann, in dem man Freund und Feind nicht mehr auseinanderhalten konnte. Das erkannte auch Publius Scipio. Durch ein Hornsignal rief er seine Truppen zurück, befahl ihnen, sich neu zu formieren, und überließ es seinen Feinden, sich gegenseitig zu zerfleischen. In zwei Kolonnen marschierten die Römer rechts und links an den Kämpfenden vorbei und griffen Hannibals Veteranen an. Die Schlacht entbrannte zu neuer Kraft. Die Veteranen wehrten den feindlichen Angriff standhaft ab und drangen Schritt für Schritt vor. Schon sah es so aus, als würden die Reihen der Römer ins Wanken geraten. Doch da jagten die Numidier heran - sie hatten Magarbais Reiter bis auf den letzten Mann vernichtet. Dieser Sieg verzehnfachte ihre Kampfeskraft. Unter triumphierendem Geschrei griffen sie Hannibals Veteranen von hinten an. Vor ihren Speeren und Schwertern schützte kein Schild, keine Rüstung. Die Veteranen kämpften aus letzter Kraft, blutend, sterbend. Als ihre Waffen zerbrochen waren, rissen sie die Gegner mit bloßen Händen vom Pferd, krallten ihnen die Finger ins Gesicht, würgten und bissen. Noch nie hatte die Welt ein so erbittertes Handgemenge gesehen. Mit den wenigen Uberlebenden trat Hannibal den Rückzug zu seinem Lager an. Aber unter Führung des Schimmelreiters schnitten ihnen die Numidier den Weg ab. Ihr Anführer trug einen Umhang aus Leopardenfell. In seinem wutverzerrten Gesicht funkelten die weitgestellten Augen. Es war Masinissa. Hannibal erkannte ihn sofort, obgleich er ihn seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Nun war der numidische Königssohn kein Jüngling mehr, sondern ein kraftvoller Krieger, der Sieger in dieser Schlacht, die den Krieg beenden würde. Es war augenscheinlich, daß Publius Scipio ihm in erster Linie den Sieg verdankte. Masinissa hob die Hand mit dem Speer, der niemals sein Ziel verfehlte. Hannibal blieb unbeweglich stehen. Er dachte nicht daran, sich vor dem Speer zu schützen oder ihm auszuweichen. In der Schlacht gegen die Römer hatte er alles Menschenmögliche getan. Nun konnte er nicht mehr kämpfen. Er hatte alles verloren und dürstete nach dem Tod. Doch Masinissa ließ die Hand sinken, wendete sein Pferd und galoppierte davon. Schweigend blickte Hannibal ihm nach. Sogar der Tod wandte sich von ihm ab. Seine Brüder waren gefallen, das Heer war vernichtet, er aber war wiederum vom Schicksal verschont geblieben. Oder hatten die Griechen recht, wenn sie der Meinung waren, daß den Menschen Glück und Unglück, Freude und Leid, Sieg und Niederlage zu gleichen Teilen beschieden waren? Danach müßte er jetzt, nachdem er sein Cannae erlebt hatte, auch noch auf Niederlagen, wie jene am Trasimenischen See und an der Trebia, auf die Belagerung Karthagos durch die Römer gefaßt sein? Warum hatte Masinissas Hand gebebt, die doch nicht gezaudert hatte, im brennenden Feldlager wehrlose Menschen niederzumetzeln? Erinnerte sich der junge Numidierkönig etwa jenes Tages, als er an Hannibals Seite durch die blühende Grassteppe ritt? Oder schreckte er davor zurück, den Mann zu töten, dem er als erstem von seiner Liebe berichtet hatte? Wer mochte das wissen?  Ein Griffel fiel zu Boden Gnaeus Nacvius weinte vor Wut. Die Tränen flossen ihm über das zerfurchte Gesicht und fielen auf die Wachstafel auf seiner Brust. Er lag in der Säulenhalle seines Hauses, das Tor zur Straße stand offen. Draußen ging soeben ein dunkelhäutiger Mann vorüber, gefesselt, von zwei Legionären bewacht. Es war Syphax, einst ein mächtiger König, jetzt ein rechtloser Gefangener. Gnaeus Naevius war todkrank. Er konnte das Bett nicht mehr verlassen und sah von der Welt nur das, was in dem schmalen Ausschnitt seines Haustores geschah. Das Gespräch mit Publius Scipio war unbeendet geblieben, genau wie sein großes Poem. Von Scipios Sieg bei Zama und dem Friedensschluß mit den Karthagern wußte Gnaeus Naevius nur das, was ihm sein Sklave erzählt hatte. Von ihm erfuhr er auch die rührende Geschichte von Sophonisbes Ende. Allerdings war der Sklave der Auffassung, daß Masinissa Sophonisbe vergiftet hätte, als Publius Scipio verlangte, daß er sich von ihr trennen sollte. Das hielt Gnaeus Naevius für unwahrscheinlich. Masinissa hätte wohl eher auf die Krone verzichtet als die geliebte Frau ermordet. Aber das waren nur Vermutungen. Die Wahrheit kannte Gnaeus Naevius nicht. Der griechische Dichter Homer hatte in der liebenden Andromache, dem edlen Weibe des trojanischen Königssohnes Hektor, ein rührendes Frauenbild geschaffen, der griechische Tragödienschreiber Sophokles hatte in Antigones Gestalt der Güte und selbstlosen Hilfsbereitschaft ein unsterbliches Denkmal gesetzt. „Und ich?" Gnaeus Naevius seufzte. „Ich habe keine Andromache, keine Antigone gefunden. In meinem Poem schildere ich nur Feldherren und Krieger. Was ich über sie schrieb, ist die Wahrheit, denn ich sah sie im Feldlager, vor dem Kampf und auf dem Schlachtfeld. Ich zog mit dem Heer des Fabius, den man ,Schäfchen' und ,Zauderer' nannte, durch halb Italien. Ich kleidete die Feuerbrände der von Karthagern angezündeten Dörfer und Städte in ergreifende Worte. Aus meinem Gesang, den ich ,Capua' nannte, klingen die Begrüßungsrufe der Städter bei Han-nibals Einzug und die Jammerschreie der Männer, die in die Sklaverei geführt wurden. Unbestechlich wie ein Bronzespiegel gibt mein Poem den Gang der Ereignisse und den vielfältigen Ablauf der Menschenschicksale wieder. Doch jetzt, da ich die Welt nur noch vom Krankenlager aus, nur durch ein schmales Tor zu betrachten vermag, habe ich erkannt, was meinem Poem fehlte. Es wird nicht erhellt vom sanften Licht weiblicher Liebe. Und sollten die Götter mir wider Erwarten noch einmal die Gesundheit zurückgeben, dann will ich über Sophonisbe schreiben. Vermutlich werden mir die Meteller dann Mangel an Patriotismus vorwerfen und mich aufs neue in den Kerker stecken. ,Unerhört!' werden sie schimpfen. ,Der Römer Gnaeus Naevius schreibt über eine Karthagerin, als gäbe es bei uns nicht genügend trauernde Witwen und Waisen!' Doch früher oder später wird das römische Volk mein Werk würdigen und erkennen, daß Sophonisbes Leid den Schicksalen aller Liebenden und Geliebten, aller menschlichen Sandkörnchen gleicht, die zwischen den Mühlsteinen des Krieges zerrieben werden. Vielleicht wird dann ein junger Krieger, erschüttert von meinen Versen, sich nicht auf die Aufforderung des Ausrufers melden, wie einstmals der junge Publius, sondern auf den Marktplatz rennen und sagen: ,Die Götter gaben uns Leben und Verstand nicht zu dem Zweck, um uns gegenseitig umzubringen, nicht zu dem Zweck, um Liebende zu trennen! Wir sind keine Sklaven, an das Mühlrad des Schicksals geschmiedet. Wir sind frei wie der Wind!'" Gnaeus Naevius stöhnte vor Verzweiflung, weil ihm die Kräfte fehlten, diese allzu späte Erkenntnis auf seiner Wachstafel festzuhalten. Er tastete nach dem Griffel, der auf den Marmorfußboden gefallen war. Aber er vermochte ihn nicht mehr aufzuheben. Worterklärungen Liebe Leser, Marseille hieß zu Hannibals Zeit, das war vor ungefähr 2180 Jahren, Massilia, und der Fluß Ebro hieß Iberus. Wir haben, damit Euch die vielen fremden Begriffe nicht verwirren und damit Ihr Euch besser orientieren könnt, für die bekanntesten Flüsse, Städte und Gebirge die heute üblichen Namen gesetzt. Amulett - Kleiner Gegenstand, dem die Menschen unheilabwendende Kräfte nachsagten Barbar  - hier: Ungebildeter, Rohling Diadem  - Kopf- oder Stirnbinde, meist aus Edelmetall; Schmuck der Frauen Forum  - so hieß der Marktplatz in römischen Städten Legion  - große Einheit des römischen Heeres; etwa unserer Division entsprechend Paß - hier: Gebirgsübergang Pferch  - umzäunte Fläche für Tierherden Sesterze  - altrömische Silbermünze Talent  - hier: altgriechische Währungseinheit Tribut  - hier: Zwangsabgaben von unterworfenen Völkern und Stämmen Toga - altrömisches Obergewand Zenturie  - römische Soldatenabteilung von hundert Mann; der Hundertschaftsführer hieß Zenturio Zikade  - Singzirpe; kleines Insekt Zyklop  - einäugiger Riese aus der griechischen Sage